Wir stehen um 05:30 auf und steigen um 06:47 in den Bus in Richtung Busbahnhof, wo wir um 07:05 ankommen. Ricci und Ronald sind bereits da und wir müssen zuerst 40 Minuten Zeit totschlagen, bis ein Bus zurück nach Nakano fährt. Wir gehen also in einen der Konbini und frühstücken. Das heißt, die anderen drei essen. Ich habe etwas gegessen, bevor wir aufgebrochen sind. Schließlich hieven wir das Gepäck in den passenden Bus und fahren nach Hause.
Die beiden sind erstaunlich wach, dann war die Fahrt offenbar relativ entspannend. Die Koffer werden, soweit notwendig, ausgepackt und wir ergehen uns in mehr oder weniger normalen „Eröffnungsgesprächen“, die uns, ich weiß nicht mehr warum, in Richtung Horrorfilme führen. Bestimmt ist Ronald daran schuld. Wenige Sekunden später sind wir uns einig und ich gehe mit ihm in die Bibliothek, um „Battle Royal“ auszuleihen.
Wir nehmen die DVD-Version mit, da Riccis Laptop mit einem entsprechenden Laufwerk ausgestattet ist. Der Film läuft auch, aber… wir kriegen keinen Ton aus dem Gerät raus. Ricci probiert eine DVD aus, die sie mitgebracht hat – und die macht keine Probleme. Was tun? Ricci probiert das Extremste zuerst und ruft Thomas (in Trier!) an. Und der ist gar nicht begeistert, um 06:45 aus dem Bett geklingelt zu werden. Aber er kann uns nicht weiterhelfen. Also will ich in die Videothek gehen, um die Scheibe umzutauschen. Und da meint Melanie doch ganz spontan (ohne sich was Böses dabei zu denken natürlich), dass Ronald vielleicht besser mitgehen solle, weil sein Japanisch besser ist. Zack! Das hat gesessen. Aber weniger, weil sie meine Fähigkeiten in Frage stellt, als eher deshalb, weil hier zur Schau gestellt wird, wie gerne man sich auf andere verlässt – was ich überhaupt nicht gerne mache. Ach, was soll’s… ich werde ja wohl noch ein Video umgetauscht bekommen! Erstaunlicherweise rege ich mich kein bisschen darüber auf.
Ich gehe also alleine zurück in die Videothek und schildere dem Angestellten mein Problem. Das sei gar kein Problem, sagt er und drückt mir einen Zettel in die Hand, der aussagt, dass ich ein Video bezahlt, aber keines mitgenommen habe. Ich gehe also mit dem Zettel zu der Videowand, wo „Battle Royal“ zu finden ist, nehme die Videokassette, gehe zurück zur Theke, gebe den Zettel wieder ab und verlasse die Videothek mit dem Film. So einfach geht das.
Und wir sehen uns „Battle Royal“ schließlich an. Ich will die Handlung („Nur einer darf überleben!“) nicht im Detail beschreiben. Sagen wir einfach, der Film stellt dar, wie leicht der Instinkt, zu überleben, die Oberhand über die Vernunft gewinnt und Menschen zu Tieren macht, und dass Egoismus und Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft ständig zunehmen.
Ich habe meine Zweifel, ob ich den zweiten Teil wirklich sehen will. Der Film ist gut, zumindest auf gewisse Art und Weise, wenn man meine Kurzbeschreibung im Hinterkopf behält. Das Töten wird in diesem Film recht trocken angeboten, reduziert auf die Erfüllung des reinen Überlebenswillens. Es geht zum Teil recht mechanisch vor sich, blutig zwar, aber schnell und einfach. Ich sage nicht, dass die Angelegenheit unspektakulär wäre. Ganz und gar nicht. Aber ich fühle mich irgendwie an „Gesichter des Todes“ erinnert, eine Serie, die sehr schön dargestellt hat, dass der Tod, realistisch betrachtet, eine langweilige Angelegenheit ist. Darstellungen von Unfällen und Morden würden niemanden ins Kino locken, wären die Darstellungen in Filmen nicht entweder übertrieben oder auf andere Art und Weise publikumsgerecht zurechtgemacht.
In kurzen Worten: Ich empfinde „Battle Royal“ als langweilig. Es macht keinen Spaß, den Film anzusehen, und es kommt auch, meiner Meinung nach, keine Spannung und kein echtes Mitgefühl mit den dargestellten Personen auf. Es berührt mich nicht. Bis auf die Szene, wo ein Mädchen erschossen wird und man ihr ein Megaphon vor den Mund hält, um ihr Wimmern zu verstärken. Aber sonst färbt das einfache Volk eben mit seinem Blut die Felder rot und es ist mir völlig egal. Natürlich mag das in der Absicht der Hersteller liegen. Aber ich lege mir keine Filme zu, die mich weder berühren noch andere Vorteile bieten. Michael scheint seinen Spaß gehabt zu haben. Er lobt den Film ja in den höchsten Tönen und hat mir seit geraumer Zeit bereits immer wieder den Vorschlag gemacht, den Film anzusehen. Viel Spaß weiterhin! Aber nicht für mich.
Nach Filmende gebe ich das Band zurück und wir steigen in den Bus, der uns nach Dotemachi bringt. Dort steigen wir aus und gehen zu Fuß in den Park. Im Park von Hirosaki findet derzeit das diesjährige Schneefest statt, bzw. das „Schneelaternenfest“. Als wir ankommen, fängt es ziemlich heftig an zu schneien.
Im Park steht eine Vielzahl von Schneekonstrukten, die zum größten Teil die Form japanischer Steinlaternen haben, das heißt, der Kopf der Laterne ist hohl. Im Innern steht eine Kerze, und die Öffnungen sind mit verziertem Glas verschlossen, das Gesichter von Menschen oder Dämonen zeigt. Unterhalb des Burghügels stehen Dutzende von kleinen Schneebögen wie kleine Altäre mit Kerzen drin, die einen sehr schönen Anblick auf die gegebene Entfernung von knapp 200 m liefern. Kurz vor der Burg selbst steht ein Iglu, in den man hineinkriechen kann und dessen Mitte hoch genug ist, um mir das Stehen zu ermöglichen. In dem Iglu steht ein kleiner Altar, wo man, wie das bei Altären üblich ist, auch Geld spenden kann. Der Anteil von 50-Yen-Münzen in der Opferschale ist überraschend hoch, ansonsten findet man die üblichen Münzen im Wert von fünf oder 10 Yen. Vielleicht sind die Leute bei Schnee oder auf Festen spendabler?
Der Schnee, der auf uns niedergeht, ist recht feucht und ich spüre bereits jetzt, dass meine Jacke an den Schultern durchnässt ist. Immerhin habe ich, im Gegensatz zu meiner Begleitung, am Ende des Tages noch trockene Füße. Melanie hat, wider besseres Wissen, nur Turnschuhe angezogen, und Ricci und Ronald haben keine geeigneten Schuhe dabei. Bei dem Wetter für Warmduscher in Tokyo braucht man auch keine Stiefel, da reichen Turnschuhe halt.
Der Höhepunkt des Festes ist eine Ausstellung „moderner“ Schneeskulpturen am anderen Ende des Parks. Da stehen unter anderem Figuren von Doraemon und Anpan-man, aber die sind klein und „nur“ besser geformte Schneemänner. Die wirklichen Stars sind Skulpturen von etwas drei bis vier Metern Höhe, und sie stellen die verschiedensten Dinge dar: Donkey Kong, Tom & Jerry, zwei der Sieben Zwerge, einen dieser Köpfe von den Osterinseln[1], Totoro und Snoopy. Ein sehr schönes Stück ist das Schneemodell der methodistischen Kirche von Hirosaki, dessen Turm zwischen sechs und acht Metern hoch ist. Am unterhaltsamsten ist zweifelsohne der aufgeschüttete Hügel, den die Kinder auf Traktorreifen hinunterrutschen. Aber mein persönlicher Favorit befindet sich gegenüber davon: Eine Wand von sechs Metern Breite und vier Metern Höhe, die die Figuren aus der Animeserie „Atashin’chi“ zeigt. Und ausgerechnet an dieser Stelle ist der Speicher meiner Kamera voll. Ich kriege ausgerechnet davon kein Bild mehr in die Kamera! Und leider habe ich den Speicher bereits für andere lohnende Motive ausgemistet, die ich nicht hergeben will. Sehr bedauerlich.
In direkter Umgebung der Skulpturen findet man natürlich die obligatorischen Verkaufsstände, wo man warmen Sake, Fleischbällchen, Takoyaki und Fleischspieße kaufen kann, nebst anderem Zeug wie Souvenirs und Spielzeug. Und das alles wird natürlich zu besten Festtagspreisen angeboten. Dennoch haben wir hungrige Leute in der Gruppe. Marc hat mir vor wenigen Tagen mitgeteilt, dass es im Bereich des Neputa-Dorfes neben dem Park einen ganz tollen Ramen-Stand (es handelt sich um eine offene Rollkarre) geben soll. Allerdings sei der nur sporadisch dort. Wir verspüren keine Motivation, uns auf unser Glück zu verlassen, außerdem wäre ein geschlossenes Gebäude nicht schlecht. Aber um diese Uhrzeit haben zumindest die kleinen Familienbetriebe bereits geschlossen, die machen um acht Uhr Abends dicht. Es gibt einen Laden auf dem Parkgelände, der dort offenbar fest installiert ist. Wir essen also dort. Ich bestelle Soba-Nudeln, und die Portion ist… niedlich.
Wir gehen zum Bus und kommen gerade pünktlich an, um festzustellen, dass der Planaushang etwas anderes anzeigt als Melanies Faltblatt. Laut Aushang fährt der nächste für uns geeignete Bus in einer halben Stunde. Ich bin nicht begeistert (weil: nass) und durchaus bereit, auch zu Fuß nach Hause zu gehen. Vielleicht dauert das genauso lange, aber immerhin wird mir dabei warm. Das ziehe ich dem kalten Warten in jedem Fall vor. Aber dazu kommt es nicht. Nur einen Augenblick später kommt der Bus, genau der, der in Melanies Faltblatt vermerkt ist. Der Fehler war eine Missinterpretation des Planaushangs an der Haltestelle, denn der richtige Bus hat eine andere Bezeichnung, als wir angenommen hatten. Also kommen wir doch noch schneller nach Hause.
Melanie und ich wiederholen zuhause noch einmal die wichtigsten grammatischen Inhalte für die Klausur morgen (so gut das eben geht, wenn man zweiköpfigen Besuch hat) und hoffen, dass es wirkt. Aber schwer zu verstehen ist das Lehrbuch ja nicht. Das Problem sind immer die Prüfungsaufgaben. Das heißt, die Bildung der Formen ist einfach, aber die Bedeutungen im einzelnen könnten Probleme machen, die sich so ausdrücken, dass ich missverstehe, was mit dem lückenhaften Satz ausgedrückt werden soll.
Um 22:00 haben wir noch kurz Ikeda im Haus, weil mal wieder kein Wasser läuft. Melanie ist zu SangSu gegangen, um die Eimer zu füllen, denn zwei Stockwerke tiefer gibt es solche Probleme offenbar nicht, und Ikeda ist eben zufällig da, ich weiß nicht genau, warum. Jedenfalls steht er auf einmal in der Tür und weil er auch nicht viel machen kann, erklärt er mir die Haupthähne im Erdgeschoss. Wenn es nachts besonders kalt würde, solle ich den Haupthahn für mein Apartment einfach zudrehen. Dann könne der Wasserleitung nichts passieren. Aber was bedeutet das schon? Ich müsste regelmäßig den Wetterbericht ansehen und dann nach Gutdünken den Hahn zudrehen, weil ich ja nicht hellsehen kann, wann es kalt genug ist, um die Leitung zuzufrieren.
Wir gehen schließlich ins Bett. Und kaum ist das Licht aus, ruft Kollege Sven aus Trier (!) bei Ronald an und meldet den neuesten Klatsch aus der japanologischen Fakultät – 45 Minuten lang. Obwohl er sich eigentlich nur nach einer Büchersendung erkundigen wollte. War aber schön, noch einmal „live“ von ihm zu hören.
[1] Die werden „Moai“, oder „Moai Maea“ genannt: „Steinerne Figuren“