Montag, 02.08.2004 – Mittendrin statt nur dabei
Ich fahre am Morgen ins GEO und leihe mir wieder eine Reihe CDs aus. Dass ich keine Telefonnummer angegeben habe, sorgt noch immer für Verwirrung unter den Angestellten.
Leider bin ich, zurück im Center, ein bisschen spät dran und der für das Einlesen der Audio CDs benötigte Computer ist bereits von einer Chinesin besetzt, die an einem Aufsatz schreibt. Ich begnüge mich derweil mit einem anderen, aber der will nicht so, wie ich will. Ich beantworte also nur meine Post und schreibe zwei, drei Einträge ins Forum, bis der „richtige“ Rechner endlich verfügbar wird. Dummerweise wird die Zeit am Nachmittag knapp und eine der CDs kann nicht mehr eingelesen werden, also habe ich 250 Yen umsonst ausgegeben. Um 16:30 beginnen nämlich die Vorbereitungen für den heutigen Neputa Umzug, an dem auch die Universität Hirosaki (und mit ihr die Austauschstudenten) teilnehmen wird.
Wir bekommen also die dazu notwendigen Trachten ausgeteilt. Ein blauer Überwurf („Hanten“) mit „Hirosaki Daigaku“ Stickerei am Kragen und einem größeren, gleichlautenden Aufdruck auf dem Rücken, der mit einem braunen Stoffgürtel zusammengehalten wird. Für Schuhe und Hosen sind wir selbst verantwortlich, weshalb hier einige Leute mit langen Hosen rumlaufen, so z.B. Chen „Dragon“ und Arpi, der slowakische Ungar.
Dann ziehen wir ins Schorum ein und werden erst einmal verköstigt, mit einem lauwarmen Büffet, wie man sagen könnte. Nach wenigen Augenblicken ist mir schon einmal klar, was ich auf den ersten Blick gewusst habe: Die Würstchen („Frankfurter“) schmecken furchtbar. Während alle anderen Platten bis aufs letzte Krümelchen blank geputzt werden, bleibt ein Berg von diesen Würstchen übrig. Das sonstige Angebot ist verlockend, aber ich will nicht zu viel essen. Ich will nicht mit einem vollgestopften Magen an dem Umzug teilnehmen, das macht müde und träge. Zum Essen gibt es, passend zur festlichen Gelegenheit, auch schon Bier, dem einige Leute bereits kräftig zusprechen. Vor allem SangSu macht den Eindruck, als sei er bereits nicht mehr ganz nüchtern, noch bevor die Sache richtig angefangen hat. Es werden dabei massenweise Erinnerungsfotos geschossen, und ich bitte einige der Leute darum, mir die Bilder auch zu schicken, auf denen ich abgebildet bin, aber ich habe wenig Hoffnung, dass irgendjemand meiner Bitte Folge leisten wird.
Die gut aussehende junge Frau, mit der Kashima-sensei heute unterwegs ist, ist übrigens seine Tochter Nami. Sie ist 17 Jahre alt und gestern aus Tokyo eingetroffen – und sie wird auch bleiben. Dazu wurde die bürokratische Meisterleistung vollbracht, es ihr zu ermöglichen, die Oberschule zu wechseln. Ich habe ja die Schwierigkeiten eines solchen Verwaltungsaktes bereits erwähnt. Im Übrigen ist sie in Korea geboren und hat wegen der beruflichen Tätigkeit ihres Vaters eine Weile in den USA verbracht. Ihr Englisch sei also sehr gut, aber ihr Koreanisch absolut mies, sagt sie. Wie kann das sein, angesichts einer koreanischen Mutter? Allerdings schiebe ich die Frage auch ganz schnell wieder beiseite, da ich ja persönlich noch weitere Leute mit einem solchen Familienhintergrund kenne, deren Koreanisch mir bis zum heutigen Tag noch nicht einmal aufgefallen wäre.
Die Mutter befinde sich gerade auf einem Betriebsausflug, erzählt Kashima-sensei – nach Hawaii. Sie arbeitet bei einer Immobilienfirma in Tokyo und verdiene eine ungeheure Menge Geld, sodass sie sich nicht veranlasst sehe, ihre Arbeit aufzugeben und aufs Land nach Hirosaki zu ziehen. Auf jeden Fall würde mich interessieren, wie die Frau Mutter aussieht, nachdem mir bei der Tochter bereits die Kinnlade runtergeklappt ist und ich Kashima ganz unverblümt für seinen hübschen Nachwuchs loben musste. Eine familiäre Ähnlichkeit kann ich dem grinsenden Lehrer nämlich nicht bescheinigen.
Der eine oder andere Verantwortungsträger sagt dann auch noch ein paar Worte, und dann sind wir dran, eine improvisierte Dankesrede für das tolle vergangene Jahr in vier, fünf Sätzen zu halten. Dann geht die Sache langsam zu Ende und wir ziehen los, zum Treffpunkt, also dorthin, wo der Wagen der Universität steht. Das wäre dann die Hauptstation der hiesigen Feuerwehr. Ich gehe mit Melanie noch schnell zu Eve, weil sie auf dem Weg wohnt, um unser Gepäck dort abzustellen. Ich will keinen Rucksack von mehr als 10 kg Gewicht mit mir rumschleppen, zumindest nicht während des Umzugs. Außerdem befinden sich darin die CDs aus dem GEO, zwei Videos aus dem King Kong, mein Geldbeutel und allerhand nicht unwichtiger Kleinkram.
Wir finden uns schließlich alle an der Feuerwehrstation, quer gegenüber von der Uniklinik, ein. Das heißt, Eve, Melanie und ich sind die ersten, während die übrigen Ausländer erst einer nach dem anderen und schließlich in einem größeren Pulk eintreffen. Die anderen machen sich auch gleich über das kostenlose Eis her, das ausgeteilt wird, auch das Bier fließt hier in Strömen, ebenso der Sake, und es gibt bereits kleinere Trinkwettbewerbe unter Japanern. Links neben mir schüttet sich einer ein Wasserglas voll Sake in den Hals, unter dem Jubel seiner Trinkkumpane. Ich glaube, ich bleibe lieber nüchtern.
Irgendwann wird der Wagen dann in seine Startposition geschoben, die Zugseile befestigt und ausgerollt, und dann beginnt der Spaß. Und diese Zugseile sind nur zur Show da – zu meiner allergrößten Enttäuschung. Die großen Wagen haben nämlich Motoren, die das Gefährt mit einer Geschwindigkeit von zwei bis vier Kilometern pro Stunde vorwärtsbewegen. Man hält also nur das Seil in der Hand, wie in alten Zeiten, und läuft einfach mit – meine Güte, wie langweilig. Und dann soll man da in Stimmung kommen (was mir persönlich meistens recht schwerfällt) und die Parolen mitgrölen („YAA! YADOO!“). Unser „Antreiber“, also der mit dem Megaphon, der die Parole vorgibt, hat keine Ahnung von Takt. Dafür ist er sehr laut und sehr motiviert bei der Sache. Zwischendrin verschwindet Kuramata-sensei, der eigentlich den Anfang vom Seil festhalten soll, für eine Weile und überlässt mir die Spitze, weil er Fotos machen möchte. Das ist dann auch der Grund, warum sich meine eigenen Fotos an diesem Tag in Grenzen halten.
Wir landen auch im lokalen Fernsehen. Nächstes Jahr kann man die Videos des diesjährigen Festes kaufen. Der Kameramann hält mir das Objektiv aus dreißig Zentimeter Entfernung mitten ins Gesicht, ich brülle (auf Kommando des Antreibers) „YAA! YADOO!“ in die Kamera und stoße mir den Kopf an der Linse. Der Kameramann muss mich für völlig betrunken halten. Der Kerl, der den Scheinwerfer trägt, lacht jedenfalls amüsiert.
Kuramata-sensei kommt schließlich zurück und sagt, ich solle mir die großen Trommeln weiter hinten ansehen, bzw. anhören, es sei ein echtes Erlebnis. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen, also lasse ich das langweilige Seil sein und gehe zu den großen Taiko. Ah… das donnert und vibriert durch alle Eingeweide in einem ebenso einfachen wie eingängigen Rhythmus. Hier gefällt es mir viel besser, ich geselle mich also zu den Leuten, die derzeit diese Trommeln ziehen, das sind Chris, Izham, Misi und Alex, und lasse mich zudröhnen. Ob die Trommeln einen eigenen Motor haben oder tatsächlich gezogen werden, kann ich nicht genau sagen. Das Gerät braucht auf jeden Fall Lenkung und die meiste Zeit über habe ich das Gefühl, dass ich der einzige bin, der den Wagen daran hindert, von der Straße herunter gegen verschiedene Laternenpfosten zu rollen. Und diese Lenkmanöver sind nicht ganz ohne, bedenkt man das Gewicht des Wagens. Kurz darauf schwitze ich aus allen Poren. Aber das ist ja, was ich wollte. Jetzt macht die Angelegenheit erst so richtig Spaß, und der Sound macht alle Strapazen wieder wett.
Ich finde auf der Strecke eine Flöte in einer Stoffhülle. Alex meint, dass ich mir doch ein ganz tolles Souvenir gefunden hätte, aber das muss ich verneinen. Ich habe die Flöte, bzw. die Stoffhülle, nämlich heute schon mehrfach gesehen und ich weiß, zumindest optisch, wem sie gehört. Etwa eine Minute darauf hat die kleine Besitzerin den Verlust auch bemerkt und kommt in ihrem himmelblauen Kimono die Straße zurückgelaufen. Ich winke ihr zu, was sie zwar bemerkt, aber im ersten Moment ignoriert, weil ihr noch nicht klar ist, womit ich winke. Das gelingt ihr erst im zweiten Hinsehen. „Du hast Dein Instrument verloren!“ rufe ich ihr zu. Dann fange ich mir erst einmal den üblichen Blick ein („Der will mich bestimmt fressen…“), aber sie nimmt die Flöte an und bedankt sich leise.
Wir schieben schließlich alle unsere Wagen auf den Universitätscampus, und damit wäre der offizielle Teil dann beendet. Ein organisiertes Besäufnis hinterher gibt es nicht, was mich eingedenk japanischen Brauchtums doch ein bisschen wundert. Stattdessen gibt es kaltes Wasser, „Yakult“ Yoghurt-Drinks und Tüten mit Süßigkeiten, die mich nicht interessieren und aussehen wie ein Chemieunfall bei BASF. Ich trinke stattdessen eine Menge Wasser in kleinen Schlucken. Große Schlucke sind mit den Schöpfkellen aus Holz auch schwer zu bewerkstelligen.
Es kommt der Plan auf, nach Nishihiro zum Trinken zu fahren, zusammen mit „den üblichen Verdächtigen“, darunter auch Mitglieder von „KIWA American“. Ich lerne bei dieser Gelegenheit Hidaka Ippei kennen, und er ist wohl der erste japanische Student (soll heißen: „der erste studierende Mann“, weil ich ja bereits eine Menge sympathischer studierender Frauen getroffen habe), der mir wirklich sympathisch ist. Ist natürlich ganz toll, dass ich diese Leute erst kennen lerne, wenn ich quasi schon beim Zusammenpacken für die Heimreise bin!
Okay, also hängt Nishihiro im Raum. Die andere Hälfte der (planerisch aktiven) Anwesenden spricht sich dagegen dafür aus, einfach eine Fuhre Getränke und Snacks im Konbini zu besorgen und vor der Bibliothek ein geselliges Beisammensein zu veranstalten, weil die frische Luft ja was für sich habe. Mir ist das völlig egal. Der Entscheidungsprozess dauert scheinbar ewig und nimmt eine Viertelstunde in Anspruch. Das wäre auch schneller gegangen, aber was uns (immer noch) fehlt, ist ein charismatischer Anführer, der die Entscheidung auf sich nimmt und sagt: „Wir machen das jetzt so…“.
Schließlich setzt sich die Freiluft-Idee durch und die Masse der Leute verschwindet in Richtung Konbini. Da ich bereits was zu trinken bei mir habe, fahre ich auf den Platz vor der Mensa und fahre dort im Kreis, bis alle wieder zurück sind. Es wird auch ganz lustig, und der alkoholisierte SangSu redet wieder wie ein Wasserfall. Ich kann seinem verwirrten Redefluss nicht wirklich folgen; es geht ihm wohl um japanische Phonologie und die Angewohnheit von Jugendlichen, Sätze mit dem semantisch sinnlosen Füllwort „saa“ zu beenden, das sich auch hinter jedem Satzteil und hinter jedem Hauptwort beliebig einsetzen lässt, wenn ich meiner eigenen Erfahrung trauen darf.[1]
Wir sind auf dem Gelände nicht allein. Ich will es erst nicht recht glauben, aber um das Gebäude neben uns spielt eine Gruppe von einem halben Dutzend StudentInnen Verstecken. Dabei dachte ich eigentlich, man sei mit etwa 20 Jahren wirklich zu alt dafür, aber die Teilnehmer haben einen kindhaften Spaß daran, also sei es ihnen gegönnt.
Um 23:15 fahre ich dann zum GEO, um meine CDs zurückzugeben, bevor der Kalendertag vorüber ist. Von der Uni über King Kong in Nakano bis zum GEO dauert es mit dem Fahrrad nur 20 Minuten. Danach komme ich wieder zurück, aber nur noch, um zu erleben, dass SangSu inzwischen völlig hin ist und nervtötende Ambitionen zeigt, anderen was von seinem Bier abzugeben. Er schüttet was in Melanies leere Getränkedose und auch etwas in meine leere PET-Flasche (was jedoch dezent im Rasen landet). Er trinkt den Rest dann aus seiner eigenen Dose, schüttet sich noch ein paar Tropfen auf den Kopf und wiederholt dasselbe mit Melanie, die ihm dafür eine scheuert, weil sie das gar nicht lustig findet. Sie ist auch nicht begeistert davon, dass wir ihn in seinem Zustand wieder mal nach Hause bringen müssen.
SangSu aber will sich scheinbar nicht nach Hause bringen lassen. Während Melanie sich noch verabschiedet und unseren Müll einsammelt, setzt er sich auf sein Fahrrad und biegt um die nächste Ecke in Richtung Mensa. Da man ihn in dem Zustand nicht alleine lassen sollte, folgen wir ihm, sobald der Müll im Fahrradkorb verstaut ist. Aber SangSu ist verschwunden. Er muss zwar direkt vor Irenas Nase vorbeigefahren sein, aber die hat ihn nicht bemerkt, weil sie so sehr ins Gespräch mit einem der Koreaner vertieft war. (Gerüchte behaupten, die beiden seien vor SangSus Rausch aus unserem Kreis geflohen, um hier vor der Mensa Zuflucht zu finden.) Da SangSu verschwunden ist, fahren wir nach Hause. Ich habe nichts dagegen, ihn nach Hause zu bringen, wenn er für seine Verkehrssicherheit nicht mehr alleine sorgen kann, aber ich gehe ihn nicht auch noch suchen, wenn er einfach verschwindet, so lange er noch alleine gehen kann.
[1] Wenn man jemandem eine Frage stellt und die Person antwortet nur „Saa…“, dann bedeutet das in der Regel „Ich weiß nicht“ oder „Ich bin nicht sicher“.