Heute verbringen wir unseren letzten Tag in der japanischen Hauptstadt. Wir stehen um 11:00 auf und packen zuerst die Koffer. Wir wollen sie am Busbahnhof Hamamatsu-cho in ein Schließfach sperren, um für den Tag „freie Hand“ zu haben, im wahrsten Sinne des Wortes. Da ich die ganze Woche über nicht dazu gekommen bin, will ich den strahlend schönen Mittag ausnutzen, um endlich das „Emily“ Flugboot gegenüber vom Wohnheim aus naher Entfernung zu fotografieren. Ich gehe also zu dem Gelände hinüber. Aber heute steht da ein Wachmann, der mich abweist: „Heute ist Ruhetag.“ Die Außenanlagen seien doch frei zugänglich, und ich wolle ja nur drei oder vier Bilder von dem Flugboot machen, nicht mehr. Nein, heute geht das nicht. Aber heute sei mein letzter Tag in Tokyo und ich wisse nicht, wann ich die nächste Gelegenheit hätte. Nein, da könne ja jeder kommen. Du &$%*@?#&#%$! www.gotohell.com/ und kauf dir ne Mütze…
Bleibt also zu hoffen, dass ich im Sommer tatsächlich noch einmal herkommen kann. Obwohl ich nicht darauf wetten würde… ich will auch noch was anderes vom Land sehen.
Wir fahren zum Bahnhof, um unsere Koffer abzustellen, und von dort aus nach Harajuku. Der „Sage“ nach ist Harajuku der Versammlungsort für Cosplayer schlechthin, und warum sollte ich nicht einen Blick darauf werfen, wenn ich schon hinfahre? „Cosplayer“ sind Leute, die sich ein Kostüm selber basteln, das sie in einem Manga oder Anime gesehen haben. Und weil immer die Vielfalt der dargestellten Kostüme hervorgehoben worden war, hatte sich in meinem Kopf das Bild einer Straße von mindestens 200 Metern Länge, wenn nicht mehr, geformt, in der diese meist jungen Leute sich aufhalten würden. Stattdessen präsentiert uns Ronald eine eher unscheinbare, steinerne Bogenbrücke von allerhöchstens 40 Metern Länge, auf der ich knapp zehn junge Menschen beiderlei Geschlechts in Kostümen sehe. Das da ist alles? Das ist, wovon alle reden? Diese kleine Brücke?? Und deswegen macht die halbe Welt der mir mehr oder minder persönlich bekannten Tokyobesucher so einen Aufriss?
Okay, halt, Einschränkung: Es ist immerhin Winter. Und da die Jungs und Mädchen keine Hirosaki-Winter gewohnt sind (Tokyo ist nicht mehr weit von der subtropischen Zone), muss ich annehmen, dass denen zu kühl ist, um sich in ein Kostüm zu werfen, das nicht darauf ausgelegt ist, wintertauglich zu sein. Aber dennoch finde ich es ein wenig lächerlich dafür, dass so viel Wind um diesen Ort gemacht wird. Auch in den westlichen Medien, in denen schon von einer „Meile“ gesprochen worden ist, wo die Jugendlichen den angeblichen Alltagsuniformismus mal ausklammern könnten und würden. Vielleicht tun sie das ja, aber wenn da mehr als fünfzig gleichzeitig auftauchen, wird’s eng.
Aber: Was soll’s? Die Cosplayer zu sehen war ja nur als Nebenattraktion geplant. Denn hinter der besagten Brücke befindet sich gleich der Eingang zum Meiji-Schrein. Einer der bedeutendsten Kulturschätze Japans. Hinter dem Tor muss man erst einmal einer Straße folgen, und man hat den Eindruck, man geht durch einen Wald. Ein grüner Fleck im Asphaltdschungel. Die Stadt ist völlig ausgeschaltet. Sieht man von einigen Stellen ab, wo man ein Hochhaus durch das Blattwerk erspähen kann oder von sporadischen Lautsprecherdurchsagen, die aus den Bäumen herausschallen. Ich schätze, dass die Straße etwas mehr als einen Kilometer lang ist, bis man an den Schrein gelangt, und ich muss sagen: Die hölzerne Tempelanlage ist recht beeindruckend. Tore und Gänge und Höfe. Und natürlich Verkaufsstände, wo man Talismane kaufen kann. Vor dem Heiligtum die obligatorischen Holzkisten, in die man Spendengelder werfen soll. Ich habe noch nie im Leben eine so große Sammlung von 1 Yen und 5 Yen Münzen gesehen. Ich erinnere daran, dass 1 Yen etwa 0,75 europäische Cent sind.
Mit dem Verkauf von Glücksbringern wird wahrscheinlich mehr Geld gemacht, und die haben auffällige Preise – aber immerhin handelt es sich hier um den Meiji-Schrein. Fast so gut wie Ise. Der Schrein von Ise ist, nach meinem aktuellen Verständnis, das Äquivalent zum Petersdom in Rom, was seine Bedeutung für die japanische Shinto-Religion betrifft. Und es gibt hier Glücksbringer für alles notwendige, also für Gesundheit, für Reisen… und für Schulprüfungen??? Ja, ich habe davon gehört, aber so richtig glauben kann ich das erst jetzt. Haben denn christliche Schüler einen besonderen Schutzpatron, der sie durch Prüfungen bringen soll? Melanie kauft einige Exemplare als Geschenke für Freunde und Familienmitglieder, und auch etwas für den „Eigengebrauch“. Da ich an solche Dinge nicht glaube, habe ich auch meine Bedenken, wenn es darum geht, so was zu verschenken. Für mich ist es nur ein hübsches Stück Stoff, in das ein Schriftzug eingearbeitet wurde.
Wir verlassen den Schrein wieder. Und begeben uns in eine vollgestopfte Ladenstraße. Positiv ausgedrückt: Eine belebte Ladenstraße. Und ihr Angebot richtet sich in erster Linie an junge Leute. Na ja, dies ist schließlich Harajuku. Oha, da: Ein 100 Yen Laden. Während die anderen drei ein Geschäft umkrempeln, in dem man Fotos von irgendwelchen Stars kaufen kann (darunter auch „Oliber Kahn“, weil den Japanern die Unterscheidung von stimmhaftem „v“ und „b“ schwerfällt), gehe ich mir zwei Tüten Krabbenchips besorgen, weil ich noch nichts gegessen habe. Der Fotoladen langweilt mich zu Tode. Die ganze Straße ist voll von Krempel, eher weniger als mehr nötig, und bietet hauptsächlich „hippe“ Kleidung. Ah ja, hip: Ein punkiges Outfit mit „No Future“ Krawatte und Hakenkreuzbinde. Schick…
Einige Zeit später landen wir im „Book Off“ von Harajuku. In Hirosaki gibt es ebenfalls eine Filiale der „Book Off“ Kette, aber ich bin noch nie dort gewesen. Wie der Name vermuten lässt, kann man dort gebrauchte Bücher kaufen. Aber nicht nur das; es gibt auch CDs mit Musik, DVDs und Videokassetten mit Filmen und Serien, und Spiele für jede denkbare Konsole. Nur PC (oder auch MAC) Spiele fallen mir keine auf. Und „gebraucht“ bedeutet, dass sich das Material in einem einwandfreien Zustand befindet. Die Preise sind angenehm. Eine normale CD kostet beispielsweise 950 Yen, also etwa 7 Euro. Man sollte halt nicht damit rechnen, toppaktuelle Titel zu finden. Aber fragen kann man auf jeden Fall… manchmal hat man Glück. DVDs kosten hier zwar weniger als im Neuwarenhandel, aber die Preise sind immer noch recht gesalzen und höher als deutsche Neupreise. Und… natürlich gibt es auch eine Ecke mit erotischem Material. Ich möchte nur insoweit auf diese eingehen, als mir das folgende „Phänomen“ (zum wiederholten Male) deutlich aufgefallen ist:
Auf dem Cover der DVD (oder der Videokassette) befindet sich ein Mädchen (was auch sonst), im Alter von vielleicht 12 Jahren. Ja, wirklich. Die dargestellte Person ist tatsächlich ein Kind und kein Schaf im Lammfell. Die Darstellung weckt bedenkliche Assoziationen, obwohl das Cover, objektiv und ohne irgendwelches Hintergrundwissen betrachtet, völlig harmlos aussieht. Mit Hintergrundwissen wirkt die Darstellung bedenklich. Aber auch auf der Rückseite ist ebenfalls nichts… Explizites zu sehen. Was bitte ist das? Ich habe bereits von solchen Videos gehört… bei dieser Art von Filmen, die ganz eindeutig für Pädophile gemacht sind (was ja eigentlich nur aussagt, dass der Betreffende Kinder mag, Konnotation hin oder her), werden die Kinder nicht angefasst. Und sie ziehen auch nichts aus. Außer vielleicht Jacken und Schuhe, falls sie ein entsprechendes Gebäude betreten. Hier wird in der Tat überhaupt nichts gemacht, außer die Mädchen bei ihrem täglichen Leben zu zeigen. Und bevor es wegen dieser Aussage Kritik hagelt und man mir Verharmlosung vorwirft: Ich bin mir sehr wohl dessen bewusst, dass es eine Menge Material gibt, das hart an der Grenze und auch jenseits davon liegt. Ich war in Akihabara. Aber bei dem, was ich hier in der Hand halte, handelt es sich meines Erachtens um nichts wirklich Verwerfliches. Der Verkauf von Kunstdünger, Zucker und Metallrohren ist ja auch nicht fragwürdig, nur weil man Bomben daraus basteln kann. Der Käufer macht aus einem Produkt eben das, was ihm am besten gefällt. Aber auch im Falle dieser „harmlosen“ Videos stellt sich die Frage, ob solche Aufnahmen ein wie auch immer geartetes Verlangen anstauen, oder ob sie eine Ventilfunktion haben. Auch über Hentai-Anime wurde schon (im Westen, Quelle unbekannt) die Vermutung angestellt, dass Frauen in Japan auch nach Anbruch der Dunkelheit auf der Straße relativ sicher seien, weil es Anime gibt, in denen den weiblichen Charakteren… äh… allerlei… „Unbill“ widerfährt… und nicht, obwohl es äußerst abartige Filme gibt.[1]
Aber genug davon. Ich wende mich den Musik CDs zu. Ich nehme einen Schemel, der den Angestellten eigentlich beim Einräumen in die oberen Regale dienlich ist, setze mich darauf und forste das gesamte Regal mit Anime-Musik durch, und noch das eine oder andere mehr. Ich gehe schließlich nach Hause mit den „Animetal Marathon“ CDs #1 und #4, dem „Hamtarô“ Soundtrack (ja, so einer bin ich), zwei CDs von „Fushigi no Umi no Nadia“ (was bei uns als „Die Macht des Zaubersteins“ = „Secret of Blue Water“ lief) und den OST von „Blues Brothers 2000“. Und weil ich schon immer ein solches Spiel haben wollte, kaufe ich für 350 Yen „Tokimeki Memorial Private Collection“ von 1996 für die Playstation (und hoffe, dass es sich um ein Dating Game handelt und nicht um einen sinnlosen Ableger der „Tokimeki“ Serie, wo man Kreuzworträtsel oder Geschicklichkeitsspielchen mit den Charakteren im Hintergrund bewältigen muss). Die Anleitung, die ich später erst in Augenschein nehmen kann, verheißt jedoch nichts Gutes[2], aber vielleicht kann man es ja wieder verkaufen. Mehr als 3 E werden bei E-Bay wohl drin sein. Um festzustellen, was ich denn nun eigentlich gekauft habe, muss ich in Hirosaki jemanden finden, der mir seine Playstation mal für einen Tag ausleiht. Leider kenne ich noch nicht einmal jemanden, der ein solches Ding besitzt. Melanie kauft eine Tüte voll mit Manga von CLAMP.
Wir gehen noch was essen, in einem recht günstigen Lokal mit dem Namen „Jonathan“, wenn ich mich recht erinnere. Teurer als „Saizeriya“, aber akzeptabel, und das Essen ist nicht schlecht. Nur von den Würstchen rate ich ab, die sind nicht berauschend.
Was mir an dieser Stelle viel mehr auffällt, sind die beiden Menschen am Tisch gegenüber. Und ich meine jetzt nicht die zwei Mädchen eine Ecke weiter, über die sich Ronald so ereifert, weil sie sich seiner Meinung nach völlig daneben benehmen. Ja, sie hängen in den Stühlen, anstatt darauf zu sitzen und sie bewerfen sich mit Papierkügelchen. Mindestens einmal. Aber sie scheinen die übrigen Gäste wirklich nicht zu stören. Ich persönlich finde sie weder herausragend laut, noch trifft mich irgendein Geschoss von dort. Die beiden sitzen auch links hinter mir, also betreffen sie mich wirklich nicht.
Nein, ich meine die beiden gegenüber links vor mir. Es handelt sich möglicherweise um Mutter und Tochter; letztere ist wohl 12 bis 14 Jahre alt und sieht meiner Meinung nach nur entfernt japanisch aus (abgesehen von der schwarzen Haarfarbe), aber der Punkt dabei ist, dass ich mir absolut sicher bin, die beiden in einer bestimmten Fernsehshow schon mal als Gäste gesehen zu haben, wo sie als „Mutter-Tochter“ Gespann aufgetreten sind. Hintergrund dieser Show ist der folgende: Mitarbeiter des Senders oder auch bekannte Showstars gehen mit einem Kamerateam auf die Straße und suchen nach Müttern mit Töchtern, wobei die Mutter überraschend jung aussehen sollte, die sie dann fragen, ob sie auftreten möchten und wie alt sie sind. Im Idealfall sollte die Mutter 20 Jahre jünger aussehen, als sie tatsächlich ist. Um die Spannung zu erhöhen, wird das Gesicht der Person im Clip der Vorschau elektronisch unkenntlich gemacht und wird erst in der Fernsehsendung selbst preisgegeben.
Und ich bin mir eben sicher, dass die beiden da in einer solchen Show angetreten sind und getanzt haben. Das Gesicht der Mutter sehe ich zwar nicht richtig, weil sie halb mit dem Rücken und halb mit ihrer linken Seite zu mir sitzt, aber das Gesicht der Tochter fand ich beim Ansehen der Show sehr markant. Ich bin mir absolut sicher, es schon einmal gesehen zu haben. So frech, einfach mal zu fragen, will ich dann aber doch nicht sein. Sogar ich habe Grenzen. Auch wenn das so mancher nicht glauben mag. Stattdessen amüsiere ich mich darüber, dass die beiden von dem bisschen, was sie bestellen, nur die Hälfte essen und den Rest offenbar dem Mülleimer überlassen. Warum geht Ihr essen, wenn Ihr keinen Hunger habt?
Wir müssen letztendlich zum Bus. Wir verabschieden uns und fahren um 22:20 los – mit SangSu, der sein Reiseziel offenbar gefunden hat. Aber warum er hier einsteigt, anstatt dort, wo er ursprünglich hätte aussteigen sollen… ah ja, die Reise hat hier ihren Startpunkt. Also drei Endpunkte in Tokyo, aber nur einen Startpunkt.
Auf den Bus und die Reise gehe ich morgen ein.
[1] Wie ich bereits früher angedeutet habe, wird die Bedeutung von Anime in Japan von westlichen Medien maßlos übertrieben, und zum Thema Sicherheit der japanischen Straßen möchte ich hinzufügen, dass die Dunkelziffer wegen des gesteigerten japanischen Schamgefühls als hoch einzuschätzen ist: Misshandelte Frauen haben einen gesteigerten Hang dazu, die Tat zu verschweigen.
[2] Es handelte sich in der Tat um ein Quizspiel mit Thema „Tokimeki“, und niemand wollte es kaufen.