Die Fracht am Rhein (Teil 15)
Fahren wir fort mit meinen Erlebnissen am 19. Mai 2014.
Ich bekam einen Praktikanten ins Auto, dem ich Bitburg zeigen sollte. Ich nenne ihn im folgenden Hubi. Dabei gibt es nicht viel zu sagen – er scheint mir nicht der Allerfähigste zu sein, aber er war motiviert und sympathisch und wir tauschten uns über unsere Lebenserfahrungen aus. Er war einer dieser sozial Abgehängten, die nie wirklich eine Chance bekamen. Entsprungen den tieferen Niederungen des Proletariats, wohin sich kein Facharbeiter je verirrt, unbeabsichtigt gezeugt von einem lieblosen Vater, der sich für seinen Sohn nicht interessierte und daraus auch keinen Hehl machte, grundlegende Schulbildung, ohne jemals einem Anspruch auf Leistung ausgesetzt gewesen zu sein. Dumm war Hubi keineswegs, ich schreibe ihm ein gutes Maß an Intelligenz zu, aber er war eklatant ungebildet, verschwendetes Potential – und er gehörte zu den Leuten, die bei Schwierigkeiten zu schnell aufgeben.
Ohne eine gewisse Tragik kam auch die Beschreibung seines Lebenswegs nicht aus. Als ich vor langer Zeit über “den Kleinen” geschrieben habe, beschrieb ich womöglich, dass jener mit 15 ein Kind mit einem gleichaltrigen Mädchen gezeugt hatte, was jedoch in einer Fehlgeburt endete und in zumindest materieller Hinsicht folgenlos blieb, während ich mir nicht vorstellen will, welche psychischen Folgen ein solches Unglück hat. Hubi hatte ebenfalls in dem Alter mit einer Gleichaltrigen ein Kind gezeugt – allerdings ist es auch zur Welt gekommen und die Tochter wurde sofort vom Jugendamt einkassiert. Hubi beschrieb mir, dass die Familie eines leitenden Beamten sie adoptierte, die vielleicht spießig sei, ihr aber eine Tür zu jedem Lebensweg öffnen könne, den sie ergreifen wolle, ganz im Gegensatz zu einem armen Schlucker wie ihm selbst. Er schien darüber hinweg. Er habe seine Tochter im Laufe der Jahre ab und zu zufällig in der Stadt gesehen, aber sie wisse nichts von ihm und er hielte das auch für besser so. Ich kann keinen kompetenten Kommentar zu solchen Vorgängen abgeben, aber ich versicherte ihm, dass seine Tochter ein gesetzlich verankertes Recht habe, ihre wahren Eltern kennen zu lernen, wenn sie das möchte.
Hubi hatte in der Folgezeit noch vier weitere Kinder gezeugt – als Erwachsener und mit der jeweils selben Frau – und befand sich immer noch oder immer wieder im Zwist mit dem Jugendamt, scheinbar im Zusammenhang mit seiner immer wiederkehrenden Arbeitslosigkeit, die ebenso offenbar nur episodenweise von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen unterbrochen wurde, und der damit verbundenen Armut. Ich wollte gar nicht wissen, wie seine Wohnung aussah.
Am Folgetag, also am 20. Mai (ich greife dem hier vor, um seine Geschichte zusammenhängend erzählen zu können), stand wohl der Besuch eines Mitarbeiters des Amtes an, der beurteilen sollte, ob die Kinder in einer halbwegs geordneten Umgebung aufwuchsen, wie auch immer die gesetzlichen Vorgaben dafür sein mögen. Hubi war furchtbar nervös. Der Gedanke, dass man ihm schon wieder seine Kinder wegnehmen könne, behagte ihm ebenso wenig, wie jedem anderen Vater, der seine Kinder liebte.
Ich kannte die Geschichte einer Mutter, die ihre nicht einmal 12 Jahre alten Töchter zur Erledigung jeder Hausarbeit herangezogen hatte, während sie selbst vorm Fernseher saß, und die Mädchen mit einem Kochlöffel schlug, wenn ihr das Ergebnis nicht gefiel. Auch war die Rede von sexuellem Missbrauch, für den sich allerdings keine Beweise finden ließen, aber das eingeschaltete Jugendamt beließ die Kinder bei der Mutter, angeblich mit der Begründung, dass eine schlechte Mutter besser sei, als keine, und besser, als die Kinder aus ihrem sozialen Umfeld zu reißen. So schlimm lag Hubis Fall dann doch wirklich nicht. Er schien sich ob meiner Schilderung aber dennoch keineswegs zu beruhigen. Dann kam gegen Mittag ein Anruf seiner Frau: “Die Kinder sind weg…”. Ich spürte, wie psychische Schockwellen mich von rechts kommend überfluteten. Aber noch bevor er Worte fand, fuhr sie fort: “Das war nur ein Witz! Der hat gesagt, soundso…”.
Na ja, das war dann wohl der mieseste Witz, von dem ich je gehört hätte. Hubi war jedoch keineswegs böse oder so, sondern nahm die Botschaft nur unendlich erleichtert auf. Als er im weiteren Verlauf der Fahrt sehr schweigsam blieb, kramte ich in meinen CDs und schob das Hörspiel “Die Toilette des Grauens” (eine saarländische Parodie auf “Master of the Universe”) in das Abspielgerät. Seine Laune hob sich deutlich, und als wir uns verabschiedeten, sagte er zu mir: “Ich hab gedacht, der Tag sei hoffnungslos beschissen, aber mit dem Hörspiel hast Du mir den Tag gerettet – vielen Dank.”
Wir entdeckten auf der positiven Seite außerdem ein gemeinsames Interesse an P&P Rollenspielen (er hatte vor Jahren ein Fantasy-RPG gespielt, dessen Namen ich vergessen habe) und wir kamen in der Folgezeit überein, es gemeinsam mit einem meiner nahe wohnenden ehemaligen Schulkameraden mit einer Shadowrun-Gruppe zu versuchen. Wir bekamen ein paar Spielsitzungen zu Stande, davon vielleicht später mehr.
Anfang Juni 2014
Der Chefoberboss war mal wieder in der Halle, und er beschwerte sich bei mir wegen mangelhafter Kommunikation. Es ging um meinen Wechsel zu TNT… hatte der Tourenfürst etwa erst zwei Wochen nach meiner Einwilligung, lieber bei TNT für ihn zu arbeiten, mit JP darüber gesprochen??? Dass dem Chefoberboss zwei Wochen bis zu meinem de facto Abgang zu wenig sein würden, konnte ich irgendwie nachvollziehen – ohne deswegen von meinen Fluchtplänen abzueichen. Geistige Notiz: Kündigungen selbst überbringen und besprechen, solche Dinge niemals Dritten überlassen.
Die ersten beiden Wochen im Mai und damit meine letzten beiden Wochen bei ToF waren geradezu entspannend. Ohne viel Federlesens war ein Ersatzfahrer für die Eifel bestimmt worden (ein Vollidiot, dem früher Feierabend wichtiger war als guter Kundendienst) und ich machte fast das, worauf ich im vergangenen Jahr einmal gehofft hatte: Ich fuhr Aushilfstouren für Fahrer, die nichts mehr in den Laderaum bekommen hatten, und nicht wenige meiner solchen Bemühungen führten mich ins Bitburger Land, wo Hubi mit seiner Tour kämpfte. Er bediente die Saarstraße immer noch zwei Stunden später als ich, und ich war sicherlich keiner der schnellen Fahrer, was bedeutete, dass er in argen zeitlichen Schwierigkeiten steckte. Meine Aufgabe war also die meiste Zeit, ihm Stopps wegzunehmen, damit er wenigstens die Stadt selbst schaffte. Das war frustrierend, aber ich bekam auch keine vollen Autos mehr, verbrachte nicht mehr deutlich zu viel Zeit auf der Straße und ich hatte morgens Gelegenheit, den anderen zu helfen, ihre Ware in der Halle zu finden und ins Auto zu laden. Ich spürte einen Anflug von Spaß bei der Arbeit.
In diese Zeit fällt übrigens die Anekdote von dem jungen Handwerker, der mich morgens an der Tankstelle ansprach, ob ich ihn vielleicht nach Wolken bringen könnte – dabei handelt es sich um ein Dorf mit kleinem Industriegebiet an der Landstraße, die parallel zur A61 verläuft. Von der Tankstelle aus würde er zu Fuß vielleicht 20 Minuten brauchen. Eigentlich war das Mitnehmen von Fremden verboten, aber ich tat es trotzdem, weil ich ein netter Typ bin. Allerdings kam es, wie es kommen musste: Gerade am Amazon-Gebäude vorbei, wurde ich telekommunikativ abgelenkt und fuhr an Wolken vorbei. Der Handwerker hielt die Klappe, anstatt mich aufmerksam zu machen. Als die Ablenkung beendet wurde, hatten wir die nachfolgende Autobahnauffahrt schon fast erreicht und mir dämmerte, dass mein Mitfahrer mittlerweile weiter von Wolken entfernt war, als zu dem Zeitpunkt, als er auf dem Beifahrersitz platzgenommen hatte. Er nahm es mit Fassung.
Dann kam ein Tag, den ich nur als Kulturschock bezeichnen kann. Der Tourenfürst hatte mich freigemacht, um mir den TNT-Betrieb mal grob zu zeigen, um festzustellen, ob ich damit klarkam. Magnus riet mir dringend davon ab, mich mit auf TNT einzulassen: Er selbst war vor einigen Jahren dort gefahren und habe mit den Leuten im Depot (nicht mit den Fahrern) schlechte Erfahrungen gemacht. “Die behandeln Dich nicht wie einen Menschen!” sagte er. Das schreckte mich keineswegs – denn wo sollte da der Unterschied zu diesen beiden Hexen in der ToF-Abfertigung sein? Diese Trulla mit der staubigen Dauerwelle, deren Nachname mit G anfängt, behandelt uns Fahrer auch nicht wie Menschen.
Ich fuhr mit dem mir weiterhin zugeteilten Fahrzeug morgens um etwa sechs Uhr ins TNT-Depot in Urmitz – und wurde gleich wieder rausgeworfen. Ein Auto mit ToF-Aufdruck dürfe hier nicht auf dem Gelände stehen. Also parkte ich hundert Meter weiter im Industriegebiet.
Das Depot ist klein – keine 50 m lang, vielleicht 25 m breit, Stellplätze an der Rampe für sechs bis höchstens acht Kleintransporter, weitere Parkplätze auf der gegenüber liegenden Seite des Hofs, 30 Fahrer am Werk. Im TNT Depot fand ich ein im Kreis (oder eher: im Rechteck) laufendes Paketband vor, mit einer Länge von höchstens 20 Metern. An einem Ende wurde Ware aus Gitterwägen aufgelegt, die Fahrer standen drumherum und nahmen sich, was sie brauchten. Paletten wurden an der Nordwand gesammelt. Sehr übersichtlich.
TNT liebt scheinbar Papierkrieg: Jeden Tag werden Formulare mit Daten ausgefüllt, mit Kilometerständen und Zeiten und Stoppzahlen, es gibt eine Testrollkarte mit den erwarteten Paketen, danach bei Abfahrt eine Rollkarte mit der tatsächlichen Ladung – Papier, Papier, Papier, obwohl eine Menge dieser Informationsdarstellung vom Scanner erledigt werden könnte. Jeder Fahrer verbraucht jeden Tag etwa zehn Seiten Papier – kein Wunder, dass TNT pleite gegangen ist und verkauft werden musste, denn wo man so sorglos mit den kleinen Ressourcen umgeht, geht man auch unbedacht mit den großen um.
Immerhin: Abfahrtkontrolle. Mitarbeiter werfen einen Blick auf die Ladefläche, ob die Ladung gesichert ist. Bei ToF war das nie jemandem eingefallen. Aber bei TNT ist es auch notwendiger: Ich und mein Fahrer – nennen wir ihn Goldbart – hatten nicht annähernd das Auto voll, da war noch eine Menge Platz zum purzeln und rutschen.
Um 0700 ging es los. Unglaubliche Zeiten. Bei ToF kommt man ja vor lauter Fracht kaum mal vor halb Neun aus der Halle. Dafür ist jeder TNT-Fahrer sein eigener Frühdienst und muss neben so genannten 12ern also auch mit Expressen bis um 09:00 und 10:00 zurecht kommen. Schnell erreichbare Orte wie Koblenz (Stadt), Neuwied und (dank Autobahn) Limburg können sogar Expresse bis um 08:00 bestellen.
Wir fuhren Limburg (Umland). Goldbart erklärte mir die grundlegenden Schritte zur erfolgreichen Bewältigung eines Arbeitstags, sah auf die Rollkarte und sagte, dass wir zwischen halb Elf und Elf mit den Zustellern fertig sein würden und bis zum Eintreffen einer genügend hohen Zahl von Abholaufträgen am Nachmittag Pause machen würden.
In der Tat waren wir gegen halb Elf durch, und weil es ein sonniger Tag war, fuhren wir zum Baggersee in Diez. Die Zeit war erstaunlich, wenn auch weniger erstaunlich, wenn ich bedenke, dass mein TNT-Kamerad sich nicht scheute, innerorts grundsätzlich auf bis zu 70 km/h zu beschleunigen. Goldbart war so freundlich, meinen Eintritt am See zu zahlen. “Wir haben jetzt Zeit bis kurz vor Drei”, erklärte er, wechselte in eine Badehose und schwamm eine Runde. Aber das Wasser sei noch zu kalt. Er trocknete sich ab und machte es sich auf seinem Handtuch bequem. Drei Stunden nichts zu tun? Ich saß auf dem Rasen wie auf heißen Kohlen. Ging nervös hin und her, erweiterte meinen Radius mit der Zeit, betrachtete Kaulquappen im klaren Wasser, umrundete den Baggersee, telefonierte mit Felix, um ihm auf die Nase zu binden, dass ich hier gerade Pause machte. Ich kehrte zu Goldbart unter dem Bäumchen zurück. Eine weitere Fahrerin hatte sich zu uns gesellt, sie fuhr Limburg (Stadt). Allerdings rauchte sie auch, was meine Pause nicht angenehmer machte. Ich sah auf die Uhr: Noch über eine Stunde. Das Nichtstun machte mich fertig. Ich bat Goldbart um den Autoschlüssel, rollte meine Jacke zusammen und legte mich auf der Sitzbank schlafen. So verging die Restzeit. Dann kam Goldbart zurück und wir erledigten die Abholaufträge.
So gegen halb Sechs waren wir zurück im Depot. Die abgeholten Sachen wurden ausgeladen, von Lagermitarbeitern verbucht, die Fahrer per Unterschrift entlastet, und wir gingen nach Hause. Ich telefonierte mit dem Tourenfürsten und versicherte ihm, dass ich mit dieser Arbeit zurecht käme. Er sicherte mir “eine kleine, nahe Tour” zu. Na ja, ich hatte bereits genug erlebt, um solcherlei Aussagen nicht mehr wörtlich zu nehmen, aber ich war sicher, dass auch das Übelste, was TNT in Urmitz zu bieten hatte, weit unter den alltäglichen Standards von Transoflex in Metternich liegen würde.