Dienstag, 27.04.2004 – Money Talks
Da ich den Morgen frei habe, wasche ich Wäsche. Bei genauerer Überlegung hätte ich vielleicht besser das Bad saubergemacht.
Kondô-sensei hat heute den ersten von einer Reihe von Geschäftsleuten eingeladen, um über ihre jeweiligen Konzepte zu sprechen. Tsushima-san ist Chef einer unabhängigen Innausstattungsfirma und schwer im Geld, wie es heißt. Irgendwie erinnert er mich ein bisschen an Dr. Hackner… die „Frisur“ sieht recht gleich aus, ebenso die Kopfform… ich glaube, sogar Redefluss und Nervositätsgesten sind sich ähnlich: Er zieht kurz nach Beginn seines Vortrags seine Uhr aus und schiebt sie hin und wieder auf dem Pult hin und her, während er (im Stehen) redet. Dr. Hackner hat allerdings bisher das Sitzen vorgezogen.
Angefangen habe er bei null, erzählt er, im Betrieb seines Vaters, aber jetzt mache er Unmengen Kohle mit seinem eigenen Laden, weswegen er vor nicht allzu langer Zeit zum Vorsitzenden der Junioren-Handelskammer gewählt geworden sei. Dabei handelt es sich um ein Wirtschaftsforum für selbständige Unternehmer bis 40 Jahre, danach steigt man in die „eigentliche“ Handelskammer auf.[1] Tsushima (39) erzählt aus seinem Leben, erläutert seinen Lebenslauf und wie er seinen Erfolg begründet, nämlich durch viel Arbeit, durch schnelle Arbeit und vor allem durch gute Arbeit. Seine Ausführungen kann man auch interpretieren als „Arbeiten, bis das Rückgrat bricht“. Der Stress habe ihn in den vergangenen 15 Jahren mehrfach ins Krankenhaus gebracht, aber da der Rubel jetzt rolle, könne er sich etwas mehr Ruhe gönnen. Ich stelle ihm eine Frage, die mein guter Freund Martin „U“ vor zwei oder drei Jahren mal ins Spiel gebracht hat. Ich möchte wissen, ob er lebe, um zu arbeiten, oder ob er arbeite, um zu leben. Das habe sich im Laufe der Jahre geändert, sagt er. Inzwischen arbeite er, um zu leben, das Gröbste sei überstanden. Aber die Zeit von 1985 bis 1995 sei schlimm gewesen.
Er fährt fort, als erstes müsse man sich ein klares Ziel setzen, um auf etwas Konkretes hinarbeiten zu können. In seinem Fall war das: Man muss sich einen Namen machen – „Erlangen von Respekt durch Kapitalakkumulation“, um genau zu sein. Auf Deutsch: „Haste was, dann biste was.“ Das ist sein Credo. Dafür müsse man auch Zwischenziele in einer vernünftigen Reihenfolge abstecken und eine Stufe nach der anderen erarbeiten.
Er teile angehende Unternehmer in vier Gruppen ein, und ich bin nicht sicher, ob ich den Aussagewert dieser Aufteilung wirklich wiedergeben kann, bzw. ob ich verstanden habe, was sich hinter den einzelnen Archetypen verbirgt.
Typ A: Der Idealfall, diese Menschen sind sich ihrer Fähigkeiten bewusst und wissen sie auch zu vermarkten.
Typ B: Der Unternehmer weiß, was er kann, aber noch weiß niemand sonst davon. Die Sache braucht also nur mehr Werbung, mehr Zeit und mehr Produktqualität.
Typ C: Dieser Mensch wird von Leuten in seiner Umgebung anerkannt und gegebenenfalls auch ermutigt, aber es mangelt ihm an Selbstbewusstsein, worunter natürlich das Ansehen (und die Werbewirkung) bei potentiellen Kunden leidet.
Typ D: Eine verlorene Seele, die nicht wirklich weiß, wie sie im Geschäft überleben kann und dessen Ideen auch keiner kennt – wie kommt so jemand auf den Gedanken, ein Unternehmen zu gründen?
Hier spricht ein wahrer Vorsitzender einer Handelskammer, über Theorien hinter dem Unternehmertum, anstatt sich auf eine Beschreibung seines Horizonts zu beschränken. Beeindruckend. Währenddessen kommt ein weiterer Herr im Anzug herein. Definitiv keiner der Studenten, viel zu alt, außerdem hat er sich bereits seit zwei Minuten vor der Tür herumgedrückt. Offenbar hat er überlegt, ob er den „Einbruch“ nach Unterrichtsbeginn noch wagen soll. Es handelt sich um den nächsten Vortragenden, in zwei Wochen. Er sagt, er wolle nur still dasitzen und sehen, wie die Sache so ablaufe. Am Ende zeigt er sich zufrieden.
Wir erhalten zum Schluss ein kleines Blatt Papier und sollen darauf eine kurze Beurteilung verfassen. Jetzt hat natürlich keiner gesagt, was genau wir bewerten sollen: Diese Art von Unterrichtsgestaltung oder den Vortrag von Tsushima-san. Ich entscheide mich für beides, lobe sein leicht verständliches Japanisch (das von Kondô übersetzt worden ist) und spreche mich für mehr Inhalte dieser Art aus.
Ich verziehe mich dann ins Center und mache Hausaufgaben. Für Ogasawara-sensei sollen wir einen kurzen Dialog schreiben: Ein Gespräch zweier Leute, die ausmachen, wer das Essen bezahlen soll, und es wird etwas, was nur von mir sein kann.
Währenddessen führe ich auch ein Gespräch mit FanFan, und ich würde mir wünschen, dass sie mich mit meinem Vornamen anspricht und nicht mit meiner Yahoo E-Mail-Adresse: „otokorashii“. Sie ist eigentlich eine Spur zu schüchtern, um Witze dieser Art zu machen. Aber niedlich ist sie trotzdem. Und auch sie redet wie BiRei neulich. Dies sei schwer und das sei schwer, und eigentlich könne sie gar nichts richtig. Also mache ich (wieder einmal) das, was man im Englischen „pep talk“ nennt: Erbauende Aufmunterung, um es geschwollen auszudrücken. Sie scheint nachher wesentlich entspannter und besser gelaunt als eingangs. Sie sagt zuletzt, dass morgen ab 09:00 eine Teezeremonie stattfinde, zu der jeder, der teilnehmen möchte, eingeladen sei und ob ich nicht ebenfalls kommen wolle. Leider muss ich das Angebot ablehnen, denn erstens habe ich Unterricht und zweitens kann ich keine fünf Minuten auf meinen Knien verbringen, ohne dass mir der Schmerz die Tränen in die Augen treibt, ganz zu schweigen davon, dass ich nicht mehr aufstehen kann, wenn ich dennoch die Zähne zusammenbeiße und die Zeit auf vielleicht 10 bis 15 Minuten ausdehne. Ich glaube, ich würde lieber an einem 20 km Gefechtsmarsch in voller Montur mit 25 kg Rucksack teilnehmen.
Das alles dauert immerhin zwei Stunden, und ich kann im Anschluss MinJi dafür gewinnen, meinen Text zu korrigieren. Ich habe nicht den Eindruck, dass sie das nur widerstrebend tut, so enthusiastisch, wie sie mir über die Couch entgegenklettert, auf dem Rückweg von ihrem Rucksack, obwohl ich ihr einen Bleistift hätte geben können. Ich genieße die optische Darbietung des Bewegungsablaufs. Und sie bietet mir auch ein Stück von dem Wickelkranz an, den sie wohl im Supermarkt gekauft hat… ich habe noch nie einen so ungenießbaren Wickelkranz gegessen… also runter mit dem Brocken und am besten gleich wieder vergessen.
Ja, und dann geht sie über den Text und krempelt die erste Hälfte gehörig um, was die Wortwahl betrifft. Aber es scheint, dass immer noch gesagt wird, worauf es ankommt. Dann soll mir das Recht sein. Lebhaft wie immer… aber dennoch… spüre ich da einen Hauch von Nervosität? Die scheint sie doch bei sonst keinem zu verspüren. Ich werde ihr Verhalten noch ein wenig ausloten, wenn sich die Gelegenheit bietet.
[1] Als Habenichts möchte ich mal argumentieren, dass jemand, dessen Familie bereits ein Unternehmen besitzt, dem oder der die Grundlagen des Geschäftslebens also quasi bereits mit der Muttermilch verabreicht werden, nicht bei „null“ anfängt!