Andere “Weihnachtsfreuden”
Zu Weihnachten bin ich in die Heimat gefahren und habe dabei einem Freund in Riegelsberg ein Buch als Geschenk gebracht, das zu seinem neuerlichen Dasein als Wahl-Saarländer passte. Vom Haus zurück zur Autobahn geht es bergan, und das Eis auf der Fahrbahn ließ mich und so ziemlich jeden anderen davon absehen, schneller als 30 zu fahren. Durch diese eher ungewohnte Geschwindigkeit verschätzte ich mich während des Umschaltvorgangs einer Ampel, das heißt, sie wurde bereits rot, als ich mich noch fünf Meter davor befand. Ich bin zum ersten mal im Leben voll in die Eisen gegangen, merkte aber nichts davon außer einem leisen Knirschen von unten, und als das Auto endlich stand, lag der Haltestreifen bereits hinter der Anhängerkupplung. Dann konnte ich auch gleich weiterfahren – zum Glück gab es von der nun grünen Ampel zu meiner rechten keinen einmündenden Verkehr. Ich kann mich auch glücklich schätzen, dass diese Ampel nicht mit einem Blitzer verbunden ist.
Kurzfristig wird das nicht mehr passieren, weil ich das Auto wieder an seinen Besitzer abgeben musste. Ja, es ist dem Großvater unangenehm, ständig die Nachbarn bitten zu müssen, ihn hier und da hinzufahren. Er fährt also wieder selbst, auch 300 km hin und zurück nach Luxemburg zum Tanken, wie ich erfahren durfte, trotz Blindheit auf einem Auge, trotz Schwächeanfällen, trotz mangelnder Konzentrations- und schwindender Reaktionsfähigkeit. Dabei wäre es für alle Beteiligten das Beste, wenn er das Auto stilllegte und stattdessen mit dem Taxi fahren würde. Mit wöchentlichen (?) Arztbesuchen und monatlichen Einkäufen dürfte er mit dem Taxi vermutlich billiger wegkommen, als mit Sprit, Steuern, und Versicherung. Mit zwei Fahrten pro Monat nach Hause und ein oder zwei Fahrten in die Stadt pro Woche hatte ich jeden Monat allein mehr als 80 Euro Spritkosten am Bein. Für ihn kommen noch Steuern und Versicherung hinzu. Aber jemand, der großen Wert auf Selbständigkeit legt, kommt nicht auf die Idee, von einer Drittperson abhängig sein zu müssen, schon gar nicht in dem Alter.
Und weil mir das ständige Hin und Her auf den Keks geht, habe ich seinem Arzt meine Sicht der Dinge geschrieben und ihn gebeten, ein amtsärztliches Fahrtauglichkeitsuntersuchungsverfahren in die Wege zu leiten. Ich bin immer noch gespannt, ob das was wird, aber nach sieben Wochen ohne Reaktion habe ich Zweifel. Vielleicht schätzt der Herr Doktor Becker das Einkommen, das er aus dem Patienten zieht, höher ein, als die öffentliche Sicherheit im Straßenverkehr.
Aber auch andere Dinge beschäftigen mich. Das Haus wurde mir notariell überschrieben und die Großeltern haben ein so genanntes “Nießrecht”. Das bedeutet, ich besitze die Immobilie zwar offiziell, darf sie aber nicht verkaufen (selbst, wenn ich das wollte), und habe keinerlei Vorteile aus Einkünften, die aus dem Haus entstehen – so zum Beispiel Mieteinnahmen.
Um genau solche Mieter geht es gerade. Im Laufe der vergangenen zehn Jahre haben vier Mietparteien dort gewohnt, im oberen Stockwerk. Alle diese Mietparteien waren Russlanddeutsche, und nur einer davon hat den Unmut der Großeltern nicht erregt. Da mich eine gewisse Entfernung vom täglichen Geschehen des Hauses trennt, kann ich aber nicht zu 100 % beurteilen, was Sache ist, denn ich kann mich nicht darauf verlassen, dass das, was meine immer mehr der Senilität anheim fallenden Großeltern mir erzählen, auch tatsächlich der Wahrheit entspricht. Beide neigen (ich vermute wohlwollend, unterbewusst) zur Verzerrung der Wahrheit zu den eigenen Gunsten und zum Verschweigen eigenen Fehlverhaltens.
Der letzte Mieter zum Beispiel ist der Sohn der Familie von gegenüber. Er soll durch übermäßigen Alkoholgenuss und lautstarken Streit mit seiner Frau oder Freundin aufgefallen sein. Zu ihm hat der Großvater, wie er mir erzählte, wohl beim Einzug sowas gesagt wie, dass er die vorhandene Kücheneinrichtung nutzen könne, und so, wie sich die Sache nach meinem sicherlich unzureichenden Informationsstand darstellt, hat der Mieter bei seinem Auszug die wie auch immer artikulierte Aussage so ausgelegt, dass er die Einrichtung behalten dürfe und mitnahm. Wenn die mir dargelegte Aussage stimmt, dann handelt es sich um Diebstahl. Aber es wurde keine Anzeige erstattet, der Mieter erhielt nur (mündlich) Hausverbot. Warum? Die Frage blieb ungeklärt. Ich selbst möchte behaupten, dass die dreißig Jahre alte Einrichtung eine Anzeige nicht mehr wert war.
Wie dem auch sei, über die neuen Mieter wird auch nur gelästert. Er habe beim ersten Treffen abgestritten, den Sohn von gegenüber zu kennen, aber stattdessen stehle der sich zu abendlichen Besuchen ins Haus. Er, der neue Mieter, habe ihr einen Blumenpott vom Treppengeländer außen im Flur vor die Füße geworfen, erzählt sie Großmutter. Das Paar habe angeboten, den Rasen zu mähen und die Treppe zu wischen – gegen Bezahlung natürlich. Diese Idee wurde abgelehnt, und nun bekomme ich regelmäßig zu hören, dass “das Weib” nun schon seit über einem Jahr da oben wohne und noch nicht ein einziges Mal die Treppe sauber gemacht habe. Vor etwa drei Monaten gab es da ein Aha-Erlebnis für mich.
“Die arbeiten rein gar nichts im Haus!”
“Ich mache auch keine Arbeiten, für die ich laut Mietvertrag nicht zuständig bin, und für Arbeiten, die ich leiste, will ich bezahlt werden, das ist ganz normal.”
“Aber das gehört sich doch, dass man die Treppe zur eigenen Wohnung putzt! Das war schon immer so!”
“Steht in dem Mietvertrag, dass sie die Treppe putzen müssen?”
“Nein…”
“Dann müssen sie’s auch nicht tun.”
“Aber das ist doch unmoralisch!”
“Moral interessiert niemanden! Was zählt, sind schwarz auf weiß gedruckte und unterschriebene Verträge. Zeig mir mal bitte den Mietvertrag.”
“Sowas haben wir nicht.”
“Was bitte!?“
Ich habe daher Musterverträge zusammengetragen und mir einen eigenen zusammengestellt, zuzüglich ein paar Verpflichtungen für den Mieter… er muss eine Kaution hinterlegen, sich eine eigene Mülltonne beantragen, weil die kleine der Großeltern nicht für zwei Haushalte reicht, und ich muss ihn dazu anhalten, die Mülltonnen zum Abholungstag vors Haus zu fahren, einmal im Monat die Straße zu fegen, den Rasen zu mähen, die Treppe zu wischen, und im Winter Schnee zu räumen. Das kriegen die zwei alten Leute nicht mehr hin, dafür reicht der Strom nicht mehr. Vor allem muss ich mal persönlich mit dem Paar reden, um deren Version der ganzen Geschichte zu erhalten (und mir mal ein Bild davon zu machen, mit wem ich es zu tun habe). Derzeit warte ich auf eine Beurteilung meines Vertragsentwurfs durch einen Fachmann in meinem Freundeskreis…
Ich bin in der Richtung also voll und ganz bedient.