Was mir grade einfiel
Die westliche Auffassung von FengShui ist ein esoterischer Euphemismus für einen ausgeprägten Kontrollwahn.
Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels
Die westliche Auffassung von FengShui ist ein esoterischer Euphemismus für einen ausgeprägten Kontrollwahn.
Um gleich eine Frage zu beantworten, die sich möglicherweise mehr als einer beim Lesen von “Stückwerk ist unsere Erkenntnis, Stückwerk unser Tun…” gestellt hat: Der Text ist keine Darstellung meines augenblicklichen Seelenzustandes. Die Geschichte wurde bereits Anfang 2008 geschrieben und sollte bereits vor einem Jahr, zum 17. Dezember 2008, veröffentlicht werden, aber leider habe ich das Datum verpennt.
Was da geschrieben steht, beruht auf einer wahren Begebenheit, aber natürlich hat sich das alles nicht im Detail so abgespielt. Bernhards Tod ist real, aber er hat sich nicht von einer Brücke gestürzt. Die Titelzeile stammt aus der Totenmesse, die in Trier für ihn abgehalten wurde. Seine Freude am Fotografieren und an Brettspielen entspricht der Wahrheit, aber er hat nicht in einem Club, sondern immer wieder mal mit der Dienstagsrunde gespielt, von der ich seit einigen Jahren Teil bin. Er sang auch im Chor, im Graf-Spee-Chor, um genau zu sein, und ebenso gibt es das erwähnte Blog, und er hatte auch tatsächlich so einen “Idiotenjob”. Der Alte, der seine Exkremente an die Wand schnippte, den gab’s auch mal, und ebenso das übermäßig schnell wirkende Abführmittel. Ich kannte die Pflegerin des ersteren, und letzteren kannte ich persönlich.
Der Stil des ersten Epilogs richtet sich, als Hommage, an den Fragmenten aus, die in dem Blog geschrieben stehen. Aber die füllenden Details und Gedanken entstammen alle meiner intuitiv-künstlerischen Freiheit.
Ich habe erst nach Bernhards Tod seinen Geburtstag realisiert, und der ist halt am Tag nach meinem. Vielleicht kannte ich ihn nicht wirklich gut, auf jeden Fall nicht ganz so gut, wie ich die Leute kenne, die jeden Dienstag dabei sind, wenn es darum geht, den Sheriff – BANG! – zu erschießen, aber ich habe mich ab und zu mit ihm unterhalten und habe ihn oft genug “live erlebt”, sozusagen, um daraus ableiten zu können, dass wir ein paar Gemeinsamkeiten besitzen, weswegen ich auf die Idee kam, einen Nachruf in Form einer Kurzgeschichte verfassen, und dabei im Rahmen des Realistischen bleiben zu können. Inwieweit mir das gelungen ist, liegt im Ermessen derer, die ihn besser und länger kannten als ich.
Ich griff dabei auf ein Sammelsurium von direkten Erfahrungen und mitgehörten Geschichten zurück. Ich kenne zum Beispiel den LKW-Fahrer, dem eine Person von der Autobahnbrücke vor den Laster sprang. Es war nicht Bernhard, sondern eine junge Frau, aber ich fand es angebracht, den zweiten Epilog hinzuzufügen, um darauf hinzuweisen, dass ein Selbstmord immer auch noch andere treffen kann, die man gar nicht treffen will, an die man gar nicht gedacht hat. Natürlich hatte ich auch die Gefühle der Freunde und Verwandten im Sinn, aber daran wollte ich micht herantrauen. Ich weiß nicht, ob ich das hätte treffen können, ohne unsachlich rührselig oder kitschig zu werden. Letztendlich dachte ich mir, dass es klar genug sein müsste, dass das direkte Umfeld betroffen sein würde, und ließ es bei einer Person, dem Lieferfahrer, der überhaupt keine Beziehung zu S. hatte und trotzdem sehr in Mitleidenschaft gezogen wurde. Statistiken zeigen, dass die Gefahr eines Selbstmords in sozialen Einheiten größer ist bzw. wird, wenn ein solcher Unglücksfall sich bereits im direkten Umfeld dieser Gruppe ereignet hat, aber ich weiß nicht, inwiefern Forschungen auch “die anderen” erfassen, die Kraftfahrer auf Straße und Schiene zum Beispiel, oder vielleicht auch Menschen, die in der direkten Umgebung einer solchen Brücke leben oder arbeiten. Darauf wollte ich kurz hinweisen.
Das seelische Innenleben von S. ist eine Übersteigerung dessen, wie es mir selbst zwischen Winter 2004 und Herbst 2005 ging, als es mir nicht gelingen wollte, einen Nebenjob zu finden, und als ich finanziell völlig von anderen abhängig war. Das trifft das Selbstwertgefühl ganz empfindlich. Zumindest meines… und diese Geschichte mit “Ich weiß nicht… zwischen uns stimmt die Chemie einfach nicht…”, die stammt aus meinen eigenen, direkten Erfahrungen. Es ging dabei zwar nur um einen Job als Salatmischer, und das mit der schlechten Chemie muss ich aus meiner Unverschämtheit ableiten, für das Probearbeiten bezahlt werden zu wollen, aber das Gespräch hat sich so zugetragen. Die Sache mit der Standpauke und “Da musste gar nicht so gucken!” hab ich auch selbst erlebt.
Alles weitere ergibt sich aus meiner Überzeugung, dass Bernhard mir irgendwo ähnlich war in seiner Auffassung von Spaß und Vergnügen und in seiner Weltsicht. Vielleicht kam angesichts seines Alters bereits die Midlife Crisis dazu, ich weiß nicht, aber ich käme nicht so schnell auf die Idee, mir das Leben zu nehmen. Ich bin nämlich das Schaf.
So mancher Sachverständige könnte sich an meiner Darstellung der Agentur für Arbeit stören. Das ist doch alles ganz anders, könnte da einer sagen. Ja, ich streite nicht ab, dass das alles möglicherweise ganz anders ist, aber es kam mir darauf an, darzustellen, wie Otto Normaldosenbiertrinker das System sieht. Ich habe auch hier eine stabile Grundlage von Arbeitslosen und Hartz-IV-Empfängern in meinem weiteren Umfeld, die sich bevormundet und herumgeschubst, und generell als Bürger dritter Klasse vom System verarscht fühlen. Ich habe deswegen zumindest versucht, darauf zu achten, dass all das, was da über diese Institution gesagt wird, als subjektive Gedanken des unglücklichen Protagonisten zu erkennen ist, damit es eben nicht als allgemein gültig und wahr aufgefasst werden kann.
An der Form der Präsentation wurde bemängelt, dass der episodische Stil verwirrend sei. Ich hätte auch gern die Szenenwechsel durch einen größeren Abstand zum vorherigen Abschnitt markiert, aber an dieser Stelle ist die Technik gegen mich. Ich kann zwischen zwei Abschnitten tausendmal die Eingabetaste drücken, aber die Eingabemaske wird alle bis auf die erste Eingabe ignorieren. Ich habe mir auch überlegt, eine Zeile mit einem Punkt einzufügen, um so die Abstände künstlich zu vergrößern, aber das sah nicht gut aus. Ich gebe allerdings zu, dass ich die Eingabe mehrerer Freizeilen über das HTML Eingabefenster noch nicht versucht habe… vielleicht geht das ja.
(…)
Nein, das geht auch nicht. Vielleicht mach ich ja was falsch.
Der Text ist sehr schnell entstanden… innerhalb von acht Stunden an einem Abend. Natürlich wurden in der Folgezeit noch ein paar Änderungen, Kürzungen, und Erweiterungen vorgenommen, im Rahmen von vielleicht 200 Wörtern (es sind insgesamt etwa 6600), aber die Geschichte war prinzipiell nach einer “Arbeitssitzung” präsentierfähig. Ich würde das durchaus schnell nennen… und wenn sie es schafft, den Leser emotional zu berühren, und nicht einfach als irgendeine Erzählung in der Tradition des “Werther” vielleicht gelesen zu werden, dann habe ich ein bedeutendes Ziel erreicht – für Bernhard ebenso wie für mich.
Ein paar Tage später kam sie noch einmal durch seine Tür. Abgesehen von einer knappen Begrüßung sagte keiner etwas. Sie packte die Sachen zusammen, die sie bei ihm gelassen hatte. Während der zehn Minuten sah er sich die Seite monster.de an, aber es war ihm selbst klar, dass das nur ein Alibi war, eine bedeutungslose Demonstration guten Willens, der nicht wirklich vorhanden war.
„Ich gehe dann…“ sagte sie schließlich.
Er nickte und hob die Hand zum Abschied: „Mach’s gut,“ sagte er müde.
Sie sah ihn zwei, drei Sekunden lang an. „Du auch,“ sagte sie sanft. Sonst hatte er nichts zu sagen, zumindest nichts, was ihm in diesem Moment auch über die Lippen gekommen wäre. Die Tür fiel hinter ihr sanft ins Schloss, aber er spürte das Geräusch bis tief in sein Gehirn, so bewusst hatte er schon lange nicht mehr einen für gewöhnlich so nebenläufigen Reiz wahrgenommen. Regen klatschte ans Fenster und der Himmel war so grau, wie er sich in diesem Moment fühlte.
Der Schock saß tief und rüttelte an seiner Lethargie. Er schrieb wieder eine Reihe von Bewerbungen und kurz nach dem zweiten Advent erhielt er sogar eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch in einer etwas weiter nördlich gelegenen Stadt. Es war nichts bedeutendes, aber immerhin ging es dabei um eine Festanstellung in einer Personalabteilung. Er würde kein großes Licht sein, aber es war ein richtiger Job, kein verschissenes, unbezahltes Praktikum oder so ein Ein-Euro-Mist, und von einer vorläufigen Beschränkung auf ein paar Monate war auch nicht die Rede. S. fühlte sich so glücklich, dass er sich auf der Stelle hätte betrinken können, und Wein hatte er immer in ausreichender Menge im Haus, aber er rief sich zur Mäßigung, denn schließlich hatte er den Job ja noch nicht. Wenn das alles klappte, dann, ja dann, würde er feiern, und zwar so, dass es rauschte. Bei einem Freund hatte er vor einiger Zeit einen guten Jahrgang im Keller gesehen, den würde er sich von ihm zur Feier des Tages spendieren lassen, dachte er mit einem diebischen Grinsen im Gesicht. Aber natürlich würde er das nicht tun, ohne etwas ebenbürtiges beizusteuern. Oh ja, und dann würde er Blumen besorgen, sich bei seiner Freundin entschuldigen, und sie bitten, zu ihm zurückzukehren.
Er konnte die Tage bis zu dem Termin kaum abwarten, er fühlte sich wie ein Tiger in einem viel zu kleinen Käfig, also ging er spazieren, machte Fotos, brachte seinen Anzug in die Reinigung, für alle Fälle, nahm an einem Adventskonzert teil, das er in seinem Blog ankündigte, machte noch mehr Fotos, ging zum Frisör, und sprang am betreffenden Morgen förmlich aus dem Bett, eine Viertelstunde, bevor der Wecker klingelte, und eine knappe Viertelstunde, nachdem er aufgewacht war. Alles musste sitzen. So ausgiebig wie heute hatte er sich wahrscheinlich noch nie rasiert, zumindest kam es ihm so vor, ohne sich zu schneiden, aber immerhin so gründlich, dass als nächstes die tieferen Hautschichten an der Reihe gewesen wären. Rasierwasser drauf – aber dezent, denn übertriebener Wohlgeruch konnte ebenso abschreckend wirken. Seine Fingernägel wurden gleichmäßig kurz gefeilt und die Ränder sauber entfernt. Beim Frühstück las er noch einmal das Firmenprofil durch, bestimmt zum sechsten Mal in den letzten drei Tagen, und versuchte, sich auch die letzten Details einzuprägen. Dann band er sich peinlich exakt seine Krawatte, zog seinen Anzug an, bearbeitete die Oberfläche mit einer Fusselbürste, polierte seine Schuhe, und stieg schließlich in seinen uralten Kleinwagen, wobei er nicht vergaß, die Fusselbürste zur Anwendung nach dem Aussteigen auf den Beifahrersitz zu legen.
S. konnte nicht anders, als mit offenem Mund da zu sitzen, gegenüber der Frau Ende Vierzig mit den blondierten Haaren und dem übertrieben professionellen Gesichtsausdruck, die ihn zu bewerten hatte. Sie war die Personalchefin, und in ihrer Abteilung war die Stelle zu haben, für die er sich beworben hatte.
„Verstehen Sie mich nicht falsch, Herr S., ihre Qualifikation ist angemessen, aber… ich weiß nicht… irgendwie komme ich nicht mit ihnen klar, wir beide passen einfach nicht zueinander. Wenn es um eine andere Abteilung ginge, könnte ich voll objektiv sein, aber, bitte verstehen Sie, es geht um meine Abteilung, und ich lege großen Wert auf ein gutes Verhältnis zu meinen Mitarbeitern. Ich kann nicht konkret sagen, was mich an Ihnen stört… irgendwie stimmt die Chemie zwischen uns nicht. Es tut mir leid, dass ich Sie daher ablehnen muss.“
S. traute seinen Ohren nicht, aber er hörte sich „Ich verstehe… haben Sie vielen Dank für Ihre Zeit“ sagen. Auf dem Weg nach draußen überkam ihn irgendwie das Gefühl, in eine Klapsmühle geraten zu sein, die auf der San-Andreas-Spalte gebaut worden war, und auf dem Weg zu seinem Auto konnte er nicht anders, als mal lauter und mal leiser zu lachen und dabei eben gehörte Satzfetzen zu rezitieren, über die er dann wieder lachen musste. „Wir passen einfach nicht zueinander… die Chemie zwischen uns stimmt nicht…“ Hatte er sie etwa gefragt, ob sie ihn heiraten würde, ohne, dass er es bemerkt hatte? „Hört, hört! Ich bin ein schlechter Chemiker!“ sagte er feierlich, mit einem Gesicht wie ein Clown, der eine ernste Rolle spielen soll, untermalt von einer ebenso feierlichen Handbewegung, bevor er dann mit einem halbleisen Lachen den Zündschlüssel drehte.
Er fuhr los, Richtung Autobahn. Die ganze Situation kam ihm surreal vor. Wie aus einer Art von Komödie. Er konnte auch nicht anders, als immer wieder zu kichern, den Kopf zu schütteln, und zu denken: „Das kann ja wohl nicht sein…“
Er fuhr nicht direkt nach Hause. Stattdessen wechselte er kurz vor der Autobahnauffahrt spontan auf die nächste Landstraße und fuhr ziellos in der Gegend herum, bis er am frühen Nachmittag in irgendeinem Dorf anhielt, um in einem Restaurant zu Mittag zu essen. Er war auch drauf und dran, den Kellner zu fragen, was das Labor denn heute erlesenes anzubieten hätte, aber er ließ es und bestellte Kalbsmedaillons in Pfeffersoße. Aber das brachte ihn auch nicht auf andere Gedanken. Die wenigen anderen Gäste sahen mehr oder minder auffällig zu ihm herüber, wenn er ein Kichern nicht unterdrücken konnte. Sie mussten ihn für komplett plemplem halten. Aber das störte ihn in diesem Moment nicht. An einer lokalen Tankstelle füllte er zehn Liter Sprit in seinen Tank und fuhr weiter. Einfach drauflos, aber grob Richtung Süden. Hier und da hielt er an, betrachtete die Landschaft und wünschte sich seine Kamera zur Hand.
Als die Sonne sich am späten Nachmittag dem Horizont näherte, war er wieder auf der Autobahn in Richtung Heimat. Drei oder vier Kilometer vor dem Autobahnkreuz gelangte er auf eine Brücke, und aus irgendeinem Grund erinnerte er sich an ein Detail, das ihm aus einem ebenso unklaren Grund auf der Hinfahrt aufgefallen war – jemand hatte scheinbar vergessen, eine Tür in der Lärmschutzwand der Brücke zu schließen. Er wechselte auf den Seitenstreifen, schaltete den Warnblinker an und stoppte den Wagen. Der Feierabendverkehr war noch nicht angerollt, und die wenigen Wagen, die unterwegs waren, fuhren an ihm vorbei, ohne Notiz zu nehmen. S. sah kurz nach links und rechts, bevor er auffällig unauffällig durch die Öffnung schlüpfte, die zu einem mit einem Geländer gesicherten Steg führte, der wohl Instandhaltungszwecken der nicht niedrigen Brücke diente. Bunte Graffitis zierten die Außenseite der Lärmschutzwand, also kam man entweder noch auf anderem Wege hier hoch, oder es wurde öfter vergessen, die Tür zu schließen. Er besah sich die hügelige Landschaft, deren winterliches, aber schneeloses Braun und Grün von der untergehenden Sonne in ein etwas angenehmeres Licht getaucht wurde. Unweit von seinem Standpunkt konnte er auch die Ortschaft betrachten, zu deren Schutz die bunt gefärbte Wand hinter ihm angebracht worden war. Die hellen Farben der Häuser tendierten allesamt in Richtung Grau, und auch der Sonnenuntergang änderte daran nichts, es wirkte schlicht dreckig. Er setzte sich auf das Geländer und betrachtete erneut die Wand. Allerlei Obszönitäten und Bedeutungslosigkeiten waren darauf verzeichnet, mit „TMK“ hatte der Künstler wahrscheinlich seine Initialen verewigt, und „Fuck you!“ drückte wohl eine generelle Unzufriedenheit des Autors mit seinem Leben aus.
„Ist doch alles für’n Arsch…“ sagte S. und ließ sich nach hinten fallen.
Epilog 1
Ein schon ziemlich betagter Herr im rot-weiß karierten Hemd, mit grünem Hut und braunen Bundhosen aus Cord, unter denen er armeegrüne hohe Wollsocken trug, kam in Spaziergeschwindigkeit den Feldweg zwischen den eingezäunten Wiesen herunter, einige Meter vor ihm ein ebenfalls nicht mehr allzu junger Dackel, der, von einem Elektrozaun zurückgehalten, am Wegrand stehen blieb und wie gebannt das keine fünf Meter von ihm entfernt stehende kraushaarige Huftier anstarrte. Das Schaf, wie auch seine Artgenossen, ignorierte das Mensch-Hund-Gespann allerdings beflissentlich. Das Objekt dackeliger Neugier starrte stattdessen mit gleichgültigem Blick auf das durch eine niedrige Mauer eingefasste Areal ein paar Meter weiter, das es wegen seiner relativ höheren Lage einsehen konnte. Es wusste nicht, warum dort 150 Menschen mit ernsten Gesichtern dabei zusahen, wie eine kleine Kiste in ein kaum größeres Loch versenkt wurde. „Stückwerk ist unsere Erkenntnis, und Stückwerk unser Tun. Du hast keinen Abschiedsbrief hinterlassen, und so wissen wir nicht, was Dich letztendlich zu Deinem letzten Schritt getrieben hat,“ sagte ein ebenfalls in Schwarz gekleideter Mann am Kopfende der Versammlung. Es interessierte sich mehr für die weitere Füllung seines Magens und wusste instinktiv, dass die Sonne bald hinter dem Horizont verschwinden würde, wie sie das in regelmäßigen Abständen tat. Es würde dunkel werden. Der Gedanke an Dunkelheit war schauderhaft, denn wer konnte schon sagen, was in der Dunkelheit so alles lauerte? Aber so wenig sein Schafskopf von dieser Welt verstand, eines war ihm sonnenklar: Dass die Sonne nach einiger Zeit am Horizont auf der anderen Seite wieder erscheinen, und dass es immer ein Morgen geben würde.
Epilog 2
R. saß am Esstisch, seinem älteren Sohn gegenüber, der nervös seine halbvolle Kaffeetasse schwenkte. R. schnaufte missmutig durch seinen noch roten Schnauzbart und schaute in seine eigene Kaffeetasse, die allerdings schon leer war. „So isses halt…“ sagte er.
„Dann denk bitte daran, dass Deinen Söhnen was an Dir liegt.“
„Das weiß ich doch… aber was soll ich machen? Ich sage ja nicht, dass ich mir irgendwas antue… ich sage ja nur, wenn mich morgen einer auf der Straße überfährt… es wär’ mir scheißegal.“ Er füllte seine Tasse erneut.
Der Sohn betrachtete seinen Vater. Der hatte bisher immer noch einen Ausweg gefunden, sich irgendwie immer einen neuen Job besorgt. Aber diesmal schien es damit aus zu sein. Wer stellte einen 55 Jahre alten Mann noch ein, als Fahrer oder als egal was?
„Es war einfach zu viel… als der Typ vor meinem LKW gelandet ist… da kam ich noch mit klar, ich dachte, es würd’ reichen, ne Nacht drüber zu schlafen… weißt Du, man schiebt es irgendwohin ins Unterbewusstsein und macht weiter… aber als ich dann am Tag drauf die blutige Polizeidecke am Straßenrand gesehen habe… ich weiß nicht mehr, wie ich zu meiner Therapeutin gekommen bin…“
Der Sohn nickte stumm. Er hatte es ja grade eben schon einmal gehört, nur ausführlicher. Nach einem halben Jahr Therapie in einem Sanatorium hatte man dem Vater zwar Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen angeboten, aber der Körper litt unter dem geistigen Zustand. Kleine Anstrengungen belasteten seinen Kreislauf bereits ungewöhnlich stark, sein Hausarzt warnte vor einem Herzinfarkt, auch mit Hinweis auf die 20 Zigaretten und die zwei Liter Kaffee, die der Vater in den vergangenen 40 Jahren am Tag konsumiert hatte. Mehr als zehn Kilo durfte er gar nicht mehr anheben. De facto bedeutete das Arbeitsunfähigkeit, Frührente, von der er nicht ohne Zuschüsse vom Sozialamt würde leben können, wenn man bedachte, dass er in den vergangenen 15 Jahren nur sporadisch Arbeit gehabt hatte. Immerhin hatte er mit seinem Vermieter ausgehandelt, dass er etwas weniger Miete zahlen musste. Mittlerweile hatte er seinen Kaffeekonsum auf zwei oder drei Tassen, und die Zigaretten auf drei oder vier am Tag reduziert, sagte aber, er könne nicht einfach so aufhören. Außerdem sei es ihm egal, welche Folgen das haben könne. „Mir ist das alles scheißegal…“ sagte er langsam, trank einen Schluck Kaffee, zog an seiner Zigarette, und schaute gedankenverloren durch den Raum zur Balkontür hinaus.
—–
Für Bernhard
(15. Juli 1963 – 17. Dezember 2007)
den wir alle vermissen,
und für alle die, die wir nicht vermissen wollen.
Mit einem lauten, wenn auch leicht gedämpften Aufprall landete der große Wasserkocher der Station auf dem Fliesenboden in der Küche des Pflegeheims, und 20 Liter heißes Wasser verteilten sich dampfend im Raum. Der Altenpflegehelfer zog eine Augenbraue hoch und lächelte süffisant, drei Sekunden später stand der Altenpfleger in der Tür. Die betreten dreinblickende Gestalt, die verlegen das zerstörte Thermostat begutachtete und aus kniender Position zu ihm aufsah, sagte ihm alles, und selbst wenn er sich nicht sicher gewesen wäre, hätte ihm der Blick seines nächsten Untergebenen den Schuldigen des Vorfalls sofort verraten.
„Herr S.! Passen Sie doch besser auf! Jetzt muss das Wasser neu gekocht werden und das Frühstück unserer Patienten verzögert sich… hat Ihnen das Geschirr letzten Monat noch nicht gereicht? Jetzt sehen Sie mich bitte nicht so an!“
S. wusste aber nicht, wie er gerade guckte. Der Altenpfleger war wohl der Meinung, er sehe ihn komisch an, weil ihn die Standpauke nervte. Dabei war S. gerade dabei, sich selbst, im Geiste, in den Hintern zu treten, dabei machte man wohl auch so ein Gesicht. Aber nur wenige Leute hatten Verständnis dafür, dass man mit sich selbst nicht weniger kritisch umging, als mit anderen Leuten. Der Altenpfleger seufzte genervt und verschwand wieder.
„Es ist ja nichts Schlimmes passiert… der Kübel ist ersetzbar,“ sagte der Altenpflegerhelfer.
Ja, das Dumme ist aber: Ich bin es auch. Das sagte S. aber nicht. Er dachte es nur.
„Na komm, ich hol den Ersatz aus’m Lager, hol Du Lappen und Kehrblech…“ sagte der Altenpflegerhelfer und lächelte weiter, während er den Lagerschlüssel aus der Schublade nahm.
Soll er nur lächeln, dachte S., und wusste sehr gut, warum der so lächelte. Für den Fall, dass er in Ungnade fiel, würde er, S., seinen Job problemlos übernehmen können, und seinen eigenen potentiellen Nachfolger einzuweisen war wohl eine Aufgabe, die niemand mochte. Aber selbst, wenn S. den nächst höheren Job gewollt hätte, Festeinstellung hin oder her, sah er in letzter Zeit seine Chancen immer mehr schwinden, eine längere Anstellung zu erhalten. Die brauchten keine Leute, die Sachen kaputt machten, und der Personalchef machte seine Entscheidung natürlich von der Aussage des Altenpflegers abhängig, von dem S. wusste, dass er ihn nicht leiden konnte. Dass er den Bewohnern mit echter Sympathie entgegentrat, während der Altenpfleger und der Altenpflegehelfer die ihnen anvertrauten Leute wie Lagerposten verwalteten, anstatt sie als individuelle Menschen zu betrachten, spielte keine Rolle. Sie machten die von Ihnen erwartete Arbeit richtig. Technisch zumindest. Der Altenpflegehelfer beendete seine Lehrgänge sogar für gewöhnlich als Seminarsbester und würde zweifelsfrei irgendwann in eine leitende Position aufsteigen. Eine Beurteilung der Persönlichkeit war ja in keinem Test vorgesehen.
Am folgenden Morgen wachte er auf und es wurde ihm speiübel, wenn er nur daran dachte, in dieses verdammte Haus voller Arschlöcher zu gehen, um wieder zwischen Kaffeekochen, dem Wechseln genässter Bettwäsche, und Bäder putzen hin und her zu wechseln. Beim Frühstück sah er aus dem Fenster. Der ganze Sommer war völlig verregnet gewesen, aber auch auf dem Kalender ging der Sommer so langsam zu Ende. Die Bewerbungen, die er geschrieben hatte, waren zum größten Teil unbeantwortet geblieben, bei den restlichen hatte man ihm immerhin mitgeteilt, dass man ihn abgelehnt hatte. Bis auf eine. Da war er sogar bis zum Vorstellungsgespräch gekommen. Aber der Interviewer hatte kein bisschen Humor, hatte nicht einmal bei der Begrüßung gelächelt, wie man das als höflicher Mensch doch macht, und schien mehr auf unpersönliche, roboterhafte Effizienz und formale Dinge bedacht zu sein, als darauf, einen motivierten und eloquenten Mitarbeiter zu bekommen, der auch in der Lage war, gute Laune zu verbreiten. Als S. dann seine Jacke anzog, um die Wohnung zu verlassen, bekam er dermaßen heftige Kopfschmerzen, dass er sofort zum Arzt ging. Wieder wurde er eine Woche krank geschrieben.
Es kam etwa so, wie er erwartet hatte. Bereits Ende August teilte man ihm mit, dass man seinen Vertrag über Ende Oktober hinaus nicht verlängern würde. S. fühlte sich in ein Loch fallen und machte sich verbittert ein Bild von der beschönigenden Praxis der Arbeitsvermittlung. Sie geben Dir ein Praktikum, und der Arbeitgeber freut sich, denn die Kosten trägt komplett der Staat. Dann geben sie Dir einen Sechsmonatsvertrag, und der Arbeitgeber hat immer noch eine spottbillige Arbeitskraft, weil er einen Euro pro Stunde und keinerlei Sozialabgaben zahlt, und der Rest kommt immer noch vom Staat. Aber wenn es dann um Übernahme, um Festanstellung geht, also darum, dass der Arbeitgeber die Bezahlung der Arbeitskraft komplett übernehmen soll, dann wird der Vertrag nicht mehr verlängert und die Firma sucht sich lieber einen neuen Idioten, den man innerhalb von fünf Arbeitstagen locker in den vakanten Idiotenjob einarbeiten kann. Wen interessiert da die Motivation und die Befähigung dessen, über dessen Arbeitsplatz da geredet wird? Und dann reden sie groß daher, dass man die sinkende Zahl der offiziellen Wehrdienstverweigerer ausgleichen müsse, und dass eine vollständige Professionalisierung eine Preisexplosion im Pflegebereich bedeuten würde. Und davon will ja keiner reden, angesichts des steigenden Durchschnittsalters der Bevölkerung, das Problem schweigen wir lieber tot und ignorieren die Praktiken der Betriebe. Aber unmoralisches Verhalten ist ja nicht strafbar. Die Pille ist eine – vielleicht sogar die – Wurzel des Übels, dachte er abschweifend. Nein, sie ist nur eine Folgeerscheinung. Bequemlichkeit ist das Hauptübel dieser Welt, um Akif Pirinccis Kater zu zitieren. Früher verbrachte man eine Nacht zusammen, und schon war ein Kind unterwegs. Die Leute zwangen sich mit ihrer Geilheit selbst in die Verantwortung. Aber heute reden alle von individueller Freiheit, und wie toll das doch ist, ohne zu sehen, wie man damit die Fundamente der Gesellschaft untergräbt. Wer übernimmt denn freiwillig Verantwortung? Die wenigsten doch, oder? Da helfen auch finanzielle Anreize vom Staat wenig. Und gegen Leichtsinn schmeißt man mal schnell ne Pille ein – Party on, Wayne! Ergebnis: Bevölkerung rückläufig, Sozialsysteme am Arsch. S. fühlte sich flau im Magen und legte sich den Nachmittag über aufs Ohr, bevor er am Abend wieder Jobangebote im Internet aufrief und nach etwas Passendem suchte.
Wiederholte Fehlschläge ließen ihn seine Präferenzen aufweichen und er begann verstärkt, sich für alle möglichen Jobs im weitesten Bereich seiner Qualifikation und Interessen zu bewerben, aber ebenfalls ohne Erfolg. Die Arbeitsagentur ihrerseits schien dieses Jahr nicht einmal eine andere Art von Hilfsassistentenbilligjob anbieten zu können. Vielleicht betrachteten sie mich schon als hoffnungslosen Fall, dachte er bei sich. Zu lange auf der Uni, Leute, die da zu lang bleiben, gelten als faul und verantwortungsscheu, realitätsfern, Bewohner eines Wolkenkuckucksheims, wo man mindestens den halben Tag rumhängen und jedes Wochenende auf Partys gehen kann. Dabei war es doch so einfach nicht. Aber das verteidigende Argument, dass ein bedeutender Teil der Studierenden unter stressbedingten Depressionen litt, und er gehörte nun mal dazu, konnte er nicht vorbringen. Wenn Sie das bisschen Uni, die paar Jahre, nicht aushalten, wie wollen Sie sich in einem Betrieb halten, wo vierzig Stunden die Woche Leistung gefordert wird, über Jahrzehnte, würde man ihn fragen. Was sollte er auch sagen? Der Angestellte XY arbeitet wohl 40 Stunden die Woche, aber wenn er nach Hause kommt, kann er die Tür hinter sich zumachen und die Arbeit bleibt draußen, Feierabend. Der Student steht 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche in der Verantwortung. Er geht in Seminare und Tutorien und hat dort Leistung zu bringen, und mit einiger Wahrscheinlichkeit muss er mit einem Nebenjob 20 Stunden pro Woche für seinen Lebensunterhalt sorgen. Dann kommt er nach Hause und auf dem Schreibtisch liegt immer noch mehr Arbeit, Nachbereitungen und Vorbereitungen. Aber Personalchefs schienen das nicht zu wissen oder vergessen zu haben, und überhaupt waren das keine Menschen, die viel von Diskussionen hielten.
Die vielen Absagen machten ihm zu schaffen, und die vielen Male, die man sein Anschreiben ignoriert hatte, belasteten ihn noch mehr. Nach hunderten von Bewerbungsversuchen sah er sich völlig entmutigt, und im Laufe der Wochen ging die Frequenz seiner Bewerbungen immer weiter zurück, etwa im gleichen Maße, wie ihm die Ideen ausgingen, für was seine Qualifikation (und sein dehnbares Interesse) noch geeignet sein könnte. Als besonders verletzend empfand er die immer gleiche Stellenanzeige einer Firma, die ihn bereits mehrfach abgelehnt hatte, aber seit einem Jahr alle paar Wochen die gleiche Stelle ausschrieb. Man hatte ihm die Absage zwar immer höflich mitgeteilt, aber auch nie ein Wort über eine Begründung verloren, ob er denn zu alt, zu unerfahren, überqualifiziert oder unterqualifiziert oder was auch immer sei.
Er verbrachte seine Tage zunehmend auf seiner Couch und las Magazine wie GEO oder National Geographic, oder tat ähnliches im Internet, und wenn das Wetter gut war, ging er auch mal nach draußen und machte ein paar Fotos von der Landschaft. Aber im Allgemeinen war sein Leben derzeit ein zielloses Dahindämmern von einem Tag zum anderen. Er ging Abends ins Bett mit dem Bewusstsein, einen weiteren Tag seines Lebens verschwendet zu haben, und jeden Abend sagte er sich, dass er morgen wieder etwas Sinnvolles tun würde, also Webseiten mit Jobangeboten aufsuchen und Bewerbungen schreiben zum Beispiel, oder in die Stadt gehen und in Geschäften zu fragen, ob man vielleicht eine Aushilfe brauche. Aber dann stand er morgens auf, fühlte sich zu nichts motiviert, setzte sich an seinen Computer, las neue E-Mails, ging dann zu den Seiten von Spiegel und ZEIT über, las Kurzmeldungen der DPA, schaute in Blogs hinein, die er wegen ihres interessanten Inhalts gespeichert hatte.
Es funktionierte aber nicht. Er war zu intelligent, um sich auf diese Art und Weise selbst zu belügen. Gut, er wusste nicht, inwiefern seine Umwelt davon Notiz nahm, aber er war in der Lage, vor sich selbst zu analysieren, warum er den Tag über die Dinge tat, die er tat. Es hätte sein Gewissen zu sehr belastet, sich Filme anzusehen oder Spiele zu spielen. Stattdessen las er Artikel und Zeitschriften, die einen guten Ruf bei der Mehrung von Allgemeinwissen hatten. Seht, ich verschwende meine Zeit nicht, rief er damit nach außen, ich erweitere meinen Horizont, ich stürze mich nicht völlig sinnfrei in die WoW, während ihm im Innern völlig klar war, dass es sich um nichts anderes als Zeitverschwendung und Lethargie handelte. Über einen Vergleich musste er selber lachen: Würde er ein Nintendo DS besitzen, würde er zweifellos über weite Teile des Tages damit beschäftigt sein, „Dr. Kawashimas Gehirntraining“ zu spielen, die aktuell wahrscheinlich fortschrittlichste Form der Ausrede zum Spielen. Unterbrochen wurde seine tägliche Routine nur von seiner Gewohnheit, in einem stadtbekannten Chor zu singen, abgesehen von der Zeit, die er mit seiner Freundin verbrachte und den seltenen Besuchen des Brettspielclubs.
Während dieser Monate spürte er den Drang, sich kreativ schreibend zu betätigen und dachte dabei an ein parodistisches Konzept. Er würde diese Stadt, in der er so lange studiert hatte, ihre Bewohner, und Menschen, die ihm in seiner Umgebung aufgefallen waren, ein wenig auf die Schippe nehmen. Die Stadt sollte dabei ungenannt bleiben, aber Insider würden sie natürlich dennoch erkennen, und auch das sollte Teil des Konzepts sein. Aber ihm widerstrebte die altbackene Idee, ein Printmedium zu verwenden, das heißt, den Text in die Tastatur zu hämmern, ihn auszudrucken und anschließend in der Schublade vor Staub zu bewahren, also bat er einen in entsprechender Position arbeitenden Freund, ihm ein Blog einzurichten. Er würde dann die Geschichte dort Stück für Stück veröffentlichen, und dem Leser die Möglichkeit anbieten, aus zwei Alternativen eine Art von Fortsetzung zu wählen.
Er dachte über einen intelligenten und enigmatischen Titel nach. Für irgendetwas musste er ja schließlich Philosophie studiert haben. Er entschied sich zunächst für „tot“. Aber bald schien ihm das unpassend und er änderte den Titel in „Warum Schafe“. Das war immer noch enigmatisch, und vor allem weniger düster als „tot“. Die wenigsten hätten wohl den grafischen Anspruch des Titels wahrgenommen, denn es ging ja eigentlich nicht um etwas totes. Eigentlich war gedacht, dass der Schriftzug „tot“ durch eine leichte Neigung der Schrift nach „X0X“ aussehen sollte, aber die Technik wollte es anders, also änderte er es.
Leider war das Ergebnis eher mager, soweit es seine Umfrage nach der Fortsetzung betraf. Er hatte einen Termin für die Fortsetzung nach dem ersten Abschnitt gesetzt, aber zur gegebenen Zeit hatten nur zwei Leser aus seinem Freundeskreis ihre Wünsche geäußert, gegenläufige allerdings, und er wollte noch warten, ob nicht noch jemand die Waagschale in eine der angebotenen Richtungen neigen würde. Aber es geschah fünf Monate lang nichts, also entschied er sich für eine der Optionen und verfasste „Folge 2“. Er war allerdings nun völlig desillusioniert, was das Interesse der Außenwelt an seinem Schrifttum betraf (wie war er bloß auf die Idee gekommen, dass sein neues und völlig unbekanntes Blog von Anfang an, ohne populäre Inhalte, wenigstens einige Dutzend Besucher pro Woche anziehen würde?), verzichtete daher auf die ursprüngliche Idee der Interaktivität und beließ es bei einer Fortsetzung von wenigen, vielleicht fünf, Zeilen, die ihm jeweils passend erschienen. Im folgenden Monat veröffentlichte er „Folge 3“, und zwei Tage darauf „Folge 4“.
Nicht jeder in seinem Umfeld teilte seine Ansichten. Und das waren weniger die Leute im Chor und in der Spielrunde, denen er von seinen Problemen nichts erzählte, zumindest nicht genug, um mehr als Vermutungen zuzulassen jedenfalls, und spielen war er in den letzten Monaten überhaupt nur noch sehr sporadisch gegangen. Der Hauptbetroffene seiner Melancholie war seine Freundin, die immer wieder den Versuch gemacht hatte, ihn zu ermuntern und zu motivieren, aber mehr als brummig zustimmende und verlegene Kommentare – Worte – waren nicht die Folge gewesen. Mittlerweile befand sie sich selbst in den Vorbereitungen zum Abschluss ihres Studiums und hatte neben ihrem Aushilfsjob jetzt zusätzlich Literaturrecherchen, Sprechstundentermine, und Kolloquiumssitzungen, mit denen sie sich herumschlagen musste. S. spürte, dass sie sich etwas moralischen Rückhalt in dieser stressigen Phase erhoffte, aber er war von einem Gefühl der Nutzlosigkeit und Wertlosigkeit erfüllt, das ihm sagte, dass er nicht auch noch ihren Stress zu schultern in der Lage war, und so pendelte er unter dem Kopfschütteln seiner Freundin weiter zwischen Schreibtisch und Sofa hin und her. Hoffnung war ihm zu einem Fremdwort geworden.
An einem kühlen Herbstwochenende kam sie wieder zu ihm und klingelte an der Tür. Er begrüßte sie gut gelaunt, ein kurzer Kuss zur Begrüßung, dann ließ er sich wieder auf der Couch nieder, während sie Jacke und Schuhe auszog, und fragte, wie es ihr denn so ginge. Sie starrte auf ihn hinunter.
„Das müsste ich eigentlich Dich fragen.“
„Wieso denn dieses?“
„Hast Du Dich in der letzten Zeit mal irgendwo beworben?“
Er spürte den Stich in seinem Inneren.
„Ich war doch letztlich in der Stadt, um nach Aushilfsjobs zu suchen…“
„Das war vor zwei Monaten!“ Sie seufzte resignierend, konnte aber ihren Unmut nicht verbergen. „Erwartest Du, dass Dir ein Job zufliegt? Dass der Headhunter an der Tür klopft und sagt: Wir wollen Sie!? In welcher Welt lebst Du eigentlich?“
S. fühlte, dass er angegriffen wurde, und zwar an seinem verwundbarsten Punkt. Aber er wusste auch, dass ein Gegenangriff sinnfrei war. Sie hatte Recht. Ein Konter hätte nur seinen kindischen Trotz offenbart. Er setzte sich auf und starrte konzentriert auf den grauen Bodenbelag, auf dem noch ein paar Krümel seiner Pizza von gestern Abend herumlagen. Er würde es nicht schaffen, ihr in diesem Moment in die Augen zu sehen, dafür plagte ihn sein schlechtes Gewissen zu sehr.
„Ich habe es doch versucht… immer wieder und wieder… keiner will mich haben… das ist doch alles völlig sinnlos…“ sagte er leise, was er dachte.
„Und auf der Couch sitzen, im Netz surfen und philosophische Ansichten über Schafe zu schreiben, die keiner liest, ist sinnvoller?“ Er spürte den zweiten Stich, und er tat noch mehr weh, als der erste. Seine Geschichte bedeutete ihm viel. Nicht, weil er sich einen großen Erfolg davon erhoffte, sondern weil sie ihm als die letzte Art von Arbeit erschien, für die er sich selbst geeignet erschien. Jenseits dieses Strohhalms lag der Abgrund, eine schwarze Tiefe, von der er nicht wusste, ob er jemals wieder den Weg heraus finden würde.
„Was soll ich denn machen?“ fragte er.
„Du könntest aufhören, Dich selbst zu bemitleiden! Aber ich könnte ja ebenso gut mit der Wand reden… seit fast einem Jahr sage ich Dir immer wieder, was Du machen kannst, um aus der Krise raus zu kommen, aber Du kannst Dich ja zu nichts aufraffen!“ S. saß da wie ein Häufchen Elend, und wenn er nicht so sehr auf den Boden gestarrt hätte, wären ihm die Tränen aufgefallen, die ihr in den Augen standen.
„Ich… ich kann nicht mehr! Es geht so nicht weiter… ich hab doch selbst grad genug um die Ohren… was soll ich mit jemandem, der sich völlig aufgegeben hat? Ich hab nicht die Nerven für so was…“ Sie schlüpfte hastig wieder in ihre Schuhe, nahm die Jacke vom Haken und verschwand durch die Eingangstür. S. saß unverändert auf der Couch, starrte auf den Fußboden und erkannte, dass er vor lauter Klammern an seinen Strohhalm das Seil übersehen hatte, das die ganze Zeit über griffbereit an seiner Seite gewesen war. Außerdem rettete ihn der Strohhalm gar nicht vor dem Abgrund. Er lag längst drin.
Er war auf dem Weg, und er sah nicht zurück. Es wäre auch sinnlos gewesen. Der Wind strich beschleunigt über sein Gesicht und an seinem Körper entlang und er sah die untergehende Sonne aufsteigen, immer höher, aber er fühlte Frieden in sich, mit sich und der Welt, ein Gefühl, das er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Sein Vater kam ihm in den Sinn, die Opfer, die er ihm abverlangt hatte, und seine Mutter, deren Schmerzen bei seiner Geburt er gerade entehrte. Und plötzlich Dunkelheit.
„Herr S.! Wie schön, Sie mal wieder hier bei mir zu sehen,“ sagte der Professor. „Sie wollen also tatsächlich ihre Magisterarbeit schreiben? Kann ich gut verstehen, die goldenen Tage sind ja vorbei… und die anstehenden Gebühren sind nicht jedermanns Gefallen. Ihrer Mitteilung habe ich entnommen, ihnen schwebt eine Abhandlung über…“ er warf einen Blick auf seinen Bildschirm, „ah: Betriebsklima, Mitarbeitermotivation und präventive Bekämpfung von Mobbing vor?“
„Ja, allerdings bin ich mir bei der Mitarbeitermotivation noch nicht ganz sicher. Die Quellensituation ist nicht so, wie ich das gerne hätte. Es gibt eine Menge Ratgeber, aber die wenigsten bauen auf betriebspsychologischen Forschungen auf, eher auf gesundem Menschenverstand, und ich möchte in Richtung einer Firmenphilosophie gehen, die den Mitarbeiter auch bewegt, anstatt dass er sie nur als tote Tinte auf der Visitenkarte mit sich herumträgt…“
„Interessant, ja, warum nicht. Setzen Sie sich dran und zeigen Sie mir regelmäßig ihre Zwischenergebnisse, dann besprechen wir die gemeinsam. Das kriegen wir schon hin. Mit Ihrer Erfahrung müsste das doch ganz flott gehen… immerhin sind Sie schon ein gutes Stück länger in der Abteilung als ich.“ Der Professor lachte über seine durchaus nicht böse gemeinte Bemerkung; S. biss sich auf die Unterlippe und sein Blick sank auf die Tischplatte. Pressholz mit weißem Plastiküberzug. Er sah auf und lächelte.
„Ja, dann packen wir’s an, nicht wahr…“
Er verließ das Gebäude und stapfte in Gedanken versunken nach Hause. Es regnete eiskalt vom Himmel und der Blick auf das Datum sagte, dass es nicht mehr allzu viele Wochen bis Weihnachten waren.
S. feierte seinen Abschluss. Das hatte er auch verdient. Seine Endnote lag bei Eins-Komma-viel, aber immerhin noch unter Zwei. Ein guter Abschluss. Damit sollte doch was anzufangen sein. Ein Freund, der am anderen Tischende saß, füllte sein Glas erneut mit Sekt und prostete ihm fröhlich zu. S. erwiderte die Geste lächelnd und trank sein Glas aus.
Die kleine Party hielt sich noch bis halb Eins, dann ging die letzte der acht Gäste nach Hause. Er hatte sie im vergangenen Herbst kennen gelernt, als sie Neumitglied seines Brettspielclubs geworden war. Sie war etwa 20 Jahre jünger als er, aber wen wunderte das in der gegebenen Situation. Sie war keine Schönheit, und die komische rotgeränderte Brille, die auf ihrer Nase saß, trug nicht eben positiv zu ihrem Äußeren bei. Aber sie hatte Humor, war nett und intelligent, und wenn schon nicht schön, dann aber doch hübsch. Zumindest in seinen Augen, die immer ein kleinwenig zu ihren aufschauen mussten, wenn sie sich gegenüberstanden, und allein das zählte. Sie beugte sich zu ihm, gab ihm einen Schmatz und zwickte ihn frech, aber liebevoll, in seinen Bauch, den einen „Ansatz“ zu nennen bereits eine höfliche Untertreibung gewesen wäre.
„Ich seh’ Dich dann am Montag Abend, Bärchen. Bis dann!“
Das Wochenende über würde er ausschlafen und am Montag wollte er zur Arbeitsvermittlung gehen. In dem Stress der vergangenen Monate waren Bewerbungsabsichten völlig untergegangen. Außerdem, sagte er sich, habe er ja nicht sicher sein können, ob er die mündlichen Prüfungen auch schaffen würde, und wie würde er denn da stehen, wenn man ihm einen Job anböte und er müsste dann sagen, dass er wegen einer nicht geschafften Prüfung die verlangte Qualifikation nun doch nicht, wie in der Bewerbung angegeben, erfüllte. Nein, alles zu seiner Zeit.
Er öffnete das Fenster, um die verbrauchte Luft im Raum durch frische zu ersetzen. Der sommerliche Geruch gemähter Wiesen stieg ihm in die Nase. Nach all dem Stress, der Ungewissheit und der Melancholie der letzten Monate kam es ihm heute zum ersten Mal seit Jahren wieder so vor, als könne man mit der Welt vielleicht doch etwas anfangen.
Der Wind rauschte in Büschen und Bäumen, warf Werbeaufsteller vor Geschäften um, und trieb ihm eiskalte Regentropfen ins Gesicht, während er, zum wievielten Male wusste er schon nicht mehr, von der Bushaltestelle aus zu dem rotbraunen Ziegelgebäude mit dem großen „A“ darauf hinüberging. Danach saß er missmutig eine Weile im Warteraum, und während er darauf wartete, aufgerufen zu werden, ließ er seinen Blick über die Umgebung gleiten. Das Innere des Baus war schon direkt gediegen, post-modern vielleicht, zu nennen, gemessen an anderen Bürobauten solcher staatlicher Betriebe. Ziegelrote Wände, eine große Innenhalle mit Empfangsschalter, Treppen aus sauberem Stahlbeton. Kein Vergleich zu der städtischen Wohngeldstelle in der Innenstadt, die den Eindruck machte, als sei sie in den Fünfzigern gebaut und seitdem nicht mehr renoviert worden. Nur die dort angebrachte automatische Flügeltür wirkte modern und damit seltsam anachronistisch. Aber wegen ihres fraglichen Gebäudezustandes wirkte die Wohngeldstelle nicht wie ein Kontrast zu der dort wartenden Bittstellerschaft, so wie das hier der Fall war. Ein schick eingerichtetes Gebäude voller müder Gesichter, denen man Stress, Hoffnungslosigkeit, Frust, Depression und oft genug auch übermäßigen Alkoholgenuss nur allzu gut ansah.
„Herr S., guten Tag. Wie geht es Ihnen?“ fragte der Angestellte höflich, ein Herr Mitte Fünfzig mit sich ausbreitender Glatze und Schnauzbart, eine Goldrandbrille auf der Nase.
„Ja, es geht…“ sagte S. ausweichend und betrachtete die Frage als reine Höflichkeitsfloskel.
„Wir haben ein Arbeitsangebot für Sie, das Ihrer Leistungsfähigkeit entspricht…“
„Ja? Um was geht es denn?“
Der Angestellte schob ein paar Seiten Papier herüber, eine Jobbeschreibung und der dazu gehörige Vertrag. S. las die ersten Zeilen, wurde dann immer langsamer und sorgfältiger und traute seinen Augen immer weniger, nach dem, was er gerade über den Job gesagt bekommen hatte.
„Altenpflegerhelferassistent? So einen Beruf gibt es? Und was hat das mit meiner Qualifikation zu tun? Ich habe einen Abschluss in Betriebswirtschaft und Philosophie!“
„Nein, so dürfen Sie das nicht verstehen. Wir erwarten von Ihnen nicht, dass Sie bis zum Antritt Ihres Rentenalters diese Arbeit machen. Aber wenn Sie hier unterschreiben, dann haben Sie den Job auch, dann haben Sie schon mal für sechs Monate was. Sie können finanziell auf eigenen Beinen stehen, und aus dieser finanziellen Sicherheit heraus können Sie sich natürlich für Stellen bewerben, die Ihnen mehr zusagen.“
„Finanzielle Sicherheit? Das ist ein Ein-Euro-Job! Wie kann man da von Sicherheit reden? Ich werde kaum mehr Geld haben als jetzt!“
„Es geht ja nicht nur ums Geld. Es geht auch darum, sich wieder an einen regelmäßigen Rhythmus zu gewöhnen, also morgens um Sieben aufstehen, um Acht auf der Arbeit sein, und so weiter. Das nur als Beispiel. Wenn Sie guten Willen und Lernbereitschaft zeigen, wird man Ihren Vertrag sicherlich verlängern, falls Sie in sechs Monaten nichts besseres gefunden haben. Außerdem haben Sie damit eine neue Qualifikation und auch soziales Engagement im Lebenslauf stehen, das ist doch was wert.“
„Altenpflegerhelferassistent… das heißt, ich stehe in der Rangfolge unterhalb von dem, der dem Altenpfleger den Kaffee kocht und seinen Rollwagen vorbereitet. Ich werde also Besorgungen machen, den Boden wischen und den Hof fegen, Autos waschen und Teekannen nachfüllen… was sagten Sie eben über eine neue Qualifikation?“
Der Mann mit der Goldrandbrille überging diesen Sarkasmus.
„Wenn Sie das Stellenangebot ablehnen, mache ich Sie darauf aufmerksam, dass wir nach Prüfung der Umstände dazu berechtigt sind, Ihre Bezüge zu kürzen…“
„Ja, ich sehe ja ein, dass es besser ist, als nichts…“
Er gab die notwendigen persönlichen Daten an und setzte seine Unterschrift unter den Vertrag.
Ein Lämpchen blinkte im morgendlichen Bereitschaftszimmer. Ein Bewohner hatte den Notfallknopf gedrückt… Herr Z. aus Zimmer 209. Er hatte sich vor einer halben Stunde wegen Verdauungsbeschwerden gemeldet, nachdem ihm seine wohlmeinende Tochter am Tag zuvor einen kleinen Strauß Bananen mitgebracht hatte. Der Altenpflegerhelfer hatte ihm nach Angabe des Arztes daraufhin ein Mittel auf den Nachttisch gestellt. Der Altenpfleger lief los, kam in der 209 an und besah sich, was geschehen war. Dann rief er nach dem Altenpflegerhelfer. Der besah sich ebenfalls, was geschehen war. Mit zerknirschtem Gesicht wandte er sich an Herrn Z., der, um seine Scham zu verbergen, mürrisch auf seinem Bett saß. Aber keiner der Anwesenden verwechselte seine Gesichtsfarbe mit Zornesröte.
„Herr Z., ich habe Sie doch gebeten, das Mittel erst einzunehmen, nachdem Sie auf der Toilette sitzen. Ich sagte doch, dass es schnell wirkt!“
„Ach was! Man hat mir zwar vor zehn Jahren einen halben Meter entfernt, aber mein Darm ist doch immer noch zig Meter lang! Wie sollte ich wissen, dass ich kaum mehr Zeit haben würde, mein Handtuch aus’m Schrank zu nehmen!? Ich dachte gerade, mir explodiert ne Handgranate im Arsch! Zum Glück hatte ich wenigstens die Hosen schon unten!“
„Ich werde mit dem Doktor reden,“ sagte der Altenpfleger und verschwand.
Der Altenpflegerhelfer hob in einer Ohnmachtsgeste die Hände.
„Na gut, dann sehen wir mal zu, dass wir ihre Nasszelle wieder sauber kriegen…“ Er ging in die Küche und traf dort S. an. „Ähm… kannst Du mal grade in der 209 sauber machen, bitte?“
„Was ist denn los?“
„Am besten schaust Du’s Dir selbst an. Nimm Desinfektionsreiniger mit.“
S. konnte riechen, was ihn erwartete, bevor er es sah. Wenn es nur der Geruch allein gewesen wäre, was ihm den Magen umdrehte, wäre es nur halb so schlimm gewesen… aber die optische Präsentation seiner Aufgabe war… belastend. Er sah zu Z. hinüber, der immer noch mit bösem Blick auf seinem Bett saß.
„Machen Se hinne! Ich will duschen,“ sagte der.
„Natürlich, dauert nur einen Moment, Herr Z.,“ sagte S. geduldig und nahm den Duschkopf.
Während er spülte und schrubbte fragte er sich, warum alte Leute oft Macken hatten, die mit ihren Ausscheidungen zusammenhingen. In der 225 wohnte einer, der sein Papier nicht faltete, sondern zu einem Bällchen zerknüllte. Was er mit dreien solcher Bällchen nicht weg kriegte, entfernte er mit den Fingern seiner linken Hand, und wenn ihm danach war, schnippte er diese Reste an die Wand gegenüber. Immerhin entschuldigte er sich nachher bei S., er mache das nicht bewusst und merke das erst, wenn es zu spät sei. Er entferne den Schmutz oft auch selbst, wenn es ihm bewusst werde, bevor es jemand anders sah, und S. war geneigt, ihm zu glauben. Und als nächstes kam ihm seine Diplomarbeit in den Sinn. Jeder Tag, den er länger diese Arbeit machte, machte ihm mehr und mehr klar, dass er einen hoffnungslos idealistischen Unsinn geschrieben hatte. Es gelang ihm immer weniger, die von ihm selbst vorgetragenen Prinzipien in die Realität umzusetzen.
Nach diesem Vorfall reichte er einen einwöchigen Krankenschein ein. Er brachte die Motivation zum Aufstehen am Morgen kaum auf.
Um die Osterzeit spendierte S. seiner Spielrunde zwei Flaschen Wein des bischöflichen Weinguts, und feierte auf diese Art und Weise den Umstand, dass man ihm einen weiteren Sechsmonatsvertrag angeboten hatte. Anderweitige Bewerbungen waren bislang zwar negativ beschieden worden, aber mit einem weiteren halben Jahr im Rücken würde das bestimmt irgendwie klappen. Die Arbeitsmarktlage war doch im Sommer immer günstiger als im Winter, oder? Sogar eine neue Kamera hatte er sich gekauft, eine digitale Spiegelreflexkamera von Canon. Bei einem Besuch bei seinen Eltern hatte er davon gesprochen, und die hatten ihm, schon zu Weihnachten eigentlich, 200 Euro zugeschoben, weil ihm die Kamera so viel zu bedeuten schien. S. machte also pausenlos Schnappschüsse von der Spielrunde, wo man scherzhaft an seinem Verstand zweifelte, und fotografierte hin und wieder seine Spielkarten, um nachher stolz belegen zu können, wie gut er gespielt oder auch beschissen hatte. Irgendwas würde schon werden.
Erinnert sich jemand an den Artikel, den ich über islamisches Blogging geschrieben habe? Mit besonderem Augenmerk auf dem Abschnitt über Mohammed Ali Abtahi muss ich mittlerweile festhalten, dass der Mann letzten Monat zu sechs Jahren Knast wegen Verschwörung gegen die Regierung verurteilt worden ist.
Man hatte ihn wohl im Nachhinein der Unruhen nach den Wahlen im Juni festgenommen, nachdem er in der Öffentlichkeit von Wahlbetrug gesprochen hatte. Das geht noch aus seinem Blog hervor, die Angaben über seine Verurteilung stammen von der englischen Wikipedia.