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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

18. Dezember 2009

Stückwerk ist unsere Erkenntnis, Stückwerk unser Tun… (3/3)

Filed under: Creative Corner,My Life — 42317 @ 18:46

Ein paar Tage später kam sie noch einmal durch seine Tür. Abgesehen von einer knappen Begrüßung sagte keiner etwas. Sie packte die Sachen zusammen, die sie bei ihm gelassen hatte. Während der zehn Minuten sah er sich die Seite monster.de an, aber es war ihm selbst klar, dass das nur ein Alibi war, eine bedeutungslose Demonstration guten Willens, der nicht wirklich vorhanden war.
„Ich gehe dann…“ sagte sie schließlich.
Er nickte und hob die Hand zum Abschied: „Mach’s gut,“ sagte er müde.
Sie sah ihn zwei, drei Sekunden lang an. „Du auch,“ sagte sie sanft. Sonst hatte er nichts zu sagen, zumindest nichts, was ihm in diesem Moment auch über die Lippen gekommen wäre. Die Tür fiel hinter ihr sanft ins Schloss, aber er spürte das Geräusch bis tief in sein Gehirn, so bewusst hatte er schon lange nicht mehr einen für gewöhnlich so nebenläufigen Reiz wahrgenommen. Regen klatschte ans Fenster und der Himmel war so grau, wie er sich in diesem Moment fühlte.

Der Schock saß tief und rüttelte an seiner Lethargie. Er schrieb wieder eine Reihe von Bewerbungen und kurz nach dem zweiten Advent erhielt er sogar eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch in einer etwas weiter nördlich gelegenen Stadt. Es war nichts bedeutendes, aber immerhin ging es dabei um eine Festanstellung in einer Personalabteilung. Er würde kein großes Licht sein, aber es war ein richtiger Job, kein verschissenes, unbezahltes Praktikum oder so ein Ein-Euro-Mist, und von einer vorläufigen Beschränkung auf ein paar Monate war auch nicht die Rede. S. fühlte sich so glücklich, dass er sich auf der Stelle hätte betrinken können, und Wein hatte er immer in ausreichender Menge im Haus, aber er rief sich zur Mäßigung, denn schließlich hatte er den Job ja noch nicht. Wenn das alles klappte, dann, ja dann, würde er feiern, und zwar so, dass es rauschte. Bei einem Freund hatte er vor einiger Zeit einen guten Jahrgang im Keller gesehen, den würde er sich von ihm zur Feier des Tages spendieren lassen, dachte er mit einem diebischen Grinsen im Gesicht. Aber natürlich würde er das nicht tun, ohne etwas ebenbürtiges beizusteuern. Oh ja, und dann würde er Blumen besorgen, sich bei seiner Freundin entschuldigen, und sie bitten, zu ihm zurückzukehren.

Er konnte die Tage bis zu dem Termin kaum abwarten, er fühlte sich wie ein Tiger in einem viel zu kleinen Käfig, also ging er spazieren, machte Fotos, brachte seinen Anzug in die Reinigung, für alle Fälle, nahm an einem Adventskonzert teil, das er in seinem Blog ankündigte, machte noch mehr Fotos, ging zum Frisör, und sprang am betreffenden Morgen förmlich aus dem Bett, eine Viertelstunde, bevor der Wecker klingelte, und eine knappe Viertelstunde, nachdem er aufgewacht war. Alles musste sitzen. So ausgiebig wie heute hatte er sich wahrscheinlich noch nie rasiert, zumindest kam es ihm so vor, ohne sich zu schneiden, aber immerhin so gründlich, dass als nächstes die tieferen Hautschichten an der Reihe gewesen wären. Rasierwasser drauf – aber dezent, denn übertriebener Wohlgeruch konnte ebenso abschreckend wirken. Seine Fingernägel wurden gleichmäßig kurz gefeilt und die Ränder sauber entfernt. Beim Frühstück las er noch einmal das Firmenprofil durch, bestimmt zum sechsten Mal in den letzten drei Tagen, und versuchte, sich auch die letzten Details einzuprägen. Dann band er sich peinlich exakt seine Krawatte, zog seinen Anzug an, bearbeitete die Oberfläche mit einer Fusselbürste, polierte seine Schuhe, und stieg schließlich in seinen uralten Kleinwagen, wobei er nicht vergaß, die Fusselbürste zur Anwendung nach dem Aussteigen auf den Beifahrersitz zu legen.

S. konnte nicht anders, als mit offenem Mund da zu sitzen, gegenüber der Frau Ende Vierzig mit den blondierten Haaren und dem übertrieben professionellen Gesichtsausdruck, die ihn zu bewerten hatte. Sie war die Personalchefin, und in ihrer Abteilung war die Stelle zu haben, für die er sich beworben hatte.
„Verstehen Sie mich nicht falsch, Herr S., ihre Qualifikation ist angemessen, aber… ich weiß nicht… irgendwie komme ich nicht mit ihnen klar, wir beide passen einfach nicht zueinander. Wenn es um eine andere Abteilung ginge, könnte ich voll objektiv sein, aber, bitte verstehen Sie, es geht um meine Abteilung, und ich lege großen Wert auf ein gutes Verhältnis zu meinen Mitarbeitern. Ich kann nicht konkret sagen, was mich an Ihnen stört… irgendwie stimmt die Chemie zwischen uns nicht. Es tut mir leid, dass ich Sie daher ablehnen muss.“
S. traute seinen Ohren nicht, aber er hörte sich „Ich verstehe… haben Sie vielen Dank für Ihre Zeit“ sagen. Auf dem Weg nach draußen überkam ihn irgendwie das Gefühl, in eine Klapsmühle geraten zu sein, die auf der San-Andreas-Spalte gebaut worden war, und auf dem Weg zu seinem Auto konnte er nicht anders, als mal lauter und mal leiser zu lachen und dabei eben gehörte Satzfetzen zu rezitieren, über die er dann wieder lachen musste. „Wir passen einfach nicht zueinander… die Chemie zwischen uns stimmt nicht…“ Hatte er sie etwa gefragt, ob sie ihn heiraten würde, ohne, dass er es bemerkt hatte? „Hört, hört! Ich bin ein schlechter Chemiker!“ sagte er feierlich, mit einem Gesicht wie ein Clown, der eine ernste Rolle spielen soll, untermalt von einer ebenso feierlichen Handbewegung, bevor er dann mit einem halbleisen Lachen den Zündschlüssel drehte.

Er fuhr los, Richtung Autobahn. Die ganze Situation kam ihm surreal vor. Wie aus einer Art von Komödie. Er konnte auch nicht anders, als immer wieder zu kichern, den Kopf zu schütteln, und zu denken: „Das kann ja wohl nicht sein…“
Er fuhr nicht direkt nach Hause. Stattdessen wechselte er kurz vor der Autobahnauffahrt spontan auf die nächste Landstraße und fuhr ziellos in der Gegend herum, bis er am frühen Nachmittag in irgendeinem Dorf anhielt, um in einem Restaurant zu Mittag zu essen. Er war auch drauf und dran, den Kellner zu fragen, was das Labor denn heute erlesenes anzubieten hätte, aber er ließ es und bestellte Kalbsmedaillons in Pfeffersoße. Aber das brachte ihn auch nicht auf andere Gedanken. Die wenigen anderen Gäste sahen mehr oder minder auffällig zu ihm herüber, wenn er ein Kichern nicht unterdrücken konnte. Sie mussten ihn für komplett plemplem halten. Aber das störte ihn in diesem Moment nicht. An einer lokalen Tankstelle füllte er zehn Liter Sprit in seinen Tank und fuhr weiter. Einfach drauflos, aber grob Richtung Süden. Hier und da hielt er an, betrachtete die Landschaft und wünschte sich seine Kamera zur Hand.

Als die Sonne sich am späten Nachmittag dem Horizont näherte, war er wieder auf der Autobahn in Richtung Heimat. Drei oder vier Kilometer vor dem Autobahnkreuz gelangte er auf eine Brücke, und aus irgendeinem Grund erinnerte er sich an ein Detail, das ihm aus einem ebenso unklaren Grund auf der Hinfahrt aufgefallen war – jemand hatte scheinbar vergessen, eine Tür in der Lärmschutzwand der Brücke zu schließen. Er wechselte auf den Seitenstreifen, schaltete den Warnblinker an und stoppte den Wagen. Der Feierabendverkehr war noch nicht angerollt, und die wenigen Wagen, die unterwegs waren, fuhren an ihm vorbei, ohne Notiz zu nehmen. S. sah kurz nach links und rechts, bevor er auffällig unauffällig durch die Öffnung schlüpfte, die zu einem mit einem Geländer gesicherten Steg führte, der wohl Instandhaltungszwecken der nicht niedrigen Brücke diente. Bunte Graffitis zierten die Außenseite der Lärmschutzwand, also kam man entweder noch auf anderem Wege hier hoch, oder es wurde öfter vergessen, die Tür zu schließen. Er besah sich die hügelige Landschaft, deren winterliches, aber schneeloses Braun und Grün von der untergehenden Sonne in ein etwas angenehmeres Licht getaucht wurde. Unweit von seinem Standpunkt konnte er auch die Ortschaft betrachten, zu deren Schutz die bunt gefärbte Wand hinter ihm angebracht worden war. Die hellen Farben der Häuser tendierten allesamt in Richtung Grau, und auch der Sonnenuntergang änderte daran nichts, es wirkte schlicht dreckig. Er setzte sich auf das Geländer und betrachtete erneut die Wand. Allerlei Obszönitäten und Bedeutungslosigkeiten waren darauf verzeichnet, mit „TMK“ hatte der Künstler wahrscheinlich seine Initialen verewigt, und „Fuck you!“ drückte wohl eine generelle Unzufriedenheit des Autors mit seinem Leben aus.
„Ist doch alles für’n Arsch…“ sagte S. und ließ sich nach hinten fallen.

Epilog 1
Ein schon ziemlich betagter Herr im rot-weiß karierten Hemd, mit grünem Hut und braunen Bundhosen aus Cord, unter denen er armeegrüne hohe Wollsocken trug, kam in Spaziergeschwindigkeit den Feldweg zwischen den eingezäunten Wiesen herunter, einige Meter vor ihm ein ebenfalls nicht mehr allzu junger Dackel, der, von einem Elektrozaun zurückgehalten, am Wegrand stehen blieb und wie gebannt das keine fünf Meter von ihm entfernt stehende kraushaarige Huftier anstarrte. Das Schaf, wie auch seine Artgenossen, ignorierte das Mensch-Hund-Gespann allerdings beflissentlich. Das Objekt dackeliger Neugier starrte stattdessen mit gleichgültigem Blick auf das durch eine niedrige Mauer eingefasste Areal ein paar Meter weiter, das es wegen seiner relativ höheren Lage einsehen konnte. Es wusste nicht, warum dort 150 Menschen mit ernsten Gesichtern dabei zusahen, wie eine kleine Kiste in ein kaum größeres Loch versenkt wurde. „Stückwerk ist unsere Erkenntnis, und Stückwerk unser Tun. Du hast keinen Abschiedsbrief hinterlassen, und so wissen wir nicht, was Dich letztendlich zu Deinem letzten Schritt getrieben hat,“ sagte ein ebenfalls in Schwarz gekleideter Mann am Kopfende der Versammlung. Es interessierte sich mehr für die weitere Füllung seines Magens und wusste instinktiv, dass die Sonne bald hinter dem Horizont verschwinden würde, wie sie das in regelmäßigen Abständen tat. Es würde dunkel werden. Der Gedanke an Dunkelheit war schauderhaft, denn wer konnte schon sagen, was in der Dunkelheit so alles lauerte? Aber so wenig sein Schafskopf von dieser Welt verstand, eines war ihm sonnenklar: Dass die Sonne nach einiger Zeit am Horizont auf der anderen Seite wieder erscheinen, und dass es immer ein Morgen geben würde.

Epilog 2
R. saß am Esstisch, seinem älteren Sohn gegenüber, der nervös seine halbvolle Kaffeetasse schwenkte. R. schnaufte missmutig durch seinen noch roten Schnauzbart und schaute in seine eigene Kaffeetasse, die allerdings schon leer war. „So isses halt…“ sagte er.
„Dann denk bitte daran, dass Deinen Söhnen was an Dir liegt.“
„Das weiß ich doch… aber was soll ich machen? Ich sage ja nicht, dass ich mir irgendwas antue… ich sage ja nur, wenn mich morgen einer auf der Straße überfährt… es wär’ mir scheißegal.“ Er füllte seine Tasse erneut.
Der Sohn betrachtete seinen Vater. Der hatte bisher immer noch einen Ausweg gefunden, sich irgendwie immer einen neuen Job besorgt. Aber diesmal schien es damit aus zu sein. Wer stellte einen 55 Jahre alten Mann noch ein, als Fahrer oder als egal was?
„Es war einfach zu viel… als der Typ vor meinem LKW gelandet ist… da kam ich noch mit klar, ich dachte, es würd’ reichen, ne Nacht drüber zu schlafen… weißt Du, man schiebt es irgendwohin ins Unterbewusstsein und macht weiter… aber als ich dann am Tag drauf die blutige Polizeidecke am Straßenrand gesehen habe… ich weiß nicht mehr, wie ich zu meiner Therapeutin gekommen bin…“
Der Sohn nickte stumm. Er hatte es ja grade eben schon einmal gehört, nur ausführlicher. Nach einem halben Jahr Therapie in einem Sanatorium hatte man dem Vater zwar Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen angeboten, aber der Körper litt unter dem geistigen Zustand. Kleine Anstrengungen belasteten seinen Kreislauf bereits ungewöhnlich stark, sein Hausarzt warnte vor einem Herzinfarkt, auch mit Hinweis auf die 20 Zigaretten und die zwei Liter Kaffee, die der Vater in den vergangenen 40 Jahren am Tag konsumiert hatte. Mehr als zehn Kilo durfte er gar nicht mehr anheben. De facto bedeutete das Arbeitsunfähigkeit, Frührente, von der er nicht ohne Zuschüsse vom Sozialamt würde leben können, wenn man bedachte, dass er in den vergangenen 15 Jahren nur sporadisch Arbeit gehabt hatte. Immerhin hatte er mit seinem Vermieter ausgehandelt, dass er etwas weniger Miete zahlen musste. Mittlerweile hatte er seinen Kaffeekonsum auf zwei oder drei Tassen, und die Zigaretten auf drei oder vier am Tag reduziert, sagte aber, er könne nicht einfach so aufhören. Außerdem sei es ihm egal, welche Folgen das haben könne. „Mir ist das alles scheißegal…“ sagte er langsam, trank einen Schluck Kaffee, zog an seiner Zigarette, und schaute gedankenverloren durch den Raum zur Balkontür hinaus.

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Für Bernhard

(15. Juli 1963 – 17. Dezember 2007)

den wir alle vermissen,

und für alle die, die wir nicht vermissen wollen.

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