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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

30. September 2023

Wie sah Dienstag, der 30.09. aus?

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 10:10

Ich bin schon wieder um 06:00 aufgewacht, auch ohne Unterstützung des Nachbarhundes.
Die Haushunde hier sind irgendwie gleichgültig. Wenn man vorbeigeht, schauen sie einen an, halten aber die Klappe. Um 10:00 soll ich letzte Formalitäten für mein Apartment hinter mich bringen, damit ich Gas bekomme. Es wird benötigt zum Kochen und zum Wasserheizen, zum Spülen und Waschen. Die Idee, dass ein Gasboiler in meiner Küche hängt, ist für mich ein wenig befremdlich, weil es mir… rückständig erscheint. Den letzten Gasboiler habe ich in einem deutschen Haushalt gesehen, als ich noch etwa halb so schwer war wie heute. 🙂
Ah ja, und um 16:00 soll mein Bett geliefert werden, also der Futon.
Mein Futon kommt um 20:00. Ein bisschen spät, aber er ist da, bevor ich ihn brauche. Kein Grund zur Beschwerde also.

Man weist mich darauf hin, dass Heizen im Winter nicht die Welt koste – wenn man einen Ölofen benutzen kann (wie das in meiner Wohnung der Fall ist), anstatt mit Gas zu heizen. Warten wir die Rechnung ab. Aber der Ofen sieht interessant aus. Er hat einen Timer, damit er vor dem Aufstehen die Wohnung heizen kann. Nett, oder? Aber ich habe sowieso den Eindruck, dass ich den größten Teil des Tages nicht zuhause, sondern an der Universität verbringen werde.
Außerdem musste ich die Regenrinne erst hinbiegen. Ich glaube, der Schnee des letzten Jahres hat sie um 90 Grad nach vorne gebeugt, der Regen ist also direkt wieder raus gelaufen. Jetzt tropft sie zwar noch vor sich hin, aber der Sturzbach des täglichen Regens landet wieder dort, wo er hingehört.

Ich muss für die Wohnung eine Versicherung abschließen, der Betrag wird auf der Post bezahlt, es sind 7500 Yen, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht.

Bis jetzt brauche ich noch einen Stadtplan, um meine eigene Wohnung zu finden, aber ich denke, dass sich das in zwei Tagen erledigt haben wird. Ich wohne ganz oben in einem der höchsten Gebäude der Gegend und habe daher einen tollen Überblick. Aber das muss nichts heißen. Ich wohne im dritten Stock, die anderen, normalen Gebäude sind eben nur zwei Stockwerke hoch.
Im Westen und im Süden kann man kleine, aber schöne Berge sehen, die geradezu nach mir rufen. Ich will nicht sagen „Der Berg ruft“, weil es nach meiner Meinung nicht wirklich Berge sind. Aber für Hügel sind sie dann doch zu hoch und zu felsig. Auf jeden Fall gibt es keinen Schnee da oben, man kommt also ohne Spezialausrüstung hoch, würde ich annehmen. Misi (sprich “Miishi”), der bisher nicht erwähnte Ungar unter uns, hat Interesse bekundet, mich zu begleiten, nächstes Jahr nach der Schneeschmelze. Obwohl… eigentlich könnte ich es vorher versuchen, noch im Oktober.
Zumindest könnte ich ein wenig üben.

nach Süden

Meine ersten E-Mails verwandelten sich in einen Zahlensalat, also war es eine gute Entscheidung, zuerst mal Testmails an eine Person zu schreiben, um das Ergebnis abzuwarten. Ich würde ungern eine solche lange Mail schreiben, nur um dann festzustellen, dass es vergebliche Liebesmüh gewesen ist.

Dem Mediamarkt in Trier muss ich allerdings noch ein Lied singen, und ich richte mich mit dieser Information besonders an Leute, die ebenfalls mal eine Zeit in Japan verbringen möchten, also vor allem an die Studenten, denen der Aufenthalt noch bevorsteht.
Es gibt günstig Umsteckersets zu kaufen, damit man seinen Rasierer oder ähnliches Kleingerät damit betreiben kann. Ich habe eine Digitalkamera mitgebracht und auch das Ladegerät für die Batterien, und der Verkäufer (ein Herr Becker) sagte mir damals, dafür bräuchte ich was stärkeres, einen Umspanner. Er zeigte mir ein Gerät für 15 E, dessen Verpackung sagte „für Nordamerika“. Ich ginge aber nach Japan, wandte ich ein, aber der Verkäufer sagte, dass Japan in dieser Hinsicht gleich sei. Gut, ich wusste, dass beide Staaten auf Schwachstrom (100 Volt) laufen, und gab mich zufrieden. Als ich dann aber das Gerät seinem Zweck zuführen wollte, durfte ich feststellen, dass amerikanische Stecker drei Stifte haben, die japanischen Steckdosen jedoch nur zwei Öffnungen.
Ich bin nicht sehr begeistert von der Kompetenz des Mediamarktes Trier am Bahnhof, hier vertreten durch den Herrn Becker. Freunde, kauft Euer Ladegerät lieber hier (in Japan). Ist bequemer als ein nutzloser Umspanner. Das war auch gleich eine nützliche Vokabel für mich, weil ich ja auch meinen Haarschneider mitgebracht habe. Ein Umspanner ist ein „Hen’atsuki“.

Immerhin: Ich kann das Essen hier nicht genug loben. An Gyûdon und Ramen (Nudelsuppe) könnte ich mich totfressen (wenn mich nicht eine normale Portion bereits sättigen würde), Yakiniku (gebratenes Fleisch) hole ich bei Gelegenheit nach.

29. September 2023

Montag, 29.09.2003 – Was ist Jetlag?

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 8:55

Nein, nein, die Frage ist ganz berechtigt. Anstatt mitten in der Nacht bin ich um 06:00 aufgewacht, und zwar so sehr, dass ich mich nicht noch einmal umgedreht und weiter gedöst habe. Stattdessen mache ich einen Spaziergang. Ich kann mir die nähere Umgebung ja mal ansehen, erste Eindrücke gewinnen, und ich finde es gar nicht schlecht, dass bei dieser Gelegenheit niemand dabei ist, der dabei sagt „Das ist dies und das ist jenes.“ Ich will die Gegend mal wirken lassen, ganz unbefangen.

Das Wetter ist topp. Kein Wölkchen am Himmel, kalt ist es auch nicht und die Sonne ist bereits aufgegangen. Ich bin jetzt nicht sicher, ob die Sonne in Deutschland Ende September ebenfalls bereits um sechs Uhr morgens so hoch steht. Ich habe nie darauf geachtet. Normalerweise habe ich in den Sommerferien je eine Nacht durchgemacht, bin dann auf den Walnussbaum hinter unserem Haus geklettert, um den Sonnenaufgang zu sehen. Ich habe keine Ahnung, was mich dazu getrieben hat, aber immerhin zeigt mir das vor mir selbst, dass ich nicht völlig ignorant bin.

Aber gut, jetzt bin ich in Japan und ich werde das Gefühl nicht los, dass ich früher werde aufstehen müssen, wenn ich einen Sonnenaufgang bewundern können will. Ich will zumindest einen sehen, im Land der Aufgehenden Sonne.

Ich merke es ganz deutlich: Ich befinde mich auf dem Land, in der tiefsten Provinz, wie sie nur von noch kleineren Dörfern, die es in der Umgebung zweifelsohne gibt, überboten werden kann. Auf den Straßen ist nichts los. Vielleicht mehr als in Gersheim um diese Uhrzeit, aber Gersheim ist ein noch kleineres Dorf. Hirosaki scheint ein großes Dorf zu sein. Ein Dorf mit immerhin 50000 Einwohnern. Was ist hier anders? Der Straßenzustand erscheint mir schlechter, als in abgelegenen Dörfern im Saarland. Aber ich bin ja Fußgänger. Da stehen Getränkeautomaten, alle paar Meter, könnte man fast sagen. Eine Getränkedose kostet 100 Yen, also etwa 75 Cent. Ich habe Durst, also nehme ich mir eine, auf gut Glück. Tee will ich vermeiden, wenn ich schon mal da bin, dann kann ich auch was völlig neues ausprobieren. Ich nehme eine Dose mit einem Getränk namens „Dakara“. Es handelt sich um ein weißlich-trübes Getränk mit undefinierbarem Geschmack. Ist aber gar nicht übel. Und es ist keine Kohlensäure drin – ich liebe dieses Land!

Was ich allerdings noch nie gesehen habe, weder in einem Film noch mit eigenen Augen, ist ein Automat, an dem man Reis ziehen kann. Für einen gewissen Preis, ich habe mir nicht gemerkt, wie viel genau, kann man hier kleine Säcke mit zwei Kilo Reis aus dem Automaten kaufen. Und als ob das noch nicht genug wäre, steht direkt daneben ein Automat, an dem man sich Eiswürfel, ein Kilo davon in einer Plastiktüte, besorgen kann. Das könnte jetzt daran liegen, dass der Laden gegenüber eine Art Jugendtreff sein könnte (sofern ich das von den sichtbaren Anzeichen beurteilen kann), oder sind die Sommer hier oben so heftig? Aber das bleibt abzuwarten. Ich schätze, in etwa zwei Monaten wird General Winter aus Sibirien hier reinschneien, im wahrsten Sinne des Wortes.

Ein paar Schritte weiter eine Tankstelle. Aha… Zapfsäulen im deutschen Sinne gibt es hier nicht. Die Zapfschläuche hängen von der Decke, so hoch, dass man sie nicht erreichen kann (weil gerade geschlossen ist), und außerdem wurden die Endstücke entfernt. Interessante Methode. Die Benzinpreise scheinen Luxemburger Niveau zu haben.

Gegenüber der Tankstelle befindet sich ein Supermarkt mit dem Namen „Maruesu“. Im gleichen Gebäude scheint sich ein weiterer Laden zu befinden, der „MooMoo“ heißt, offenbar im oberen Stockwerk. Da gibt’s Grillfleisch, wenn ich das Schild richtig interpretiere. Der Supermarkt öffnet erst um 09:00. Aber was heißt „erst“? In Deutschland ist acht Uhr üblich, also ist der Unterschied nicht so gewaltig. Aber die Schlusszeiten sind revolutionär für jemanden, der es gewohnt ist, dass der Supermarkt abends um 20:00 die Tür dicht macht: Der Maruesu schließt um Mitternacht! Das ist doch cool – wenn ich eine Party starte und später am Abend erst merke, dass ich noch was brauche, kann ich in aller Seelenruhe in den Supermarkt gehen und Nachschub kaufen. Na gut, je nach dem, was für Schichten hier üblich sind, finden die Angestellten die Öffnungszeiten möglicherweise weitaus weniger cool als ich, der ich ein Kunde bin.

Ich werfe auch nicht nur einen, sondern mehrere Blicke auf den Boden. Der beherbergt nämlich wahre Blickfänge: Die Kanaldeckel sind mit dem regionalen „Heldenobst“, dem Apfel, verziert. Und in dem Apfel prangt ein fettes Hakenkreuz. Es ist natürlich keines im „deutschen Sinne“, sondern eine Spiegelung desselben, was in Japan das Zeichen für einen (buddhistischen) Tempel ist. Trotzdem finde ich den Anblick irritierend. Ich kann mich meines kulturellen Hintergrundes einfach nicht erwehren.

Manji

Mein Blick wird auch nach oben gezogen: Die berühmten japanischen Krähen. Da sitzt ein großes Exemplar auf einem Strommast und lacht mich aus. Die Krähen machen hier offenbar solche Geräusche. Kurze Stöße in der ihnen eigenen Stimmlage lassen das Gekrächze wie ein trockenes Lachen klingen. Lach Du nur. Ich werde lernen.

Ich kehre pünktlich zum Frühstück um 08:00 in das Gästehaus zurück. Es gibt Reis, Gemüse, Sojasprossen, einen Joghurt, grünen Tee und Misosuppe. Ein durchweg japanisches Frühstück. Schmeckt auch gar nicht übel. In dem Frühstücksraum sitzen noch vier oder fünf andere (männliche) Gäste, durchweg Japaner. Die sind alle älter als vierzig, möchte ich raten, und sind bestimmt keine Studenten. Die kommen mir eher vor, als würden sie zum Inventar gehören. Die reden miteinander und mit der Hauswirtin, da kennt also jeder jeden, sie sehen die Nachrichten im Fernsehen an. Ich fühle mich völlig außen vor – aber was hätte ich auch erwarten können? Ich erhalte auf diese Art und Weise ein Gefühl dafür, wie man sich als Ausländer fühlt. Bislang war ich nämlich immer nur der Inländer, sieht man von meinen kleinen Trips innerhalb Europas ab. Aber da sahen die Leute auch nicht anders aus als ich und ich hätte in Südtirol, in Österreich, in Frankreich, in Holland oder in England völlig unauffällig in der Menge verschwinden können, mindestens so lange, wie ich nicht hätte reden müssen. In Japan hebe ich mich durch mein ethnisch bedingtes, völlig anderes Aussehen total von der mich umgebenden Masse ab. Ich bin außen vor! Dabei fällt mir eine unfreiwillig komische Frage meines Freundes Kai ein, der mich fragte, ob es in Japan nicht vielleicht eine Art von Aussage oder eine wie nebenläufig klingende Bemerkung gebe, die erkennen lasse, dass man ein „Eingeweihter“ sei, die einem sofort alle Türen öffne. Natürlich musste ich darüber lachen. Schließlich handelt es sich bei der Gruppe von Menschen, die man in Deutschland „Japaner“ nennt, nicht um eine Geheimgesellschaft, in deren Treffpunkt man hineinspaziert und dem Mann an der Bar einen Geheimcode zuflüstert, vielleicht so was sagt wie „Die Blumen blühen im Mai ganz besonders schön“1 und dann gehört man auf einmal dazu. Das wäre sehr abgefahren, um es mal so auszudrücken. Allerdings bin ich gespannt, was die legendäre Parole „Boku wa Amerika-jin de wa nai desu, Doitsu-jin desu“ („Ich bin kein Amerikaner, ich bin Deutscher“) bewirkt.

Nach dem Frühstück irgendwann kommt mein Fahrer von gestern vorbei und holt mich ab, damit ich mich im Center für Austauschstudenten an der Uni anmelden kann. Es ist auch nicht weit bis zum Campus, gerade mal fünf Minuten. Auf der Straße fallen mir Katzen mit Stummelschwänzen auf. Ich will eine Bemerkung darüber machen, bemerke aber mitten im Satz, dass ich das Wort für „Schwanz“ gar nicht weiß. Ich mache es meinem Begleiter auf Englisch klar und ich lerne das erste neue Wort des kommenden Jahres: „Shippo“.2 Er sagt außerdem zu den Katzenschwänzen, dass diese keineswegs aus welchen Gründen auch immer gekürzt worden seien, diese Rasse von Katzen habe keine langen, ausgeprägten Schwänze, sie würden so geboren.3

Im Center treffe ich meinen Vermieter: Ikeda-san. Der sieht viel zu lustig für einen Makler aus. Er bittet mich, in sein Auto einzusteigen und fährt mich zu dem ersten Haus, in dem er Wohnungen anzubieten hat. Übrigens zusammen mit drei weiteren Leuten, zwei davon weiblich, die aus dem asiatischen Ausland zu kommen scheinen. Der Sprache nach zu urteilen handelt es sich um Koreaner. Das Haus, um das es geht, heißt „Shimoda Heights II“ und in der Nähe gibt es tatsächlich einen „SPAR“ Supermarkt, der heißt in Japan offenbar „HotSPAR“. Hat man hier noch nicht erfahren, dass die Kette schon lange pleite ist?

HotSpar

Wie dem auch sei, in Ikedas Haus gibt es Wohnungen mit zwei Zimmern, und weil Melanie in ein paar Tagen ebenfalls eintreffen wird, brauche ich eine solche. Da ich nicht weiß, wie konservativ die Leute hier sind, erzähle ich dem Vermieter, wir seien verlobt. Man soll nicht lügen, ich weiß, aber ich will auch nicht die Stimmung bei meinem Vermieter trüben, weil ich hier unverheiratet mit einer Frau zusammenlebe. Ich sehe mir die drei Wohnungen im obersten Stock an und nehme die dritte. In den ersten beiden kann man einen großen Raum aus der Wohnung machen, indem man die Schiebetür zwischen dem Wohn- und dem Schlafzimmer entfernt, aber das erschien mir irgendwie zu… normal? Die dritte Wohnung jedenfalls hat nicht nur eine Schiebetür zwischen Koch- und Wohnraum, sondern auch noch eine ganze Wand (in der sich ein Schrank befindet) zwischen Wohn- und Schlafzimmer, mit einer Tür an der Seite. Das erscheint mir am besten. Ich kann nicht sagen, warum, es ist nur ein Gefühl. Die Wohnung ist 30 qm groß und kostet 37500 Yen im Monat (knapp 300 E), Gas und Strom und Öl für die Heizung kommen noch dazu. Wasser ist im Mietpreis enthalten, außerdem haben wir einen Schreibtisch, einen Fernseher mit integriertem Videorekorder, eine… Art… Waschmaschine und einen Staubsauger. Die Küche hat einen Linoleumfußboden, das Wohnzimmer eine Art Filzbelag und das Schlafzimmer ist mit Tatami, mit Reisstrohmatten, ausgelegt. Die riechen gut und fühlen sich auch gut an. Ikeda-san sagt, dass diese Wohnungen speziell für Austauschstudenten ausgelegt seien, denn normalerweise seien Studentenzimmer völlig unmöbliert. Okay, ich nehme die Wohnung. Ich bin erfreut darüber, dass Ikeda-san kein so genanntes „Schlüsselgeld“ nimmt (ein Euphemismus für eine Art Vermittlungsgebühr) und auch nur eine Monatsmiete im Voraus bezahlt haben will. Aus Tokyo habe ich ja reine Horrorgeschichten gehört, von einem saftigen Schlüsselgeld und drei Monatsmieten im Voraus (man bedenke, was das in Tokyo, dem teuersten Pflaster der Welt, bedeutet). Auf diese Art und Weise habe ich für den Anfang noch weit mehr Geld im Geldbeutel, als ich vermutet hatte. Das fängt gut an! Ikeda-san fährt mich zum Center zurück und sagt, er werde mich und mein Gepäck morgen früh abholen, damit ich einziehen könne.

Im Center warte ich dann auf meine Tutorin. Und während ich das tue, sehe ich mir die Computer an, mal sehen, was damit läuft und was nicht geht. Ich könnte ja mal nach Hause schreiben, dass ich gesund und munter angekommen bin. Und während ich da sitze, kommen zwei weitere Austauschstudenten rein. Den männlichen würde ich für einen Australier oder für einen Neuseeländer halten, nach seinem Akzent zu urteilen. Die junge Frau ist allerdings ganz eindeutig Deutsche. Bei diesem Akzent rollen sich mir sämtliche Zehennägel hoch und wieder runter. Dass mir nicht auch noch die Schnürsenkel von alleine aufgegangen sind, wundert mich beinahe. Es handelt sich um David „Dave“ Ryan, tatsächlich Neuseeländer, und Ramona, Deutsche mit italienischem Vater. Von welcher Uni sie kommt, habe ich gerade vergessen. Zu meinem nachträglichen Bedauern stelle ich mich nicht als kommunikativ feinfühlig dar. Ich äußere meine Absicht, nicht ständig und möglichst selten mit Landsleuten rumzuhängen, weil das den Lernprozess hemme. Davon ist sie nicht begeistert. Natürlich hat sie nichts gesagt, aber ich kann es ihr an der Nasenspitze ablesen, dass sie mich für daneben hält. Oder meldet sich hier mein Gewissen und trübt meine objektive Wahrnehmung (falls es etwas solches überhaupt gibt)?

Wie dem auch sei, ich treffe wenig später meine Tutorin: Seitô Yui. Scheint ganz sympathisch zu sein. Es gibt offenbar auch japanische Frauen, die nicht halbverhungert aussehen. Sie macht einen direkt normalen Eindruck. Sie soll mir bei Behördengängen helfen, und die sind notwendig, schließlich muss ich mich beim Einwohnermeldeamt anmelden. Dort muss man ein Formular ausfüllen, das heißt, Namen und Adresse angeben, dann bezahlt man 200 Yen und die Sache ist gelaufen. Eine Behördenformalität für umgerechnet 1,50 E? Unglaublich billig… ich habe in Deutschland nie weniger als 5 E bezahlt, wenn ich mal was Offizielles wollte, wie zum Beispiel die Beglaubigung meines Zeugnisses. Zack, Stempel drauf, „Das macht 5 Euro bitte.“ Da kam ich mir doch auf den Arm genommen vor. Was mein polizeiliches Führungszeugnis gekostet hat, weiß ich nicht mehr.

Meldestelle für Ausländer

Yui zeigt mir auf dem Weg durch die Stadt ein bisschen was von der Gegend. Da das Einwohnermeldeamt nicht weit davon entfernt ist, gehen wir in den Park der Stadt. Schöne Gegend, muss ich sagen. Aber dieses Tor kann unmöglich ein Original sein, und auch als Nachbildung macht es eine schlechte Figur: Die Holzbohlen sind nicht einmal zehn Zentimeter dick. Welchen halbwegs ausgerüsteten Gegner hätte man damit abwehren können? Wenn die damals tatsächlich solche Türchen verwendet hätten, müsste ich das äußerst lachhaft finden. Apropos lachhaft: In diesem Park steht auch etwas, was sich „Hirosaki Castle“ nennt. Es soll auch berühmt sein, wie Yui mir versichert. Es handelt sich um einen geradezu winzigen, dreistöckigen Bau mit einer Grundfläche von allerhöchstens 20 x 20 Metern. Eher ein Turm also. Wenn ich die Rheinburgen Revue passieren lasse, die ich als Kind gesehen habe, wirkt das Gebäude hier geradezu lächerlich.

In einem Supermarkt sehe ich, dass es dort die gleichen Getränkedosen gibt, wie am Automaten. Und der Preis ist der gleiche. Das ist gut – in Deutschland zahle ich am Automaten doch grundsätzlich mehr, als wenn ich eine Dose im Laden kaufe. Aber was soll’s… ich kaufe üblicherweise keine solchen Getränke in Deutschland, weil mich die Kohlensäure anwidert. Ansonsten sind die Supermarktpreise wirklich gesalzen. Artikel, die ich auch aus Deutschland kenne, oder vergleichbare Artikel, kosten kurzerhand das Doppelte des deutschen Preises, und Milch kostet sogar das Dreifache. Brot gibt es offenbar nur als Toastbrot. Labberiges Weißbrot ohne jeden Biss. Weniger als halb so viel Masse wie in Deutschland zum doppelten Preis.

Dann fährt da ein Auto an mir vorbei, ein Toyota, und der ist deswegen auffällig, weil der Name der Serie „Platz“ ist. Genau das steht in großen Lettern auf der Rückseite des Wagens, wo bei uns etwa „Jetta“ oder „405“ oder „Omega“ oder etwas in dieser Art stehen würde. Ich würde nie auf die Idee kommen, ein Auto „Platz“ zu nennen, das klingt für mich viel zu banal, aber hier scheint dieses deutsche Wort einen gewissen Exotikfaktor zu genießen.

Ich brauche einen Futon. Schließlich kann ich nicht direkt auf den Tatamimatten schlafen. Yui bringt mich also in das Kaufhaus „Daiei“ und zeigt mir, wo ich bekomme, was ich brauche. Ohne ihre Hilfe hätte ich das auch nie geschafft… normales Japanisch ist mir eine ganze Gangart zu schnell und ich kann der Verkäuferin nicht aus eigener Kraft folgen. Schließlich habe ich dann aber für 10000 Yen (ca. 75 E) alles, was ich brauche. Ich hätte mir gerne einen Überzug mit Anime-Thema genommen, aber so was gibt es nur in Kindergrößen. Das ist ja zum Heulen. Da ist Japan der Siebte Himmel für Animefans, aber ansprechende Bettdecken gibt es nicht für ausgewachsene Menschen (zumindest nicht in Hirosaki). Die Verkäuferin sagt, dass man sich den Futon liefern lassen kann und ich nehme das Angebot an. Kostet auch nichts extra. Ich hätte dann das Stück gerne morgen Abend.

Übrigens gibt es im Daiei gerade auf alle Waren 20 % Rabatt, weil das Team, das von dem Kaufhaus gesponsert wird, die „Daiei Hawks“, gerade die Meisterschaft in ihrer Liga gewonnen haben.4 Das kommt meinem Geldbeutel ebenfalls sehr gelegen.

Wir verlassen das Kaufhaus und Yui macht eine Bemerkung, dass sie noch nichts gegessen habe. Ich sehe auf der anderen Straßenseite einen Laden, wo es offenbar Gyûdon zu essen gibt und mache den Vorschlag, dort zu essen. Ich habe keine Ahnung, was „Gyûdon“ eigentlich ist, abgesehen davon, dass ich der Schreibweise entnehmen kann, dass es sich um ein Rindfleischgericht handeln muss. Die Speisekarte besteht zum Großteil aus Bildern, die mit Text kommentiert sind. Den Text verstehe ich noch nicht, also nehme ich etwas, was mir vom Bild her interessant scheint. Bei Gyûdon handelt es sich um eine Schüssel mit Reis, der mit Rindfleischstreifen belegt und mit etwas Fleischsaft getränkt ist. Schmeckt wirklich gut. Und nachdem ich das gegessen habe, bin ich erst mal satt. Für 580 Yen, umgerechnet etwa 4,40 E. Für ein Land, dessen Supermärkte doppelt so viel Geld verlangen, wie die in Deutschland, finde ich das wirklich gut. Außerdem keimt in mir der Verdacht, dass es billiger sein könnte, auswärts in dieser Art von Laden zu essen, als sich das jeweilige Gericht selbst zu machen.

Als wir mit essen fertig sind, ist es bereits annähernd dunkel und sie bringt mich ins Gästehaus zurück. Im Dunkeln hätte ich ernsthafte Probleme, den Weg zu finden. Und das hängt auch mit der schlechten Straßenbeleuchtung zusammen. Ich habe das Gefühl, dass die Straßen hierzulande dunkler sind als zuhause, außerdem gibt es streckenweise keine Beleuchtung in den Nebenstraßen. Ich dachte, das hier sei das zweitreichste Land der Welt?

1 Dieser Satz war um die Jahrtausendwende tatsächlich die Parole in einem Manga Shop in Tokyo, die einem den Zutritt zu einem Hinterzimmer verschaffte, wo das Zeug verkauft wurde, das man nur unter der Ladentheke weitergab. Diese Aussage beruht allerdings auf Hörensagen und mir wurden auch keine weiteren Details genannt. Der Erzähler der Anekdote ist mir allerdings bekannt.

2 Die Aussage ist aber unwahr, da ich auf dem Flughafen bereits den Begriff „Kaban“ (Gepäck) beigebracht bekam.

3 So genannte Manx-Katzen haben keine Schwänze, aber ich weiß nicht, ob es sich hierbei um solche handelte.

4 Es geht um Baseball.

28. September 2023

Sonntag, 28.09.2003 – Einsamer Cowboy, weit weg von zuhaus’… 1

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 8:03

Japan ist nur eine Tagesreise von Deutschland entfernt. Aber es ist eine richtige. Um 07:00 bin ich aufgestanden, nach zwei Stunden Schlaf, weil ich meinen Koffer auf den letzten Drücker gepackt habe. Mein quasi eben erst erfolgter Auszug aus dem Studentenwohnheim Petrisberg und der Abtransport meiner persönlichen Sachen nach Gersheim haben solche Vorbereitungen nicht zugelassen.

Immer um meine Fahrpraxis besorgt, hat mich mein Großvater trotz meiner Übermüdung das Auto selbst nach Frankfurt steuern lassen. Ich nenne das fahrlässig, aber… es ist ja gut gegangen, also will ich mich nicht zu laut beschweren. Ich hoffe nur, dass ich nicht so schnell noch einmal im Halbschlaf etwa 400 km Auto fahren muss. Die Fahrt nach Frankfurt ging glatt, abgesehen von einem kleinen Stau bei Kaiserslautern; der war aber vorhersehbar, und wir sind deshalb auch früh genug weggefahren.

Entgegen meiner Bedenken läuft der Abschied schnell und schmerzlos. Mein Großvater will die Sache wohl auch im eigenen Interesse nicht in die Länge ziehen und verabschiedet sich, nachdem ich mein Gepäck aus dem Auto auf eine Karre verladen habe. Ich bin sicher, er will vermeiden, am Ende doch noch emotional zu werden, und ich bin ihm ganz dankbar. Sein einziger Satz sagte auch alles aus: „Falls wir uns nicht wieder sehen sollten…“ Ich gebe diesen Satz nur zur Hälfte wieder, aus persönlichen Gründen. Ich werde ihn in seiner Gesamtheit aber nie vergessen, so lange ich lebe, von daher ist es überflüssig, ihn aufzuschreiben.

Der Frankfurter Flughafen („FraPort“) ist ungeheuer groß, und auch deswegen ein wenig verwirrend, vor allem, wenn man wie ich aus der Provinz stammt, aus einer Familie ohne Geld, wenn man jemand ist, der noch nie in seinem Leben mit einer großen Passagiermaschine geflogen ist und der lediglich das Flughäfchen in Ensheim mal aus der Nähe gesehen hat.

Ich erinnere mich an den Sommer 1988. Die Sommerferien zwischen der Grundschule und dem Gymnasium. Ich war gerade elf Jahre alt geworden und freute mich wie ein Schneekönig darüber, dass ich ab sofort, nach den Ferien, jeden Tag mit dem Zug zur Schule fahren würde. Ich gehörte zu den kleinen Jungs, die Eisenbahnen ganz toll fanden. Und weil ich es nicht erwarten konnte, habe ich vier Mark von meinem gesparten Taschengeld genommen, um zusammen mit einem damaligen Freund gewissermaßen schon vor der Zeit einen Ausflug nach Blieskastel zu machen. Es war meine erste Fahrt aus Gersheim hinaus ohne einen Erziehungsberechtigten, aber darauf will ich gar nicht hinaus. Es geht mir mehr um einen anderen Vergleich. Denn in unserem kleinen Bahnhof befand sich ein ordinäres Fenster, hinter dem ein nicht mehr ganz junger Bahnbeamter saß, zu dem man einfach hinging und sagte, wo man hinwollte. Er nannte darauf den Preis, ich zahlte ihn, erhielt meine Fahrkarte, und gut war’s. Dann musste ich nur noch in den Zug steigen. Der ganze Vorgang war so unkompliziert, dass ich als Elfjähriger keine Probleme damit hatte und zu jedem Zeitpunkt wusste, was zu tun war.

So, und 15 Jahre (und circa drei Monate) später stehe ich als 26-jähriger am FraPort. Die Tatsache, dass mein Ticket bereits gekauft worden ist, stellt einen großen Vorteil und eine Entlastung für meine nervösen Nerven dar. Ich muss das Ticket nur abholen. Nach einigem Hin und Her finde ich den richtigen Schalter und erhalte mein Ticket. Ich werde gefragt, ob ich am Fenster sitzen möchte. Interessant… ich dachte, jedes Ticket sei einem festen Platz zugeordnet. Trotz dieser Gelegenheit sage ich, das sei egal – weil ich erstens bescheiden bin, und zweitens, weil ich keine Ahnung habe, was mich erwartet. Ein paar Meter weiter gebe ich mein Gepäck ab. Ich habe mich an das Maximalgewicht gehalten, aber mein Koffer ist so alt, dass er nicht zubleiben will, er wird also extra gesichert. Und dann warte ich auf meinen Aufruf, indem ich einen Stuhl in der Halle besetze.

Die ersten Japaner erblicke und höre ich bereits hier, zwei Meter links von mir. Es handelt sich um eine Familie mit drei Kindern, die etwa zwei bis fünf Jahre alt sind, wie ich schätzen möchte. Den Kindern ist langweilig und sie machen allerlei Unsinn oder zanken sich. Die Mutter ermahnt die Kinder auf Japanisch, aber die Kinder streiten sich munter weiter – auf Deutsch. Es wirkt surreal. Und irgendwie bin ich dem Schicksal dankbar, dass ich diese Episode erleben darf, so banal sie auch scheinen mag.

Der Start ist ein echtes Erlebnis. Die Bremsen sind noch dicht, aber die Triebwerke laufen bereits. Eine ungeheure Schubkraft entfaltet sich, der ganze Laden wackelt wie bei einem kleinen Erdbeben. Dann werden die Bremsen gelöst und die Beschleunigung drückt mich stärker in meinen Sitz als irgendeines von Kais Autos das bisher gekonnt hätte (ich erinnere mich gerade an seine „Fünf-Mark-Wette“). Wir erheben uns in die Luft, beschreiben eine Rechtskurve und steigen allmählich auf 11.000 Meter Höhe. Ich komme mir vor, als würde ich in einer Achterbahn sitzen, die langsam auf den Beschleunigungsberg gezogen wird. Ich habe das Gefühl, wir bewegten uns in Zeitlupe, dabei sind wir mit etwa 1000 km/h unterwegs.

Mir wird der erste Nachteil des Nicht-am-Fenster-sitzens klar: Man sieht weniger von der Landschaft und den Wolken, und die sind anziehender, als ich gedacht habe. Andererseits sitze ich in einer Preisklasse, deren Plätze über den Flügeln liegen – direkt nach unten sehen kann man also gar nicht.

Die Route führt grob an Schwerin, Helsinki und Archangelsk vorbei und erreicht ihren nördlichen Scheitelpunkt am Rande der Barentssee. Dann biegen wir in einem weiten Bogen in Richtung Süden ab, fliegen quer über Sibirien und über die Mandschurei, erreichen dann Japan und landen nach elf Stunden Flug in Narita. Und diese 11 Stunden waren nicht immer angenehm.

Es handelt sich um eine Maschine der Lufthansa, und den Komfort würde ich nicht gerade als hoch bezeichnen. Zur Unterhaltung gibt es Musik für die Kopfhörer, aber von der Musik gefällt mir nur das Wenigste, und die Kanäle bestehen aus einer Schleife, die nach schätzungsweise einer Stunde von vorne beginnt. Ungeheuer spannend. Das Bordkino besteht aus kleinen Fernsehern, die in regelmäßigen Abständen an der Decke hängen. Dabei habe ich noch Glück und muss mir den Hals nicht allzu sehr verbiegen. „Bruce Almighty“ läuft da… ein Film, den die Welt nicht braucht. Aber ich bin auch kein besonderer Fan von Jim Carrey. Seine Loserrollen, die dann plötzlich was draufhaben und darüber ein bisschen größenwahnsinnig werden, gehen mir wohl zu sehr auf den Keks. „The Mask“ war grauenhaft (obwohl ich den Cartoon sehr mochte), „The Grinch“ war’s ebenfalls und… ach, lassen wir das. Ich habe ja die Nacht vorher schon nicht geschlafen und würde das ja gerne nachholen, vor allem wegen der Langeweile! Aber dieser Sitzplatz ist höllisch unbequem, ich muss das Kopfkissen auf den „Esstisch“ quetschen, einen Katzenbuckel machen und muss versuchen, so zu schlafen. Aber nach nicht einmal einer Stunde tut mir mein Rücken wegen der überstarken Krümmung weh. Zurücklehnen ist nicht, weil sich der Sitz nicht weit genug klappen lässt, und an die Kopfstütze kann man sich wegen mangelnder Größe mit dem Kopf nicht anlehnen, um so ein bisschen im Sitzen schlafen zu können. Hier offenbart sich ein weiterer Grund, warum man am Fenster sitzen sollte, wenn man Gelegenheit dazu bekommt: Man hat eine Wand, die den Kopf stützt. Den Fehler, zu bescheiden zu sein, mache ich am Flughafen nicht noch einmal.

Zwischendurch frage ich den Stewart (eigentlich: Flugbegleiter), wie es mit Getränken aussieht. Er sagt, er könne mir so viel Fruchtsaft bringen, wie ich wolle. Ich erkläre ihm, dass ich so an zwei Liter gedacht habe, weil er bestimmt nicht wolle, dass ich möglicherweise nervöse Fluggäste wegen eines heftigen Wadenkrampfs aus dem Schlaf reiße, und ob ich nicht gleich eine Flasche haben könnte. Nein, das würde bedeuten, dass er jedem, der dies verlangt, eine Flasche geben müsse. Worin der Nachteil besteht, sagt er nicht. Die andauernde Müllsammlung vielleicht? Er sagt aber, dass ich gerne in die Küche kommen und dort so viele Gläser trinken dürfe, wie ich wolle. In Ordnung, ich gehe in die Küche und trinke zehn Gläser Orangensaft. Die wollen einige Zeit darauf natürlich wieder raus, also sehe ich mir mal die Toiletten an. Sieht nicht viel anders aus als im Intercity der deutschen Bahn. Aber der Sog der Spülung ist, anders als Mittermeier behauptet hat, nicht stärker als im Zug.

Nach elf Stunden Flug landen wir also auf dem Flughafen Narita. Und jetzt heißt es, sich am Riemen zu reißen. Ich muss mit dem Shuttlebus zum Flughafen Haneda fahren und mir das Ticket selbst besorgen. Dazu muss ich erst mal offiziell einreisen. Ich stelle mich in eine lange Schlange mit einer Reihe weiterer Ausländer (im hiesigen Falle Nicht-Japaner) und warte auf meine Passkontrolle. Rechts von meiner Schlange gehen die Japaner vorbei. Sie werden nur flüchtig kontrolliert. Links von meiner Schlange befindet sich offenbar der Diplomateneingang. Ich sehe einen beleibten afrikanischen General in grüner Uniform mit Adjutanten an der Seite und viel Gold auf der Schulter. Es ist eindeutig kein Amerikaner, den hätte ich an der Uniform problemlos erkannt. Ich fühle mich ein bisschen an Idi Amin erinnert, den ich natürlich auch nur von Bildern her kenne, aber diese Assoziation kommt mir eben in den Sinn.

Ich gebe mir Mühe, die Fragen des Zollbeamten zu verstehen und zu beantworten. Mit Japanisch habe ich noch Probleme und sein Englisch ist schwach. Aber ich kriege dann meinen Stempel und kann mich auf die Suche nach dem richtigen Schalter für den richtigen Bus machen, nachdem ich mein Gepäck eingesammelt habe. Das Ticket kostet 1000 Yen, aktuell sind das etwa sieben Euro.

Die Fahrt von einem Flughafen zum anderen dauert etwa eine Stunde, über die Stadtautobahn. Ich bin hundemüde, aber ich will den Ausblick auf Tokyo auch nicht verpassen. Ich sehe das Riesenrad. Zumindest glaube ich, dass es in Tokyo nur ein markantes Riesenrad gibt, von daher gebe ich mich dem Glauben hin, dass ich hier das Riesenrad sehe, dass man in der „SailorMoon“ Animeserie mehrfach sehen konnte. Des weiteren sind da hohe Netze, hinter denen sich Abschlagplätze für Golffans befinden, und dann sind da wahrhaft gigantische Strommasten, die alles in den Schatten stellen, was ich in Deutschland bislang gesehen habe.

Am Flughafen Haneda werde ich durch einen Serviceangestellten kurz verwirrt. „Please check in over there“ sagt er und weist mit der linken Hand in eine unbestimmte Richtung, halt „grob links“ von seinem Standort. Ich gehe in die entsprechende Richtung, muss mich aber ein paar Minuten später fragen, wozu der Mann hier eigentlich diesen Job hat: Man erhält auf dem Weg überhaupt keine Gelegenheit, irgendwo falsch abzubiegen und sich zu verlaufen. Wo hätte ich also sonst hingehen sollen? Die Sache ist idiotensicher.

Weniger idiotensicher war offenbar ein Teil meiner Planung. Ich habe mir gedacht, dass ich ja Hiroyuki, meinen früheren Tandempartner, im Flughafen treffen könnte, da ich ja knapp zwei Stunden Aufenthalt habe. Ich hatte ihm also vor ein paar Tagen eine Nachricht geschrieben und er hatte geantwortet, dass wir uns „am Uhrenturm“ treffen würden. Beim Erhalt dieser Nachricht war ich davon ausgegangen, dass es am Flughafen Haneda einen Gebäudeabschnitt gebe, den man „den Uhrenturm“ nennt. Dem ist aber nicht so. In der Halle des Flughafens stehen acht kleine Uhrentürme. Offenbar ein grammatischer Fehler in der Nachricht meines Freundes, da es im Japanischen keine Artikel (der, die, das, ein, einer, eines, etc.) gibt, von daher hat die halbe Welt Probleme mit so was, nicht nur Japaner. Jedenfalls kann ich Hiroyuki nicht finden, auch nachdem ich die Halle zweimal hoch und runter gelaufen bin. Ich wende mich an die Information und lasse ihn sogar ausrufen. Aber nichts geschieht. Schließlich wird mein Flug nach Aomori aufgerufen und ich muss weg. Während der eintönigen Wartezeit hat sich meine Müdigkeit verstärkt, aber ich konnte nicht wagen, zu schlafen, da ich möglicherweise meinen Flug verschlafen würde.2

Leider habe ich das bunte Treiben am Flughafen kaum zur Kenntnis nehmen können. Ich erinnere mich an eine oder mehrere Schulklassen derselben Schule (gleiche Uniformen), die wohl ebenfalls auf einen Flug warteten, womit ich die ersten Schuluniformen live zu Gesicht bekommen habe. Auch lustig sind die vielen hübschen Damen, deren Arbeit daraus besteht, Marktschreier zu sein. Sie stehen neben den Ständen, deren Firma sie bezahlt und rufen z.B. „Keeki wa ikaga desu kaaaa?“ (etwa: „Wie wär’s mit Kuuucheeen?“, nur höflicher). Wäre ich wach und zurechnungsfähig, würde ich ihnen gerne ein bisschen beim Rufen zuhören (weil ich schöne Stimmen mag), aber ich fühle mich wie durchgekaut und ausgespuckt.

Ich hole mein Ticket ab, gebe meinen Koffer wieder ab und sichere mir diesmal einen Fensterplatz. Wie es scheint, haben japanische Flughafenangestellte strengere Vorstellungen von einem sicheren Koffer als ihre deutschen Kollegen. Die Dame fragt, ob etwas zerbrechliches drin sei (nein), presst dann meinen Koffer zusammen und umwickelt ihn mit einem stabilen Plastikband. Jetzt fällt da bestimmt nichts raus. Ich steige dann also in meinen Inlandsflug nach Aomori. Ich freue mich ungeheuer auf die Startbeschleunigung. In Frankfurt war das ein irres Gefühl. Wieder sind die Bremsen zu und die Turbinen heulen los. Dann lösen sich die Bremsen und wir schießen über die Startbahn! Aber den Take-off erlebe ich nicht mehr – der Schlaf überkommt mich wie ein Ohnmachtsanfall und ich wache erst wieder auf, als wir schon beinahe in Aomori angekommen sind. Dort regnet es, aber das ist mir gleich. Ich bin glücklich, hier zu sein.

Am Flughafen von Aomori werde ich abgeholt. Ich bin so fertig, dass ich kaum denken kann, dem entsprechend schwer fällt mir die Kommunikation mit meinem Fahrer, der sich viel Mühe gibt, Englisch zu sprechen. Dafür möchte ich ihm danken. Mein Japanisch ist auch dann nicht das Wahre, wenn ich voll ausgeruht bin. Aber seinen Namen habe ich nach zwei Sekunden wieder vergessen. Er trägt einen reichlich unförmlichen Trainingsanzug. Werde ich hier vom Hausmeister der Uni abgeholt?

Wir fahren los, in Richtung Hirosaki, das grob südwestlich von Aomori liegt. Meinem Fahrer ist offenbar nach einem Gespräch, also redet er drauflos und stellt Fragen, die man halt jemandem stellt, den man gerade zum ersten Mal sieht und der von der anderen Seite der Welt kommt. Ich habe mir allerdings nur das allerwenigste davon merken können. Irgendwann zum Beispiel deutet er aus dem Fenster und fragt mich, ob ich wisse, was da wachse. Ich werfe einen Blick auf das Feld und erkenne sofort, dass da Reis wächst, etwa so hoch wie bei uns der Hafer. Glaubt er, dass ich nicht wisse, wie Reispflanzen aussehen? Ich vermute eine Art Fangfrage und frage, was es denn sei. Ja, das sei Reis, sagt er. Okay, er hält mich für beschränkt oder glaubt, dass man unter Brotessern nicht weiß, wie Reis im Feld aussieht. ? Er weist auch darauf hin, dass es hin und wieder Erdbeben gebe. Na gut, auch darauf habe ich mich, so weit es mir möglich ist, seelisch und moralisch eingestellt.

In der Nähe von Hirosaki fallen mir die Apfelbäume ins Auge. Die Äpfel sind hier nicht rot oder grün, sondern… pink!? Ja, das sei hier so. Er weist mich darauf hin, dass Hirosaki die Apfelstadt Japans sei. Das wusste ich nicht. Schande auf mein Haupt. Aber wenn Hirosaki eine solche Gemeinsamkeit mit Bozen in Südtirol hat, gefällt es mir doch gleich noch ein Stück besser hier.

Das Fahren muss der gute Mann übrigens auch noch üben. Der fährt stoßweise. Auf der Landstraße herrscht in Japan ein Tempolimit von 60 km/h, es ist unglaublich. Und mein Fahrer beschleunigt auf etwa 65, nimmt den Fuß vom Gas, bis der Tacho nur noch 55 anzeigt, dann tritt er wieder aufs Gas und so weiter und so fort. Ich werde die ganze Fahrt über eher unsanft geschaukelt. Selbst wenn wir nicht die halbe Zeit geredet hätten, hätte ich nicht schlafen können.

Auf dem Weg zum Gästehaus der Universität biegt er kurz auf den Campus ein, dreht eine Runde um eines der Gebäude und fährt wieder auf die Hauptstraße. Super… eine Besichtigung von einigen Sekunden. Ich muss ob dieser Serviceleistung doch schmunzeln. Ich werde noch genug Zeit hier verbringen. Aber Schlaf ist das, was ich jetzt will! Dann fahren wir zum Gästehaus. Ich erhalte ein Zimmer und lehne das Angebot, ein Abendessen einzunehmen, dankend ab und bitte darum, um 08:00 geweckt zu werden. Bett, Dusche (inklusive Handtuch und Seife), WC, Schreibtisch. In meinen Augen in diesem Moment der Himmel auf Erden.

Ich nehme eine Dusche, sie ist notwendig. Und danach fühle ich mich zwar immer noch hundemüde, aber nicht mehr so fertig. Ich setze mich also an den kleinen Schreibtisch und verfasse das Manuskript dieses Tagebucheintrags, bevor ich schlafen gehe. Es ist jetzt 15:30 Ortszeit. In Deutschland ist es 08:30 am Morgen. Ich bin also seit meinem Aufbruch in Gersheim 25,5 Stunden unterwegs gewesen. Bis 08:00 sind es noch 15,5 Stunden, das wird zum Ausschlafen reichen, denke ich. Ich kenne meine Schlafgewohnheiten nach langen Reisen. Wenn das hier so läuft, wie sonst, dann werde ich morgen früh erfrischt aus dem Schlaf erwachen und mich folglich sofort an den lokalen Schlafrhythmus gewöhnen, ohne noch die jetzt gerade unbrauchbare Mitteleuropäische Zeit in den Knochen zu haben. Viele andere machen da ja die Erfahrung, dass sie tagelang mitten in der Nacht aufwachen und nicht mehr schlafen können. Ich will mal ganz voreilig sein und behaupten, dass mich das nicht betreffen wird.

1 Dieser Eintrag wurde am 28. Oktober 2005 anhand des Manuskripts neu verfasst. Die Originalpost zu diesem Datum, die damals per E-Mail versendet worden war, ist nicht erhalten geblieben.

2 Ich habe ihm versehentlich meinen Abreisetag als Zeitpunkt genannt und kam in dem Moment nicht auf die Idee, dass ich erst einen Tag später am Treffpunkt ankommen würde.

21. September 2023

Ihr Zeitreisebüro öffnet demnächst

Filed under: Japan — 42317 @ 20:25

Liebe Freunde, liebe Gäste, in genau einer Woche haben wir den 28. September; das ist der Tag, an dem sich meine Reise nach Japan als noch junger Austauschstudent zum zwanzigsten Male jährt, und aus diesem Grund beginnt ab kommenden Donnerstag Morgen die zeitparallele Veröffentlichung meiner damaligen Tagebucheinträge auf diesem Blog. Tag für Tag, so, wie es eigentlich bereits damals hätte sein sollen. Es wird zweifellos auch diesmal in den kommenden 11 Monaten Gelegenheiten geben, wo ich zum Beispiel wegen Abwesenheit von zuhause nicht in der Lage sein werde, den täglichen Eintrag selbst zu posten. Hoffentlich findet sich dafür eine gute Lösung.

Eigentlich hatte ich bereits im zehnten “Jubiläumsjahr” die Absicht, die Tagebucheinträge hier zu veröffentlichen, was allerdings kläglich scheiterte. Das lag in erster Linie an meiner Berufstätigkeit als Paketfahrer, aber auch eben daran, dass ich feststellte, dass die Einträge ganz dringend überarbeitet werden mussten, und Fußnoten zur Erläuterung gewisser Darlegungen oder Konzepte schienen auch geboten. Ich hatte nicht die Zeit, das alles hopplahopp zu stemmen, und machte mich in den Monaten und Jahren nach dem Herbst 2014 daran, jeden einzelnen Artikel unter die Lupe zu nehmen, zu korrigieren und zu kommentieren. Da nun all dies abgeschlossen ist, muss ich mich nur noch mit oberflächlichen Dingen wie dem Erscheinungsbild der Artikel beschäftigen, und da ich nicht mehr von früh bis spät arbeiten muss, sondern aktuell nur von Mittag bis zum frühen Abend, bin ich zuversichtlich, morgens genügend Zeit zu haben, um meinen Ansprüchen gerecht zu werden.

Ich lade also alle ein, sich mit mir auf diese nostalgische Reise in eine fern scheinende Vergangenheit zu begeben, und freue mich auf Kommentare und Rückfragen.

Bis dahin: Alles Gute!

Dominik