King of Kylltal (Teil 2)
Der Mittwoch, das heißt der 18. Mai, verlief also im Großen und Ganzen wie der Dienstag, mit Ausnahme des Besuchs der Damen und Herren in adretter Bürokleidung. Man bemerkte auch gleich eine gesteigerte Disziplin: Pakete wurden mit ausgewählter Vorsicht behandelt und die meisten Wagen waren etwas herausgeputzt worden – nur “mein” Sprinter sah aus wie ‘ne Sau – was daran liegt, dass Mike als Einwohner von Ehrang als einziger Fahrer den Sprinter nicht mit nach Hause nimmt, sondern in der Halle stehen lässt und seinen Roller nimmt. Dumm auch, dass ausgerechnet heute ein LKW Verspätung hatte und das Band daher mehr als eine halbe Stunde still stand und die Fahrer nicht weg konnten.
Bei den Inspektoren handelte es sich um zwei Herren und eine Dame vom Mutterunternehmen, die von Herrn R. und einer örtlichen Sachbearbeiterin begleitet wurden. Die Prüferin von Transoflex sei pingelig, hieß es, und sie habe auch schon einem Fahrer wegen einer Verfehlung Hausverbot erteilt.
Ich hätte mal nicht bemerkt, dass die Gruppe in die Fahrzeuge hineingeschaut hätte, wohl zu unserem Glück. Was allerdings zu bemerken war, war die explosionsartige Auflösung der Gruppe der Fahrer am (gerade ruhenden) Band, als die Prüfer näher kamen, und plötzlich war ich der einzige, der inquisitorische Fragen gestellt bekam, zum Beispiel, wie man Plasmafernseher transportiert. Nun, als erfahrener Umzugshelfer weiß ich, dass man sie nicht liegend transportiert, weil etwas auf die Sichtfläche fallen könnte. Im Sprinter kann man sie auf das Trittbrett der Seitentür stellen, da werden sie vorn von den anderen Paketen und hinten von der Tür stabilisiert, und groß vor und zurück können sie auch nicht rutschen. Eine kurze Reihe weiterer Fragen, bis Mike wieder erschien, blockte ich ganz einfach damit, dass dies erst mein zweiter Tag sei und dass ich bislang Klaviere und Teppiche transportiert habe, die einfacher zu handhaben sind als ein Haufen kleiner Pakete.
Kaum zurück wurde Mike zum Thema Umgang mit Gefahrgut befragt:
“Flüssiges Gefahrgut transportiert man am besten in einer Wanne,” sagte er zum Beispiel.
“Und wo ist Ihre Wanne?”
“Ich hab grad keine dabei, aber ich hab heute auch kein Gefahrgut.”
Worauf der Prüfer sich umdrehte und mit tödlicher Sicherheit ein Paket mit Gefahrgutaufkleber aus unserem Haufen pflückte, das zudem unter Nichtbeachtung des “oben” Pfeils aufgestellt war. Würde ich meine Gedanken unter dem Internetjargonbegriff “facepalm” zusammenfassen, wäre das noch ein Euphemismus.
Die Tour selbst verlief an sich ereignislos, aber die Rückfahrt durfte ich übernehmen, damit sich Mike ein Bild von meinem Fahrvermögen machen konnte. Trotz der kurzen Schlafzeit war ich die ganze Zeit erstaunlich wach und aufmerksam. Ich nehme an, dass ich wegen der Aufregung und Nervosität verstärkt auf Adrenalin lief, was meine von dem langen Spielabend am Tag zuvor herrührende Müdigkeit unterdrückte, aber noch einmal sollte ich das nicht wagen.
Auf der Autobahn südlich von Spangdahlem klatschte dann wieder etwas auf die Frontscheibe. Meiner Gewohnheit entsprechend schaltete ich sofort den Sprinkler ein, um das Zeug wegzuwischen, bevor es im Fahrtwind antrocknete. Der Scheibenwischer bewegte sich etwa 45° weit, dann flog der rechte einfach weg und Halterung kratzte auf der Scheibe. Soviel dazu. Mike telefonierte mit Peter, damit der neue Wischerblätter besorgte, aber der war heute nach Belgien gefahren und würde wohl erst spät zurückkommen.
Und obwohl ich kein Angestellter bin, erhielt ich an jenem Abend den Sprinter mit nach Hause, mit der Aufforderung, am kommenden Tag um 0515 wieder da zu sein.
Ich nahm mir am Abend einen Eimer Wasser, einen Schwamm, Viss und Fensterreiniger, und machte mich daran, die Fahrerkabine zu säubern. Es blieb auch nicht bei einem Eimer Wasser, stattdessen wurden es drei tiefbraune. Dafür konnte man dann die eigentlichen Farben der Fahrerkabine wieder erkennen, die zuvor unter einem grauen Schleier oder braunen Schlieren, die von Straßenstaub und angetrockneten Getränkeresten stammten, verborgen waren.
Zum Abschluss wurde meine Hose mitsamt des elektronischen Zündschlüssels in der Waschmaschine gewaschen, was aber scheinbar keine Funktionseinschränkung zur Folge hatte.
Da ich danach keine Motivation mehr verspürte, was anderes zu machen, als mein Gehirn auf Durchzug zu schalten, ließ ich den Computer aus und sah noch kurz irgendwas auf ARTE, bevor ich um Viertel vor Zehn ins Bett ging. Die volle Stunde erlebte ich nicht mehr.
Von einer gewissen Neugier getrieben, wie denn mein Vermittler auf das Praktikum reagierte, las ich dann am Morgen um Viertel vor Fünf noch schnell meine Mails und fand darin ein ziemliches Kuckucksei.
InPersona machte mich darauf aufmerksam, dass ich gesetzlich verpflichtet sei, an der Maßnahme teilzunehmen, und ich möge bitte am Donnerstag, also heute, wie verabredet um 0800 erscheinen, um alles weitere zu besprechen.
Ich fuhr also erst mal ins Depot, unterrichtete die Disponenten von der Situation und half bis 0700 beim Sortieren. Mein Vermittler hatte mittlerweile angerufen und die Zusendung eines Praktikumsvertrags versprochen, der von der Firma auszufüllen sei.
Dann durfte ich bis zum Mäusheckerweg zu Fuß gehen, weil keine Bushaltestelle auf dem Weg Fahrzeiten für die Linie 7 anzeigte, nur für die 87, die um die fragliche Uhrzeit nicht mehr fuhr.
Bei der Arbeitsvermittlung angekommen, erläuterte ich der Angestellten die Lage, und mein Tonfall muss wohl etwas gereizt gewesen sein. Ich zwang mich jedenfalls zur Ruhe und die Situation entspannte sich deutlich. Nach einer kurzen Unterredung, in der ich ausführte, dass ich allen notwendigen Stellen meine derzeitige Beschäftigung angezeigt hatte, deutete sie an, dass ich gern auch wieder zum Depot zurückkehren könne, aber ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass die Fahrten vermutlich bereits begonnen hatten.
Ich sollte daher also bei den anderen acht oder neun Teilnehmern Platz nehmen und wir könnten ja meinen Lebenslauf durchgehen.
Ich traf einen meiner Nachbarn da, stellte fest, dass ich mit Laptoptastaturen nicht klarkomme, und dass nicht alle diese Maßnahmen voller Proleten sind – die knappe Hälfte der Teilnehmer hatte eine Uni zumindest mal von innen gesehen. Mit einer Abbrecherin unterhielt ich mich kurz über Namensethymologie, bevor ich mich zum Thema Lebenslauf belehrten ließ. Die Reihenfolge der einzelnen Punkte solle zeitlich rückläufig sein, was ich interessant finde. Man hat mir sowas bereits vor elf Jahren als Option beigebracht, aber mein aktueller Lebenslauf beruht auf einer vom Institut für Bildung und Arbeit in Blieskastel abgesegneten Vorlage. Scheinbar hat jeder dieser Bewerbertrainer andere Vorgaben.
Mittendrin ein Anruf von meinem Vermittler: Da stehe einer bei ihm, der wissen wolle, wo der Fahrzeugschlüssel ist. Ich fasste in meine Hosentasche, der Verdacht bestätigte sich. Ich sagte also dem Vermittler, wo ich war, und der Bewerbertrainerin, weshalb ich die Geräuschkulisse im Seminarraum gestört hatte. “Dann können Sie ja doch noch mitfahren” meinte sie, und genau das tat ich auch.
Wozu war ich nun eigentlich hier gewesen? Es gibt ja sicherlich Leute, die was von Praktika und Probeterminen erzählen, um sich vor der Maßnahme zu drücken – aber ist meine Geschichte glaubhafter, nur weil ich sie persönlich anwesend erzählt habe?
Mike nahm die Geschichte mit Humor, obwohl wir auf diese Weise erst um etwa neun Uhr wegkamen.
Er hatte wohl an der Empfangstheke im Jobcenter gefragt, ob eine Telefonnummer von mir gespeichert sei, aber dort konnte ihm niemand weiterhelfen, weil die entsprechenden Daten dort nicht vorliegen. Über eine Zwischenstelle kam er dann zu meinem Vermittler, der mich dann anrief und meine Erlösung von dem Bewerbertraining ins Rollen brachte. Insgesamt würde ich den Zwischenfall also eher als positiv bewerten.
Peter hatte leider keine Wischerblätter besorgen können, wir mussten also bis Gerolstein mit der immer matter werdenden Scheibe auskommen. Dort befindet sich eine Selbstbedienungswaschstation, die neben einem gewöhnlichen Hochdruckreiniger auch noch ein effektives Lösungsmittel für Insektenreste bereitstellt. Die Scheibe wurde jedenfalls überraschend sauber.
Ich sollte dann die zweite Hälfte fahren, das heißt den Überlandverkehr ab Reuth, den Stadtverkehr in Gerolstein könne ich dann morgen machen. Den rechten Scheibenwischer klappten wir nach vorn, damit ich zumindest die Überreste in meiner Hälfte wegwischen konnte, ohne rechts die Scheibe zu verkratzen. Leider fing es zwischendurch ganz heftig zu regnen an, was ich mit einem Wischerblatt bewältigen musste. Es ging, aber die Blindheit im rechten Sichtfeld war nicht angenehm.
Heute ließ mich der Pförtner zu meinem Erstaunen mit in die “Festung Gerolstein” fahren, ohne dass diese Entscheidung erklärt wurde, vielleicht nahm es dieser Pförtner weniger genau?
Am Freitag Morgen… hatte eine Frau auf der Umgehungsstraße bei Biewer irgendein grau bepelztes Tier von der Größe eines mittleren Hundes überfahren. Das Tier lag jedenfalls auf der Straße, knapp 100 Meter weiter befand sich das Warndreieck und kurz dahinter der Kleinwagen der Frau, die telefonierend auf der Straße rumstand. Das Auto, das einen Schaden vorne links unter dem Scheinwerfer aufwies, stand dabei mitten auf der rechten Fahrspur, scheinbar war sie vor Schreck nicht auf die Idee gekommen, soweit nach rechts zu ziehen, wie möglich… das nur als Randnotiz.
Wir mussten das Auto wechseln, der Sprinter musste wohl zur Inspektion. Ich habe keine Ahnung, wann das festgestellt worden sein soll, sofern der Termin nicht bereits vorher bestand. Wir bekamen einen Renault von AVIS, der sich auffällig vom Sprinter unterschied:
Der Renault läuft ruhiger und hat eine bessere Innenausstattung, zum Beispiel erkennt der Bordcomputer automatisch das Telefon des Fahrers und erlaubt die Kommunikation über Freisprechanlage mit Mikrofon und Lautsprecher. Das Klemmbrett, das man aus der Mittelkonsole ausfahren kann, ist nicht zu verachten. Es gibt auch eine Klimaanlage und der Motor läuft so ruhig, dass man ihn nicht für einen Diesel halten würde.
Aber leider gibt es auch Nachteile. So hat der Renault einen spürbar größeren Wendekreis und dieses Exemplar läuft extrem niedertourig. Während der erste und der zweite Gang noch normal laufen, erreicht das Getriebe im dritten Gang erst bei 70 km/h knapp 3000 Touren, das heißt, bei Siebzig schaltet man erst in den vierten Gang, der die Grenze von 3000 U/min bei ca. 100 km/h erreicht, und der sechste Gang lohnt sich so ab 120.
Viel Erfahrung habe ich mit Sechsganggetrieben noch nicht, aber bei jedem anderen Fahrzeug, das ich gefahren bin, waren die Schaltgrenzen etwa bei 30 (dritter Gang), 50 (vierter Gang), und 70 (fünfter Gang).
Ein wenig störend ist der Anschnallmelder, der ab 20 km/h piept, wenn man nicht angeschnallt ist. In jedem anderen Szenario würde ich das als eine positive Warneinrichtung bezeichnen, aber bei Lieferungen im Stadtverkehr ist man dann sehr häufig mit An- und Abschnallen beschäftigt, was durchaus nervtötend sein kann, wenn mehrere Kunden nur wenige Hundert Meter auseinander liegen.
Vor der Abfahrt erhielt ich eine Tankkarte und den Auftrag, das Fahrzeug am Abend vollzutanken und zum Verleih zurückzubringen. Zum Bezahlen an der Tankstelle muss ich den Kilometerstand und eine Geheimzahl angeben, allerdings verstand ich die Eselsbrücke falsch…
Ich steuerte durch den Gerolsteiner Stadtverkehr und stand auch irgendwann wieder vor der “Gerolsteiner Festung”. Aber heute sagte die Pförtnerin: “Nur eine Person!”
“Es handelt sich aber um eine Ausbildungsfahrt.”
“Die haben Sie doch bereits gestern gemacht!”
Da war ich irgendwie platt, dass die sich das gemerkt hatten. Mike blieb dann draußen, ich brachte die Ware zum Wareneingang. Vielleicht haben die Angst, dass man ihnen die Kohlensäure aus dem Sprudel klaut?
Wir waren früher weggekommen, schon um zehn vor Acht, aber leider kam es zu Verzögerungen, die den Vorteil wieder zunichte machten. Der Kollege, der den Renault zuvor gefahren hatte, hatte seinen Geldbeutel mit seinen Papieren liegen lassen. Wir trafen uns in der Nähe von Speicher, aber es kostete halt mindestens zehn Minuten.
Mittendrin gab es wolkenbruchartige Regenschauer, da fährt man ja auch langsamer.
Und am Ende der Fahrt stand wieder Spangdahlem, wo wir uns bei drei Abteilungen im Voraus ankündigten. Der erste holte seinen Umschlag ab, und als er gerade wieder gegangen war, wurde wohl eine Art stiller Alarm auf dem Flughafen ausgelöst: Das Tor wurde von Soldaten verschlossen, niemand durfte das Gelände verlassen und die Pendler stauten sich über das gesamte Areal. Niemand wurde durchsucht und dann erst rausgelassen – es ging gar nichts. Wir warteten eine halbe Stunde, bevor wir abfuhren.
Die Firma hofft, für den Fahrer dieser Tour Zugangspässe zum Flughafen zu erhalten. Dann könnte man einfach die zugewiesenen Büros und Hallen ansteuern und müsste nicht ewig Zeit damit verplempern, vor dem Tor auf die Abholer zu warten.
Wieder waren wir um kurz vor Vier zurück in Ehrang. Mike drückte mir ein paar Mitarbeiterklamotten in die Hand und verabschiedete sich, ich fuhr zum Einkaufen und anschließend in die Stadt zur zugewiesenen Tankstelle. Dort rächte sich mein Missverständnis mit der Eselsbrücke zur Geheimzahl, ich musste erst in der Gegend herumtelefonieren, erreichte zunächst keinen, machte mich dann daran, einen Schuldschein auszustellen, als Peter mich anrief und die Sache rettete. Dann musste ich nur noch bei AVIS auf meine Mitfahrgelegenheit warten und kam so relativ spät nach Hause. Aber ich musste am Samstag ja auch erst um halb Neun aufstehen.
Meiner Mütze Schlaf stand leider eine Party im Stockwerk darunter entgegen. Die Musik hinderte mich zunächst nicht am Einschlafen, aber um kurz vor Drei erwachte ich wieder. Die Anlage war aufgedreht, sie gab türkische Popmusik zum Besten, es wurde gesungen, getanzt, gelacht, geklatscht, und was Orientalen auf Partys sonst noch zu machen pflegen. Um zehn nach drei hatte ich die Schnauze voll, zog mir eine Hose an, setzte eine ernste Miene auf (fällt mir ja angeblich nicht schwer), und behandelte die Tür der Ruhestörer unsanft.
Ein junger Mann öffnete die Tür und sah mich besorgt an.
“Könnt Ihr endlich still sein? Ich raste sonst gleich aus!”
“Ja, können wir.”
“Danke.”
Ich legte mich ins Bett und fand die Nachtruhe wieder hergestellt.
Das Fahren macht mir Spaß, ich empfinde es nicht als Arbeit, von daher kann ich mir vorstellen, noch eine Weile hier zu bleiben. Eher zum Entsetzen meiner Freundin, die noch eiliger aus Trier weg möchte, als ich.