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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

31. Dezember 2023

Mittwoch, 31.12.2003 – Wofür ein Schrein nicht alles gut sein kann…

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 16:14

Entsprechend der Zeit, zu der ich schlafen gegangen bin, wache ich spät auf. Aber viel haben wir ja nicht vor. Wir gehen noch einkaufen und wollen auch noch Post loswerden, aber die Post hat bereits ab heute geschlossen – bis zum 04. Januar. Die Supermärkte, wie auch der 100-Yen Laden, haben allerdings geöffnet, wenn auch nicht so lange wie gewöhnlich. Und wenn ich schon da bin, kann ich auch gleich die Schriftzeichen an der Tür unseres BenyMarts entschlüsseln. Darauf ist zu lesen, dass morgen, am 01. Januar, der Laden in der Tat dicht bleiben wird. Aber am 02. Januar hat er bereits wieder geöffnet, mit der Einschränkung, dass erst ab zehn Uhr am Morgen offen sein wird – entgegen Volkers Warnung, dass an den ersten drei Tagen im Jahr tote Hose sein würde. Mein Gott, hat sich das seit dem letzten Jahr denn so radikal geändert, oder gönnt man sich in Tokyo mehr Urlaubstage als hier draußen auf dem Land?[1] Ich vervollständige dennoch meinen Getränkevorrat, und Sushi möchte ich auch nicht vermissen wollen. Aber die Platten, die da heute wegen des Feiertages verkauft werden, kosten kurzerhand 4000 Yen (ca. 30 E) und die nehme ich nicht einmal zum halben Preis. Das Preis-Leistungsverhältnis ist mir dann doch zu mies.

Zuhause wartet trotz unserer Waschbemühungen noch immer eine große Menge Wäsche auf uns. Wird das denn nie weniger? Um 18:00 kommt ein Doraemon Special, und es handelt sich um die lange Episode, in der Doraemon ins 22. Jahrhundert zurückkehren muss und wo Nobita sich als nahezu unfähig herausstellt, ohne seinen „Katerbot“ auszukommen. Leider kann ich mir das Special nicht ganz ansehen, da um 19:30 die alljährliche „Kohaku“ Sendung beginnt. Diese Show hat den Zweck, die erfolgreichsten Musiker des Jahres zu präsentieren, und zwar aus allen in Japan gängigen Sparten musikalischer Unterhaltung. Untermalt wird das Ganze von kleinen Showeinlagen. Diese Sendung reizt mich allerdings mehr zum Gähnen als zum Zusehen, also muss ich mir das wirklich nicht ansehen, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt. Ich kam in Trier bereits in den zweifelhaften Genuss, eine der Sendungen als Bandaufzeichnung zu sehen.
Meine Güte, ist das langweilig! Man stelle sich die ZDF Hitparade mit Dieter Thomas Heck gemeinsam mit der Goldenen Hitparade der deutschen Volksmusik mit Marianne und Michael als Koproduktion vor. Ja, gleichzeitig. Die Hälfte der Interpreten sind gewöhnlich Enka-Sänger, und bei Enka handelt es sich um… nennen wir es das japanische Äquivalent zur deutschen Volksmusik. Die Lieder sind sehr emotional, zum Teil schmalzig bis jammervoll, handeln von verlorener Liebe oder ferner Heimat (oder von beidem gleichzeitig) und angesichts des eigenen Textes brechen die SängerInnen auch schon mal gerne in Tränen aus. Das heißt, Volksmusik ist vielleicht der falsche Ausdruck. Wenn ich einem Deutschen gegenüber von „Volksmusik“ spreche, assoziiert er oder sie das mit Musikanten, die in ländliche Trachten gekleidet sind, und mit eher bierseliger Atmosphäre, Schunkeln und so. Vielleicht sollte man Enka besser beschreiben als eine Art von Musik, bei der die Texte zwar sentimental-volkstümlich sind, deren Aufmachung aber eher dem Sammelbegriff „Schlagermusik“ gerecht wird.[2]

Subjektiv von meiner Position aus betrachtet ist es aber auch eine Art von Musik, von der ich Zahnschmerzen bekomme. Ich bleibe lieber bei meinem „Krach“. Jedem das seine. Denn die Enka-Interpreten sind sehr erfolgreiche und zum Teil steinreiche Musiker, die ein Publikum ansprechen, das Geld hat. Leute ab Mitte 40, möchte ich annehmen. Für eine Eintrittskarte in ein Live-Konzert bezahlt man ein kleines Vermögen – selbst wenn man sich mit drittklassigen Sitzplätzen zufriedengibt. Ich habe mir den genauen Preis aus einer der Werbesendungen nicht herausgeschrieben, aber es handelt sich um einen Gegenwert von mehreren Hundert Euro. Für einen drittklassigen Sitz.

Der Rest des Programms besteht aus dem bunten Haufen des japanischen Einheitsbreis, sei es Pop, Rap, HipHop, Rock, oder was man sonst noch so kennt. Für zwei Lieder, die mir möglicherweise gefallen könnten, sehe ich mir doch keine Sendung von vier Stunden an, die allgemein eher einschläfernd wirkt. Ich lege mich um 20:30 aufs Ohr.

Melanie weckt mich um 22:30 wieder, um zum Tempel zu gehen. Wir gehen um etwa 22:50 aus dem Haus, und wir wollen uns Zeit lassen, nur nicht hetzen. Wir gehen zu Fuß, weil wir nicht sicher sein können, dass die Straße nach Mitternacht noch eisfrei sein wird. Wir erreichen den Tempel gegen 23:30 und treffen dort bereits mehrere Hundert Anwohner der Stadt an, die in einer langen und breiten Schlange vor dem Tempel stehen. Der zwei Meter breite Weg ist voll und daneben ist es ebenfalls ziemlich eng. Am Eingang zum Allerheiligsten hängt eine kleine Glocke, die man läutet, und dann kann man kurz beten, wenn man das will. Und damit die Leute in der Schlange sich nicht langweilen, hängt neben dem Eingang ein Flachbildfernseher, der Landschafts- und Wetteraufnahmen zeigt.

Wir laufen dort David und Arpi über den Weg. Ansonsten bemerken wir niemanden, den wir kennen. Das einzige uns bekannte japanische Gesicht ist Kazu (aber die kommt erst später an die Reihe). Wir sehen uns um und finden ein nicht zu verachtendes Nahrungsangebot in den typischen kleinen Buden vor. Ich esse Takoyaki, das sind Tintenfischstücke in einem Teigmantel, und das zu einem horrenden Preis. Ansonsten gibt es Fleischspieße, „Frankfurter Würstchen“ am Stiel, Bananen mit Schoko-, Erdbeer- oder Melonenglasur, und noch einige Dinge mehr, die ich wahrscheinlich schon wieder vergessen habe. Ja, natürlich wird auch Sake ausgeschenkt. Aber mir ist nicht danach. Auch das hängt mit den Preisen zusammen. 450 Yen pro Glas sind mir zu viel des Guten, Feiertag hin oder her.

Das Läuten der Hauptglocke beginnt um kurz vor Mitternacht. Unter der großen Glocke wird ein kleiner Holzstapel abgebrannt. Vor der Glocke steht der Priester und rezitiert eine Art Gebet. Dann nimmt er einen Stock, an dem weiße Papierbänder befestigt sind und geht damit einmal um die Glocke herum. Dann schlägt er die Glocke dreimal mit dem etwa armdicken Holzschwengel, der an dem Gerüst um die Glocke befestigt ist.
Vor diesem Konstrukt steht eine große Menschenmenge, die nicht einfach nur Zuschauer sind. Die Leute halten nummerierte Zettel in der Hand, und als der Priester die Szene wieder verlässt, rufen seine Gehilfen Nummern auf. Die aufgerufenen Leute gehen zur Glocke und läuten sie. Die meisten machen das einmal. Andere schlagen den Schwengel gleich zwei- oder dreimal an die Glocke. Ich bin nicht ganz sicher, wie das System funktioniert. Ich dachte eigentlich, dass die Glocke 108-mal geschlagen würde, stellvertretend für die Anzahl der Sünden, die der Buddhismus offenbar kennt. Aber ich bin sicher, dass die Glocke heute Nacht öfter geläutet wird. Es heißt, jeder schlage die Glocke entsprechend der Arten von Sünden, die er oder sie begangen hat. Also quasi Beichte und Absolution in einem, ohne dass ein Wort gesagt werden muss. Und einige Jugendliche machen sich auch mehr einen Spaß aus der Angelegenheit und fotografieren sich in reißerischen und wenig feierlichen Posen vor oder an der Glocke.

An anderer Stelle stehen Jugendliche um ein Feuer herum, in dem alles Mögliche verbrannt wird, nicht nur das dafür vorgesehene Holz. Alle Müllerziehung scheint völlig an den Beteiligten vorübergegangen zu sein, und die „Täter“ sind nicht nur Jugendliche. Da wird alles ins Feuer geworfen, was gerade störend erscheint, Neujahrsschmuck und Plastikmüll gleichermaßen. Und wenn die Flammen am schönsten sind, springen manche der Jungs in das Feuer und tanzen einige Sekunden darin herum. Man merkt direkt, dass sie was getrunken haben und ihre Klamotten vermutlich nicht selbst bezahlt haben. Neben dieser Art von Mutprobe pöbeln sie auch noch die anwesenden Polizisten an, die aus mir völlig unersichtlichen Gründen dabeistehen. Sie hindern niemanden daran, Plastikmüll von den Verkaufsständen zu verbrennen, lassen die Jungen im Feuer rumhüpfen und reagieren auf antiautoritäre Handlungen auch noch mit einer stoischen Gelassenheit, die mich doch erstaunt.

Dieses Schauspiel fesselt mich letztendlich allerdings wenig und ich gehe mit Melanie vom Tempel zum angrenzenden Yasaka-Schrein hinüber, vorbei an Steinfiguren von buddhistischen Gottheiten, denen offenbar auch „Hello Kitty“ Luftballons geopfert werden können. Vor dem Schrein befindet sich ebenfalls eine lange Schlange von Menschen, wenn auch nicht ganz so groß wie vor dem Tempel. Das könnte natürlich daran liegen, dass weniger Platz vorhanden ist. Der Weg ist nur zwei Meter breit, aber ausgefüllt, und die Warteschlange ist etwa 75 Meter lang. Auch hier will man das erste Gebet des Jahres sprechen, kurz nach Mitternacht. Dazu rüttelt man an dem dicken Seil aus Reisstroh, das vom Tempeldach herunterhängt und mit dem man die daran befestigte Rassel tönen lässt. Es handelt sich nicht um eine Glocke, sondern um einen hohlen Metallball, in dem Metallkugeln eingeschlossen sind. Man rüttelt am Seil und es rasselt. Die Aufmerksamkeit der Götter muss ja irgendwie erregt werden. Dann klatscht man zweimal in die Hände (zumindest haben das die Leute gemacht, die ich beobachten konnte) und spricht sein wie auch immer geartetes Gebet, inklusive guter Vorsätze und irgendwelcher Wünsche. Soweit mir bekannt, bedarf es dazu keiner besonderen Formel. Dann wirft man eine Münze in den obligatorischen Opferkasten, und wie in Tokyo handelt es sich auch hier zum größten Teil um 1- bis 10-Yen-Muenzen. Nur selten sehe ich eine silberfarbene Münze (50 Yen oder mehr) durch die Gegend fliegen.

Auf der Veranda des Schreins sitzt oder kniet ein älterer Herr, der eine Mandarinenkiste nach der anderen an die Besucher verteilt. Das heißt, er verteilt natürlich keine Kisten, sondern deren Inhalt, und gibt jedem, der an ihm vorbeigeht, eine oder zwei Mandarinen, je nach Größe der Mandarinen oder je nach Person. Ich komme nicht dazu, repräsentativ festzustellen, ob z.B. Frauen durchschnittlich mehr Mandarinen erhalten, als die Männer. Ich stehe zwei Meter vor dem Schrein auf einem Schneehaufen wie Napoleon auf seinem Feldherrenhügel bei Austerlitz und betrachte die Szene ruhig. Dann sieht mich der Mandarinenverteiler an und winkt mich zu sich her. Ich gehe zu ihm hin und frage, was denn sein Begehr sei.
Es ist doch bestimmt kalt da draußen, oder?“ fragt er.
Hm, ja, es ist in der Tat ein wenig kalt.
Ja dann kommt doch rein und feiert ein bisschen mit uns!
Einfach so – in den Schrein?
Ja, natürlich. Jeder darf rein. Wir trinken und essen im Schrein.

Hm, ja, vor allem „trinken“, habe ich den Eindruck. Ich winke also Melanie her und mache ihr das Angebot klar. Kurz darauf sitzen wir im Inneren des Schreins, bekommen Tassen und werden mit Sake versorgt, ebenso mit allerlei köstlichen Happen, kalt zwar, aber unheimlich gut. Ich sitze also im Yasaka Schrein zu Hirosaki, esse Hühnchen, Gemüse-Tempura und Ebi-Tempura (frittiertes Gemüse und Garnelenschwänze), sowie Maguro Sashimi (eine Art von rotem Fisch, in Streifen geschnitten, natürlich roh mit Sojasoße) und trinke einen Becher Sake nach dem anderen, weil er „auf wundersame Weise“ nicht leer werden will. Ich bekomme auch eine Kostprobe süßen Sake. Er hat einen sehr angenehmen Geschmack, der mich ein wenig an lieblichen Weißwein erinnert. Es ist für mich immer noch arg seltsam, den Sake kalt zu trinken, aber mit dem, was man mir hier kredenzt, kann man das tatsächlich machen – nicht wie das Zeug von Choya, das man in Deutschland als Sake-Liebhaber trinken muss.[3]

Der Raum hat eine Größe von etwa vier mal fünf Metern, und darin befinden sich etwa ein Dutzend Leute: Vier oder fünf ältere Herren, alle reichlich angetrunken, dann noch drei oder vier Männer von maximal 40 Jahren, ein Ehepaar und drei Kinder. Es werde gefeiert bis zum Morgen, sagt unser linker Sitznachbar, ein ergrauter Herr, pensionierter Elektroingenieur, wie er später noch hinzufügt. Sake sei genug da, hebt er noch hervor. In der Tat stehen in der Ecke noch mehrere Pappkisten, in denen sich jeweils sechs Flaschen mit jeweils 1,8 Litern Inhalt befinden. Ich schätze, dass da drüben noch mindestens 44 Liter astreiner japanischer Sake herumstehen. Und eine Handvoll Flaschen kursiert geöffnet im Raum. Der Sake hat einen Geschmack, dass man sich an ihm tot trinken möchte. Na ja, nicht ernsthaft. Aber gut ist er auf jeden Fall.

Man zeigt sich erfreut, dass wir Deutsche sind, beschwert sich über die aktuelle Außenpolitik der USA und über den Schmusekurs der japanischen Regierung (der Ingenieur nennt die Amerikaner bevorzugt „Yankees“, schimpft auf den Krieg im Irak und meint, Hiroshima und Nagasaki hätten ihm gereicht), verwendet deutsche Floskeln wie „Guten Abend“, „Auf Wiedersehen“ und „Ich liebe Dich“ und schlägt nebenher hin und wieder die kleine Taikotrommel, während es von außen lustig weiter Geld ins Innere des Schreins regnet. Während der Zeit, in der ich im Schrein sitze, rollen mehrere Münzen, die die Opferkiste verfehlen, zu mir herüber, und einmal ist sogar eine 50 Yen Münze darunter. Ansonsten nur geringeres Kleingeld.

Um 01:00 fühle ich mich ziemlich angeheitert und Melanie, die es bei einer höflichen Probierportion belassen hat, mahnt mich dazu an, die Gastfreundschaft nicht zu sehr zu strapazieren. Um 01:30 gehen wir dann tatsächlich. Und weil ich die ganze Zeit im ungewohnten Schneidersitz auf dem Boden gesessen habe, stehe ich auf wie ein alter Mann und ernte dafür natürlich das Gelächter der echten alten Männer. Mein rechter Nachbar lässt es sich nicht nehmen, meine Beine mit lockeren Handkantenschlägen zu massieren, damit wieder etwas Leben hineinkomme und ich wieder gehfähig werde. Das ist mir natürlich peinlich, aber er scheint einen ungeheuren Spaß daran zu haben. Wir bedanken uns für alles und verlassen den Schrein wieder.

Und zehn Meter weiter treffen wir Kazu und ihre Familie, die zum Neujahrsgebet hergekommen sind. Das heißt, ich erkenne ihr Gesicht, aber in meinem derzeitigen Zustand kann ich mich an ihren Namen nicht mehr erinnern. Sie frischt mein Gedächtnis auf und stellt mir ihre Mutter, ihren Onkel und dessen Ehefrau vor. Ich frage, wo denn der Vater abgeblieben sei, und sie sagt, den gebe es nicht (was auch immer das bedeutet), und Melanie bedeutet mir, das Thema unter den Tisch fallen zu lassen. Und das ist auch nicht weiter schwer. Kazus Mutter ist offenbar erfreut, ihre Englischkenntnisse zum Besten geben zu können, wird aber von ihrer Tochter unterbrochen, in der Art „Mama, mach mich bitte nicht lächerlich hier!

Ja, und die Gattin des Onkels hat es auch in sich. Ich würde sie als (auf durchaus positive Art und Weise) „frech“ nennen. Sie fährt sich mit der Hand durch ihre langen, dunkelblond gefärbten Haare und fragt mich „Bin ich nicht hübsch, hm?“ Ich bin etwas perplex angesichts dieser unvermuteten Frage, und sage „Ja, das sind Sie wirklich. Aber Sie scheinen mir auch ein wenig seltsam zu sein…“ Darauf zieht sie einen Schmollmund und meint „Das ist aber unhöflich!“ Ich bekomme das Adjektiv „hidoi“ als Umschreibung meines Verhaltens oft zu hören und japanische Damen geizen auch nicht mit dem Gebrauch. Aber bislang nur bei Gelegenheiten, wo es nicht ernst gemeint ist. Ich glaube, wenn ich Leuten durch meinen Mangel an Kultur auf die Füße trete, halten die lieber den Mund, anstatt sich zu beschweren. Ich bekomme immer nur Hinweise durch die Hintertür, und das auch nur von dritten (oder vierten) Personen. Also z.B. von „vierten“ Leuten, denen „Dritte“, Beobachter meiner Unhöflichkeit gegenüber einer „zweiten“ Person, eine solche vorgetragen haben. Ich muss besser auf meine Sprache achten.[4]

Wir verabschieden uns von der Familie und gehen Richtung Ausgang, nur um wieder umzukehren, weil ich meinen Schal im Schrein habe liegen lassen. Aber der wird binnen drei Sekunden gefunden und ich habe dann wohl alles wieder beisammen, mit Ausnahme meiner Sinne, die noch recht vernebelt sind.
Die Temperatur ist nicht weiter gefallen und die Straßen sind eisfrei. Auf den Bürgersteigen hält sich zwar immer noch Restschnee, aber wenn die Temperaturen nicht winterlicher werden, wird der Schnee auch bald verschwinden.


[1] Mein Kamerad Volker hatte aber in erster Linie die Schließung der Geldautomaten beklagt, wovon ich mangels Bedarf nichts merkte.

[2] In der Tat beruht Enka auf Protestliedern der Liberal-Demokratischen Partei Japans aus der Zeit der politischen Repression vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

[3] Streng genommen muss man dies nicht, aber man müsste idealerweise nach Düsseldorf fahre, um eine gute Flasche zu bekommen; wenn man das Angebot kennt, kann man natürlich heutzutage den Onlinehandel bemühen.

[4] Jener Onkel verstarb 18 oder 19 Jahre später ganz unerwartet, was mich überraschend traurig stimmte, denn an den Herrn kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Ich verspürte aber starkes Mitgefühl für die liebenswürdige Dame, die mich bei unserer kurzen Begegnung doch nachhaltig beeindruckt hatte.

Dienstag, 30.12.2003 – Kekse!

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 15:46

Nachdem wir gegen Mittag aufgestanden sind, klingelt fünf Sekunden danach auch schon der Postbote und bringt Melanie zwei weitere Weihnachtspakete. Mit Schokolade und Keksen drin. Na gut, es ist Weihnachten. Das Paket, das ihr Vater ihr zum Nikolaustag geschickt hat, ist allerdings noch nicht da. Ich hege langsam den Verdacht, dass es „verschwunden“ ist.

Hm… vielleicht entsteht durch solche Aussagen ein falsches Bild von Melanie… wie biege ich das hin?

Ich persönlich lehne den Verzehr von Keksen und sonstigen Süßigkeiten nicht grundsätzlich ab, ich habe nur keine großen Sympathien dafür. Ein bisschen was, hin und wieder, muss auch bei mir sein, das weiß ich und ich gebe es zu. Man darf sich aber nicht über Übergewicht beschweren und gleichzeitig solches Zeug essen. Ich für meinen Teil möchte, nachdem ich schon so weit bin, das letzte Loch meines Gürtels auch noch zubekommen. Es ist also, trotz meiner negativen „Berichterstattung“ über die Pakete, die Melanie erhält, definitiv nicht der Fall, dass sie Süßigkeiten in unkontrollierter Manier und in ungeheuren Mengen in sich hineinstopfen würde. Sie isst das schon Stück für Stück, über einen relativ großen Zeitraum verteilt. Sie will nicht, dass man glaubt, sie sei ein Vielfraß, weil sich das, was ich schreibe, so anhört, also füge ich diese Klarstellung ein.[1]

Oh ja, ich probiere die Kekse natürlich ebenfalls. Ich bin ja sicher, dass sie gut sind. Es soll niemand meinen, ich würde seine oder ihre liebevollen Backbemühungen verschmähen oder geringschätzen. Ich werde es aber bei der Probierportion belassen, auch wenn die Plätzchen gut sind, wie sie nur sein können. Es reicht mir voll und ganz, wenn Käse in seinen vielen Formen meine einzige essbare Leidenschaft bleibt. Auf Süßigkeiten kann ich bequem verzichten, auf Käse nicht. Und natürlich derzeit auch nur ungern auf Sushi. Aber da muss man, im Gegensatz zum Käse, die Kalorien ja fast mit der Lupe suchen.

Am Nachmittag fahren wir in die Stadt, um Neujahrsgeschenke für verschiedene Personen zu kaufen. Und wie ich mich kenne, werden meine einige Wochen lang im Schrank rumliegen, bevor ich endlich daran denke, sie auch zu verschicken. Und da wir morgen Nacht zur Pagode gehen wollen, um dem Läuten der Glocke (und den Feierlichkeiten drum herum) beizuwohnen, gehen wir vorsichtshalber einen Umweg in diese Richtung, um sicher zu gehen, dass wir den Tempel auch auf Anhieb finden und nicht mitten in der Nacht zu suchen beginnen müssen.

Am Abend nehme ich in Angriff, verschiedene, seit langem fällige Briefe zu schreiben… deshalb dauert das auch gleich bis um vier Uhr morgens…


[1] Melanie litt über Jahrzehnte an Zuckersucht, falls man das so nennt, das Bedürfnis, immer wieder Süßigkeiten zu essen. Knapp 20 Jahre später kam sie davon los und hielt sich tapfer davon fern, mit der unmittelbaren Folge, dass sie nicht mehr von Heißhunger überfallen wurde und auch schnell ein paar Kilogramm Gewicht verlor.

Montag, 29.12.2003 – Sweet Home Hirosaki

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 15:33

Bei unserem Bus zurück nach Norden handelt es sich leider nicht um einen designierten Nachtbus, sondern um einen ganz gewöhnlichen Reisebus ohne besonderen Komfort. Das bedeutet, dass es in der Nacht mehrere Zwischenstopps geben wird, damit die Fahrgäste eine Toilette aufsuchen können. Dem entsprechend unmöglich ist es, wirklich ein Auge zuzutun. Es dauert zwei Stunden, bis ich die bequemste Liegemethode festgestellt habe: Mit dem Kopf nach vorne auf das ausklappbare Lunchbrett gelegt, gepolstert mit dem Pullover. Im Bus ist es warm genug, um mit einem T-Shirt rumzusitzen. Händler an der Strecke sind voll und ganz darauf vorbereitet, dass ein Dutzend voll besetzter Busse hier durchfährt und Pause macht. An jeder Raststätte warten kleine Stände, an denen man Essen kaufen kann, warm oder kalt, und machen den Raststätten selbst somit Konkurrenz. Ich kaufe beim ersten Stopp ein Netz Mandarinen (aus der Provinz Ehime auf Shikoku), das für 210 Yen angeboten wird. Die Mandarinen sind wirklich gut. Beim zweiten Stopp kaufe ich auch noch was zu trinken. Beim dritten Stopp verlasse ich den Bus mangels Bedarf allerdings nicht mehr. Melanie stapft ebenfalls in eine der Raststätten, um was zu besorgen, und macht dabei ein Gesicht, als möge sie Kinder… am liebsten, wenn sie mit Bohnen und Speck serviert werden. Sie erweist sich als unansprechbar, also lasse ich es.

Man merkt direkt, wo man hinfährt: Je weiter wir vom sonnigen Tokyo aus nach Norden kommen, desto stärker wird der Regen. In Hirosaki schließlich stellen wir fest, dass es um die Weihnachtszeit geschneit hat. Die Landschaft ist weitgehend weiß. Am Busbahnhof treffen wir Jû wieder, der aus Korea zurück ist. Die Hochzeit seiner Schwester muss ja einige Zeit in Anspruch genommen haben. Wir fahren mit dem Taxi nach Hause, weil es angeblich bequemer ist, als mit dem Bus zu fahren. Das Taxi fährt uns natürlich direkt vor die Haustür und erspart uns damit wahnsinnige fünf Minuten Fußmarsch (mit Gepäck), kostet aber kurzerhand das Doppelte pro Nase. Was soll’s. Ich bin müde. Im Briefkasten erwartet uns die Stromrechnung für den letzten Monat, die ich noch gar nicht ansehen will… es werden wohl um die 1500 Yen sein. Wir packen die Koffer wieder aus und räumen das Zeug weg. Wir haben jetzt einen massiven Wäscheberg in unserem Kleiderschrank liegen… das wird eine Zeit lang dauern, bis der weggespült ist. Und ich muss meine Tagebucheinträge seit dem 27.12. nachholen, weil mir irgendwie die Zeit und wohl auch die Motivation dafür gefehlt hat. Ich will schlafen. Aber vor 11:30 wird daraus nichts. Wir sind also seit drei Stunden zuhause und immer noch nicht mit der Nachbereitung fertig. Die Vorbereitung hat nicht so lange gedauert, glaube ich. Außerdem ist nichts zu trinken im Haus… aber mir ist so richtig gar nicht nach einem Spaziergang in den Supermarkt, so nah er auch sein mag. Außerdem regnet es gerade heftig und eiskalt vom Himmel herunter. Und dann gibt es ein Gewitter. Nicht direkt über Hirosaki, aber ich höre den Donner in einiger Entfernung. Wie kann das sein? Habe ich nicht vor etwa 15 Jahren in einem „Was ist Was“ Buch gelesen, dass es im Winter keine Gewitter geben könne, weil es dazu einer kalten und einer warmen Luftströmung bedarf? Wo sollte hier eine warme Luftströmung herkommen? Vielleicht irre ich mich auch, was die Information betrifft, und von den Feinheiten der Meteorologie habe ich schon gar keine Ahnung. Zumindest habe ich persönlich noch kein Gewitter im Winter erlebt.

Wir legen uns schließlich aufs Ohr und schlafen bis um Viertel vor Fünf am Nachmittag. Wir müssen anfangen, unsere Wäsche zu waschen und wir müssen Vorräte für die Feiertage kaufen, da wir ja aufgrund von „Augenzeugenberichten“ davon ausgehen müssen, dass wir drei Tage lang an nichts rankommen, ohne in einen teuren Konbini gehen zu müssen. Wir kaufen Nahrungsmittel und anderen täglichen Bedarf für 8317 Yen, so viel wie noch nie. Das sollte bis zum 05.01. reichen. Am Eingang des Supermarkts hängen allerdings Informationsschilder, die etwas anderes als die von den Augenzeugen angekündigte Mega-Urlaubszeit ankündigen… aber ich will die Bestätigung dessen selbst sehen. In drei Tagen ist es ja soweit.

Melanie möchte eigentlich Spaghetti mit Hackfleischsoße kochen, aber wir haben beim Einkaufen glorreicherweise die Tomatensoße vergessen. Also gehe ich um 19:40 noch einmal zum Beny Mart, um das nachzuholen. Es ist also schon um die acht Uhr, und die Sushi sind entsprechend billiger. Die 50 % Schilder lachen mich an. Vor allem, da ich Sushi in den letzten Tagen ein wenig vermisst habe. Da komme ich nach Tokyo und kriege kein Gramm Sushi zu Gesicht… dabei sagte Shizuka, dass Sushi sogar eine Spezialität in Tokyo sei. Wie dem auch sei, ich nehme eine große Packung und bin glücklich damit. Für Pakete dieser Größe (30 x 30 cm) gibt es eine besondere Verpackung, da die üblichen Plastiktüten zu klein sind, als dass man die Sushi, die ja belegt sind, aufrecht transportieren könnte. Die junge Frau an der Kasse legt also mit geschickten Händen los, mir ein Paket zu schnüren und sie macht das, für meine Begriffe, wirklich gut. Also denke ich mir, ich könnte ja was Nettes darüber sagen und sage, dass sie das schön mache. Jetzt hätte ich damit gerechnet, dass sie japanisch lächelt und leise und höflich „Danke“ sagt. Stattdessen lacht sie verlegen und wechselt die Gesichtsfarbe. Aber es scheint sie positiv zu berühren. Vielleicht wird mir das als die heutige gute Tat auf mein Karma angerechnet…

Und weil wir wegen Abwesenheit nicht dazu gekommen sind, sehen wir uns heute Abend die SailorMoon Episode vom Samstag an. Da scheint Bewegung in die Sache zu kommen… Kunzyte erscheint. Und zwar als sanfter junger Mann, der sein Gedächtnis verloren hat und eine Vorliebe für weiße Rosen besitzt. Königin Beryll frischt sein Gedächtnis natürlich recht schnell auf, und er beginnt, Menschen in Yôma zu verwandeln, indem er ihnen einen Strang Haare um den Hals wickelt, über den die Dämonen in die Wirtskörper eindringen können. Die Haare von Kunzyte sind übrigens schwarz, und es ist sehr erholsam, ihn einmal nicht mit der (deutschen) Stimme von Al Bundy zu hören, wie das in der Animeserie der Fall war. Und als er dann Tuxedo Kamen und SailorMoon gegenübertritt, da dachte ich eigentlich, dass Mamoru das Opfer sein würde. Mamoru ist schließlich auch König Endymion und die Bösen wissen das (sofern Nephlyte das weitererzählt hat). Und wie einige unter meinen verehrten Lesern wissen, hat Mamoru alias Tuxedo Kamen in der Animeserie ja auf Betreiben der Bösen die Seiten gewechselt, und ich bin davon ausgegangen, dass genau das jetzt sofort in die Tat umgesetzt werden sollte. Aber nichts da! Mamoru kommt mit seiner Rettungsaktion einen Tick zu spät – und SailorMoon wechselt die Seiten! Darkmoon Rising? Das würde ich sehen wollen! Na ja, sie wird mit einem Haarstrang geschmückt und es scheint, dass nur ihre Sailor-Energie sie davor bewahrt, sofort zum Dämon zu werden.
In der nächsten Episode ziehen ihre Freundinnen los, um sie zu retten. Aus der Idee mit einer bösen SailorMoon (Ja! „DarkMoon“!) könnte man richtig was machen. Aber… aarghl!! Die nächste Episode kommt wegen der Feiertage um Neujahr erst am 10. Januar! So lange werde ich warten müssen. Die Spannung wird mich natürlich kaum zerreißen, aber ein Blick in das Fernsehprogramm vom 03.01. verrät mir, dass am Morgen keinerlei neujahrsrelevantes Sonderprogramm läuft, das es rechtfertigen würde, meine derzeitige Lieblingssendung ausfallen zu lassen! Das wurmt mich dabei dann doch ein wenig.

Ich höre mir am Abend die CD von Miyamura Yûko an, die ich in Tokyo gekauft habe. Hm… die CD ist vom Dezember 1996, das sollte vorShin Seiki Evangelion“, wo sie Asuka ihre Stimme lieh, gewesen sein. Ich mag ihre Stimme, wirklich. Aber ich frage mich ernsthaft, wer aus welchem Grund auch immer auf die Idee gekommen ist, die liebe Yûko singen zu lassen. Denn eigentlich kann sie das überhaupt nicht. Sie hat ein kräftiges, jugendliches Organ, und ich höre ihr gerne zu (weswegen ich die CD auch nicht mehr hergebe), aber „Singen“ ist was anderes.

Um 23:45 beende ich den Tag auch schon wieder und gehe schlafen. Morgen will noch mehr Wäsche gewaschen werden. Sofern die von heute dann trocken ist.

Sonntag, 28.12.2003 – Der letzte Tag

Filed under: Filme,Japan,My Life — 42317 @ 15:25

Heute verbringen wir unseren letzten Tag in der japanischen Hauptstadt. Wir stehen um 11:00 auf und packen zuerst die Koffer. Wir wollen sie am Busbahnhof Hamamatsu-cho in ein Schließfach sperren, um für den Tag „freie Hand“ zu haben, im wahrsten Sinne des Wortes. Da ich die ganze Woche über nicht dazu gekommen bin, will ich den strahlend schönen Mittag ausnutzen, um endlich das „Emily“ Flugboot gegenüber vom Wohnheim aus naher Entfernung zu fotografieren. Ich gehe also zu dem Gelände hinüber. Aber heute steht da ein Wachmann, der mich abweist: „Heute ist Ruhetag.“ Die Außenanlagen seien doch frei zugänglich, und ich wolle ja nur drei oder vier Bilder von dem Flugboot machen, nicht mehr. Nein, heute geht das nicht. Aber heute sei mein letzter Tag in Tokyo und ich wisse nicht, wann ich die nächste Gelegenheit hätte. Nein, da könne ja jeder kommen. Du &$%*@?#&#%$! www.gotohell.com/ und kauf dir ne Mütze…
Bleibt also zu hoffen, dass ich im Sommer tatsächlich noch einmal herkommen kann. Obwohl ich nicht darauf wetten würde… ich will auch noch was anderes vom Land sehen.

Wir fahren zum Bahnhof, um unsere Koffer abzustellen, und von dort aus nach Harajuku. Der „Sage“ nach ist Harajuku der Versammlungsort für Cosplayer schlechthin, und warum sollte ich nicht einen Blick darauf werfen, wenn ich schon hinfahre? „Cosplayer“ sind Leute, die sich ein Kostüm selber basteln, das sie in einem Manga oder Anime gesehen haben. Und weil immer die Vielfalt der dargestellten Kostüme hervorgehoben worden war, hatte sich in meinem Kopf das Bild einer Straße von mindestens 200 Metern Länge, wenn nicht mehr, geformt, in der diese meist jungen Leute sich aufhalten würden. Stattdessen präsentiert uns Ronald eine eher unscheinbare, steinerne Bogenbrücke von allerhöchstens 40 Metern Länge, auf der ich knapp zehn junge Menschen beiderlei Geschlechts in Kostümen sehe. Das da ist alles? Das ist, wovon alle reden? Diese kleine Brücke?? Und deswegen macht die halbe Welt der mir mehr oder minder persönlich bekannten Tokyobesucher so einen Aufriss?
Okay, halt, Einschränkung: Es ist immerhin Winter. Und da die Jungs und Mädchen keine Hirosaki-Winter gewohnt sind (Tokyo ist nicht mehr weit von der subtropischen Zone), muss ich annehmen, dass denen zu kühl ist, um sich in ein Kostüm zu werfen, das nicht darauf ausgelegt ist, wintertauglich zu sein. Aber dennoch finde ich es ein wenig lächerlich dafür, dass so viel Wind um diesen Ort gemacht wird. Auch in den westlichen Medien, in denen schon von einer „Meile“ gesprochen worden ist, wo die Jugendlichen den angeblichen Alltagsuniformismus mal ausklammern könnten und würden. Vielleicht tun sie das ja, aber wenn da mehr als fünfzig gleichzeitig auftauchen, wird’s eng.

Aber: Was soll’s? Die Cosplayer zu sehen war ja nur als Nebenattraktion geplant. Denn hinter der besagten Brücke befindet sich gleich der Eingang zum Meiji-Schrein. Einer der bedeutendsten Kulturschätze Japans. Hinter dem Tor muss man erst einmal einer Straße folgen, und man hat den Eindruck, man geht durch einen Wald. Ein grüner Fleck im Asphaltdschungel. Die Stadt ist völlig ausgeschaltet. Sieht man von einigen Stellen ab, wo man ein Hochhaus durch das Blattwerk erspähen kann oder von sporadischen Lautsprecherdurchsagen, die aus den Bäumen herausschallen. Ich schätze, dass die Straße etwas mehr als einen Kilometer lang ist, bis man an den Schrein gelangt, und ich muss sagen: Die hölzerne Tempelanlage ist recht beeindruckend. Tore und Gänge und Höfe. Und natürlich Verkaufsstände, wo man Talismane kaufen kann. Vor dem Heiligtum die obligatorischen Holzkisten, in die man Spendengelder werfen soll. Ich habe noch nie im Leben eine so große Sammlung von 1 Yen und 5 Yen Münzen gesehen. Ich erinnere daran, dass 1 Yen etwa 0,75 europäische Cent sind.

Mit dem Verkauf von Glücksbringern wird wahrscheinlich mehr Geld gemacht, und die haben auffällige Preise – aber immerhin handelt es sich hier um den Meiji-Schrein. Fast so gut wie Ise. Der Schrein von Ise ist, nach meinem aktuellen Verständnis, das Äquivalent zum Petersdom in Rom, was seine Bedeutung für die japanische Shinto-Religion betrifft. Und es gibt hier Glücksbringer für alles notwendige, also für Gesundheit, für Reisen… und für Schulprüfungen??? Ja, ich habe davon gehört, aber so richtig glauben kann ich das erst jetzt. Haben denn christliche Schüler einen besonderen Schutzpatron, der sie durch Prüfungen bringen soll? Melanie kauft einige Exemplare als Geschenke für Freunde und Familienmitglieder, und auch etwas für den „Eigengebrauch“. Da ich an solche Dinge nicht glaube, habe ich auch meine Bedenken, wenn es darum geht, so was zu verschenken. Für mich ist es nur ein hübsches Stück Stoff, in das ein Schriftzug eingearbeitet wurde.

Wir verlassen den Schrein wieder. Und begeben uns in eine vollgestopfte Ladenstraße. Positiv ausgedrückt: Eine belebte Ladenstraße. Und ihr Angebot richtet sich in erster Linie an junge Leute. Na ja, dies ist schließlich Harajuku. Oha, da: Ein 100 Yen Laden. Während die anderen drei ein Geschäft umkrempeln, in dem man Fotos von irgendwelchen Stars kaufen kann (darunter auch „Oliber Kahn“, weil den Japanern die Unterscheidung von stimmhaftem „v“ und „b“ schwerfällt), gehe ich mir zwei Tüten Krabbenchips besorgen, weil ich noch nichts gegessen habe. Der Fotoladen langweilt mich zu Tode. Die ganze Straße ist voll von Krempel, eher weniger als mehr nötig, und bietet hauptsächlich „hippe“ Kleidung. Ah ja, hip: Ein punkiges Outfit mit „No Future“ Krawatte und Hakenkreuzbinde. Schick…

Einige Zeit später landen wir im „Book Off“ von Harajuku. In Hirosaki gibt es ebenfalls eine Filiale der „Book Off“ Kette, aber ich bin noch nie dort gewesen. Wie der Name vermuten lässt, kann man dort gebrauchte Bücher kaufen. Aber nicht nur das; es gibt auch CDs mit Musik, DVDs und Videokassetten mit Filmen und Serien, und Spiele für jede denkbare Konsole. Nur PC (oder auch MAC) Spiele fallen mir keine auf. Und „gebraucht“ bedeutet, dass sich das Material in einem einwandfreien Zustand befindet. Die Preise sind angenehm. Eine normale CD kostet beispielsweise 950 Yen, also etwa 7 Euro. Man sollte halt nicht damit rechnen, toppaktuelle Titel zu finden. Aber fragen kann man auf jeden Fall… manchmal hat man Glück. DVDs kosten hier zwar weniger als im Neuwarenhandel, aber die Preise sind immer noch recht gesalzen und höher als deutsche Neupreise. Und… natürlich gibt es auch eine Ecke mit erotischem Material. Ich möchte nur insoweit auf diese eingehen, als mir das folgende „Phänomen“ (zum wiederholten Male) deutlich aufgefallen ist:
Auf dem Cover der DVD (oder der Videokassette) befindet sich ein Mädchen (was auch sonst), im Alter von vielleicht 12 Jahren. Ja, wirklich. Die dargestellte Person ist tatsächlich ein Kind und kein Schaf im Lammfell. Die Darstellung weckt bedenkliche Assoziationen, obwohl das Cover, objektiv und ohne irgendwelches Hintergrundwissen betrachtet, völlig harmlos aussieht. Mit Hintergrundwissen wirkt die Darstellung bedenklich. Aber auch auf der Rückseite ist ebenfalls nichts… Explizites zu sehen. Was bitte ist das? Ich habe bereits von solchen Videos gehört… bei dieser Art von Filmen, die ganz eindeutig für Pädophile gemacht sind (was ja eigentlich nur aussagt, dass der Betreffende Kinder mag, Konnotation hin oder her), werden die Kinder nicht angefasst. Und sie ziehen auch nichts aus. Außer vielleicht Jacken und Schuhe, falls sie ein entsprechendes Gebäude betreten. Hier wird in der Tat überhaupt nichts gemacht, außer die Mädchen bei ihrem täglichen Leben zu zeigen. Und bevor es wegen dieser Aussage Kritik hagelt und man mir Verharmlosung vorwirft: Ich bin mir sehr wohl dessen bewusst, dass es eine Menge Material gibt, das hart an der Grenze und auch jenseits davon liegt. Ich war in Akihabara. Aber bei dem, was ich hier in der Hand halte, handelt es sich meines Erachtens um nichts wirklich Verwerfliches. Der Verkauf von Kunstdünger, Zucker und Metallrohren ist ja auch nicht fragwürdig, nur weil man Bomben daraus basteln kann. Der Käufer macht aus einem Produkt eben das, was ihm am besten gefällt. Aber auch im Falle dieser „harmlosen“ Videos stellt sich die Frage, ob solche Aufnahmen ein wie auch immer geartetes Verlangen anstauen, oder ob sie eine Ventilfunktion haben. Auch über Hentai-Anime wurde schon (im Westen, Quelle unbekannt) die Vermutung angestellt, dass Frauen in Japan auch nach Anbruch der Dunkelheit auf der Straße relativ sicher seien, weil es Anime gibt, in denen den weiblichen Charakteren… äh… allerlei… „Unbill“ widerfährt… und nicht, obwohl es äußerst abartige Filme gibt.[1]

Aber genug davon. Ich wende mich den Musik CDs zu. Ich nehme einen Schemel, der den Angestellten eigentlich beim Einräumen in die oberen Regale dienlich ist, setze mich darauf und forste das gesamte Regal mit Anime-Musik durch, und noch das eine oder andere mehr. Ich gehe schließlich nach Hause mit den „Animetal Marathon“ CDs #1 und #4, dem „Hamtarô“ Soundtrack (ja, so einer bin ich), zwei CDs von „Fushigi no Umi no Nadia“ (was bei uns als „Die Macht des Zaubersteins“ = „Secret of Blue Water“ lief) und den OST von „Blues Brothers 2000“. Und weil ich schon immer ein solches Spiel haben wollte, kaufe ich für 350 Yen „Tokimeki Memorial Private Collection“ von 1996 für die Playstation (und hoffe, dass es sich um ein Dating Game handelt und nicht um einen sinnlosen Ableger der „Tokimeki“ Serie, wo man Kreuzworträtsel oder Geschicklichkeitsspielchen mit den Charakteren im Hintergrund bewältigen muss). Die Anleitung, die ich später erst in Augenschein nehmen kann, verheißt jedoch nichts Gutes[2], aber vielleicht kann man es ja wieder verkaufen. Mehr als 3 E werden bei E-Bay wohl drin sein. Um festzustellen, was ich denn nun eigentlich gekauft habe, muss ich in Hirosaki jemanden finden, der mir seine Playstation mal für einen Tag ausleiht. Leider kenne ich noch nicht einmal jemanden, der ein solches Ding besitzt. Melanie kauft eine Tüte voll mit Manga von CLAMP.

Wir gehen noch was essen, in einem recht günstigen Lokal mit dem Namen „Jonathan“, wenn ich mich recht erinnere. Teurer als „Saizeriya“, aber akzeptabel, und das Essen ist nicht schlecht. Nur von den Würstchen rate ich ab, die sind nicht berauschend.

Was mir an dieser Stelle viel mehr auffällt, sind die beiden Menschen am Tisch gegenüber. Und ich meine jetzt nicht die zwei Mädchen eine Ecke weiter, über die sich Ronald so ereifert, weil sie sich seiner Meinung nach völlig daneben benehmen. Ja, sie hängen in den Stühlen, anstatt darauf zu sitzen und sie bewerfen sich mit Papierkügelchen. Mindestens einmal. Aber sie scheinen die übrigen Gäste wirklich nicht zu stören. Ich persönlich finde sie weder herausragend laut, noch trifft mich irgendein Geschoss von dort. Die beiden sitzen auch links hinter mir, also betreffen sie mich wirklich nicht.

Nein, ich meine die beiden gegenüber links vor mir. Es handelt sich möglicherweise um Mutter und Tochter; letztere ist wohl 12 bis 14 Jahre alt und sieht meiner Meinung nach nur entfernt japanisch aus (abgesehen von der schwarzen Haarfarbe), aber der Punkt dabei ist, dass ich mir absolut sicher bin, die beiden in einer bestimmten Fernsehshow schon mal als Gäste gesehen zu haben, wo sie als „Mutter-Tochter“ Gespann aufgetreten sind. Hintergrund dieser Show ist der folgende: Mitarbeiter des Senders oder auch bekannte Showstars gehen mit einem Kamerateam auf die Straße und suchen nach Müttern mit Töchtern, wobei die Mutter überraschend jung aussehen sollte, die sie dann fragen, ob sie auftreten möchten und wie alt sie sind. Im Idealfall sollte die Mutter 20 Jahre jünger aussehen, als sie tatsächlich ist. Um die Spannung zu erhöhen, wird das Gesicht der Person im Clip der Vorschau elektronisch unkenntlich gemacht und wird erst in der Fernsehsendung selbst preisgegeben.
Und ich bin mir eben sicher, dass die beiden da in einer solchen Show angetreten sind und getanzt haben. Das Gesicht der Mutter sehe ich zwar nicht richtig, weil sie halb mit dem Rücken und halb mit ihrer linken Seite zu mir sitzt, aber das Gesicht der Tochter fand ich beim Ansehen der Show sehr markant. Ich bin mir absolut sicher, es schon einmal gesehen zu haben. So frech, einfach mal zu fragen, will ich dann aber doch nicht sein. Sogar ich habe Grenzen. Auch wenn das so mancher nicht glauben mag. Stattdessen amüsiere ich mich darüber, dass die beiden von dem bisschen, was sie bestellen, nur die Hälfte essen und den Rest offenbar dem Mülleimer überlassen. Warum geht Ihr essen, wenn Ihr keinen Hunger habt?

Wir müssen letztendlich zum Bus. Wir verabschieden uns und fahren um 22:20 los – mit SangSu, der sein Reiseziel offenbar gefunden hat. Aber warum er hier einsteigt, anstatt dort, wo er ursprünglich hätte aussteigen sollen… ah ja, die Reise hat hier ihren Startpunkt. Also drei Endpunkte in Tokyo, aber nur einen Startpunkt.

Auf den Bus und die Reise gehe ich morgen ein.


[1]   Wie ich bereits früher angedeutet habe, wird die Bedeutung von Anime in Japan von westlichen Medien maßlos übertrieben, und zum Thema Sicherheit der japanischen Straßen möchte ich hinzufügen, dass die Dunkelziffer wegen des gesteigerten japanischen Schamgefühls als hoch einzuschätzen ist: Misshandelte Frauen haben einen gesteigerten Hang dazu, die Tat zu verschweigen.

[2]  Es handelte sich in der Tat um ein Quizspiel mit Thema „Tokimeki“, und niemand wollte es kaufen.

Samstag, 27.12.2003 – Back to Akihabara

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 15:04

Nachdem gestern mein zweites Notizbuch voll geworden ist, fange ich heute morgen ein neues an. Und in Tokyo herrscht noch immer strahlender Sonnenschein, auch wenn der Wind hin und wieder etwas kühler ist.

Nachdem ich gestern bereits Hiroyuki in Akihabara getroffen habe, fahre ich heute gleich noch einmal hin, um Shizuka zu treffen; an der gleichen Stelle vor dem Bahnhof, „Ausgang Electric City“. Das heißt, ich habe ihr gesagt, dass wir uns am „Denkigai Deguchi“ treffen sollten, aber es gab ein kleines Missverständnis. Ich war vor ihr da und ging nach draußen, damit sie mich sofort sehen würde, wenn sie den Bahnhof verließ. Sie kam ein paar Minuten später, blieb aber drinnen. Auf diese Art und Weise entstand leider eine Verzögerung von 15 Minuten (bis 14:15) und es war gut, ein Telefon zu haben. Ich beschrieb meine Umgebung, inklusive des heute aufgefahrenen Blutspendebusses, bis sie mich dann von hinten ansprach. Sie sieht noch genauso aus wie vor zwei Jahren, allerdings möchte ich behaupten, dass ihre Haare länger sind als zu der Zeit, als sie in Trier war. Und ihre Finger verbiegt sie immer noch auf abstrus-abenteuerliche Weise, als sei es die normalste Angelegenheit der Welt. Es schockt mich immer wieder. Ich gebe mich übertrieben entsetzt. „Hidoi!“ sagt sie und lacht. So bin ich.

Da ich noch nichts im Bauch habe, gehen wir was essen. Und weil mir kein besserer Platz einfällt, gehen wir in das chinesische Restaurant, wo ich bereits gestern Abend mit meinen vier Freunden gewesen bin. Ich esse eine Portion Ramen mit Krabben, und es ist gut, aber… ich möchte an dieser Stelle einschieben, dass ich in Hirosaki bessere Ramen bekomme als zumindest in diesem Restaurant. Ich will ja nicht pauschal die Ramensuppe von ganz Tokyo den Ramen in Hirosaki unterordnen.

Ich folge Shizuka also in einen Laden mit dem Namen „Asobitcity“. Ein Haus voll mit Spielen und allem, was dazugehört. Ich sehe es mir aber vorerst nicht genauer an. In diesem Kaufhaus befindet sich die von Stefan beschriebene Schießbahn. Der Laden hängt voll mit Modellen aller gängigen Handfeuerwaffen. Revolver, halbautomatische Pistolen, vollautomatische Maschinenpistolen, Sturmgewehre… sehr schön anzusehen, aber fotografieren ist hier verboten. Ach, was soll’s, ich habe ein „AirGun Magazin“, da sind genug Bilder drin.
Wir kaufen Munition und mieten 30 Minuten. Shizuka hat Stefans Pistolen mitgebracht, es handelt sich um eine Desert Eagle AE und eine Beretta. Glaube ich zumindest. Das letztere Modell habe ich mir nicht so genau gemerkt, da es die halbe Zeit nicht so wollte, wie ich, und ich daher lieber die Desert Eagle benutzt habe. Die Desert Eagle verfügt über einen eingebauten Rückstoßverstärker, und es ist schon irgendwo cool, das Stück zu benutzen. Shizuka hat außerdem eine eigene Spielwaffe mitgebracht. Sie hat eine eigene… ich finde das wirklich interessant, weil ich derartiges Spielzeug erfahrungsgemäß nicht den Interessen von Frauen zuordne.

Die Bahn ist 20 Meter lang, eine eigentlich lächerliche Entfernung, und die Zielscheiben werden mit einem elektrischen Seilzug auf die gewünschte Entfernung gebracht. Fünf Meter, zehn Meter, 15 Meter, 20 Meter. Die Zielscheiben sind in einen Rahmen eingespannte Papierblätter mit verschiedenen Aufdrucken, sei es eine große Zielscheibe, mehrere kleine oder aber das klassische Personenziel mit Zielscheibe in der Herzgegend.
Ich bin gleich ein zweites Mal überrascht, als ich feststelle, dass Shizuka herzlich wenig Ahnung von dem Umgang mit den Airguns hat. Da sie eine eigene mitgebracht hat, ging ich eigentlich davon aus, dass sie das schon öfter gemacht hat. Umgekehrt war sie der Meinung, dass ich wüsste, wie das alles funktioniert. Ich habe so was allerdings noch nie in der Hand gehabt. Na gut, dann gehen eben ein paar Minuten dafür drauf, herauszufinden, wie man das Gas nachfüllt, die Plastikbälle schnellstmöglich in das Magazin presst usw. Ist ja nicht weiter schlimm.

Das Geschehen entwickelt sich wie folgt: Das Gas verbraucht sich sehr schnell, und nach drei verschossenen Magazinen muss ich das Gas nachfüllen. Vielleicht mache ich beim Nachfüllen etwas falsch, aber auf jeden Fall ist mir die Angelegenheit viel zu stressig. Des weiteren ist das Nachladen mit diesen winzigen Kügelchen viel zu fummelig. Und wenn schon, hätte man die realistische Munitionsmenge für die entsprechenden Waffen einrichten sollen, also 15 für die Beretta und sieben für die Desert Eagle. Es passt zu viel rein, um realistisch zu sein, aber zu wenig, um so richtig auf Touren zu kommen… und da andauernd so viele Bällchen reinzustopfen… nein, nicht ich, Herr. Und zuletzt ist die Munition viel zu leicht. Auf 20 Meter kann man (bei Windstille im Laden) bereits um die Ecke schießen. Die Munition fliegt nicht dorthin, wo ich sie haben will, die Abweichungen nach oben, unten, links und rechts sind viel zu extrem. Ich möchte erwarten können, dass ich auf 25 Meter noch zielgenau schießen kann, wenn ich auch eine ruhige Situation als Grundlage nehme. Hier ist es ruhig (abgesehen von unserem Nachbarn, der eine vollautomatische Airgun ausprobiert), aber die Abweichung ist einfach immens.

Ich gebe definitiv meinen Plan auf, an einem Spiel in Japan aktiv teilzunehmen. Diese Airguns sind optisch ganz hervorragend realistisch gearbeitete Modelle, und sie machen sich in der Vitrine richtig gut, zum Ansehen und zum dran Herumspielen, wenn man mal wieder ein Rollenspiel in gemütlicher Runde im Keller laufen hat. Aber spielfeldtauglich nenne ich das nicht. Ergo: Ich bleibe beim Paintball. Mein Tank (12 Unzen Gas) reicht aus, um etwa 1000 Kugeln zu verschießen, das Nachladen ist einfacher, weil man die Munition einfach in den Loader schütten kann, anstatt sie einzeln reinzupressen, und es passen 200 Kugeln in den Loader. In meinen zumindest. Ich kann beim Paintball auch noch bequem auf 50 Meter jemanden aufs Korn nehmen. Diese Entfernung ist zwar bereits als „weit“ einzustufen, aber die Gefechtsentfernungen sind eh seltenst größer. Auf 20 Meter habe ich auf jeden Fall und ohne Probleme nur eine minimale Abweichung. Außerdem sehe ich mehr Spielspaß beim Paintball. Nicht zuletzt, weil bei Treffern die Farbe spritzt und man auch was von den Treffern spürt… und das Adrenalin spielt stärker mit.

Nach Ablauf der halben Stunde habe ich quasi allein gespielt, die Kosten aber fifty-fifty aufgeteilt. Natürlich ist das ungerecht, denn Shizuka hat die ganze Zeit nur nachgeladen und mir anderweitig geholfen. Also vereinbaren wir, dass wir eine weitere halbe Stunde mieten, wo Shizuka zum Zug kommen sollte und ich den Ladeschützen spiele. Leider steht hinter uns bereits der nächste Kunde, also müssen wir eine Weile warten. In diesem Zeitraum gehen wir in die CD Abteilung. Es gibt ja immer noch etwas Musik, die ich gerne hätte. Hier gibt es eine Option, die mir in Hirosaki sehr fehlt: Man kann an einem Computerterminal mit einem Touchscreen und mit Hilfe von Kopfhörern Lieder von CDs abrufen, um zu entscheiden, ob man diese oder jene CD auch kaufen möchte.

Ich höre in „Stop and Go“ von Ogata Megumi rein, während Shizuka die Lage an der Schießbahn überprüft, und beschließe umgehend, die CD zu kaufen. Megumis Gesangsleistung ist auf dieser Scheibe zwar ein wenig „trashig“, aber ich mag ihre Stimme. Und sie kann in der Tat singen, wenn sie will. Die CD beschäftigt sich mit dem aktuellen Weltgeschehen, und ich möchte annehmen, dass sie ihre Ablehnung der Umstände zum Ausdruck bringen will. Und wenn ich schon dabei bin, kaufe ich die „Love, Love, Manhattan“ Single der Band TOKIO, weil Melanie so sehr an dem Lied hängt und ich es ebenfalls nicht schlecht finde. Shizuka kommt schließlich zurück und sagt, dass die Bahn jetzt frei sei. Also noch einmal 30 Minuten. Und ich stelle fest, dass sie dabei mehr Spaß hat, als ich. Das sei ihr gegönnt. Wegen der gemachten Erfahrungen geht ja auch alles flotter.

Zuletzt machen wir einen Abstecher in die Buchabteilung. In der Ecke für „Shônen Ai“ ist ein Buch nicht zu übersehen: Von dem Umschlag springt mich ein Hakenkreuz an, diesmal ein „deutsches“, auf der entsprechenden rot-weißen Flagge, davor sitzen zwei laszive junge Männer in SS-Uniformen. Ich muss die Zusammenfassung auf dem Buchrücken nicht erst lesen, um zu wissen, um was es grob geht. „Shounen Ai“ bedeutet, dass es sich um Geschichten mit homosexuellen Inhalten handelt, und in diesem Fall… vor einem offensichtlichen historischen Hintergrund. Nach meinem Empfinden handelt es sich bei „Shônen Ai“ um einen Unterbegriff von „Yaoi“ – aber ich kann mich irren, da ich in diesem Bereich aus verständlichen Gründen ein Laie bin. Die aufgedruckte Zusammenfassung verrät mir allerdings, dass der Protagonist „Rolf Schwarz“ heißt. Ich fühle mich nicht sehr geehrt. Gleich doppelt angeschmiert. Dass der Held „Schwarz“ heißt, ist ja noch tolerierbar, aber „Rolf“? ich würde nicht so heißen wollen. Na denn prost.

Ein paar Meter weiter steht ein Regal mit eingeschweißten Fotoalben von „Idols“. Ein englischer Begriff, unter dem man in Japan hübsche junge Damen (und wohl auch Herren) versteht, die im Showbusiness tätig sind, meist Sängerinnen.[1] Diese Fotoalben sind im extremsten Fall „erotisch“ zu nennen, aber weniger als einen Badeanzug haben die Damen für gewöhnlich nicht an. Hier geht es in erster Linie um Ästhetik, in zweiter Linie um Frischfleisch. Zumindest offiziell. Und weil ich heute Mittag auf dem Weg in das Restaurant wegen einer Werbung eine entsprechende Bemerkung gemacht habe, zeigt Shizuka sofort auf einen bestimmten Band: „Nakama Yukie“. Aaaaah… die hübscheste Frau Japans (nach meiner bescheidenen Meinung), Jahrgang 1979. Kostenpunkt: 2500 Yen. Ich habe Interesse. Aber das Cover zeigt sie in einem Badeanzug. Das ändert meine Meinung. Wäre ich „normal“, hätte ich breit gegrinst und das Buch gekauft. Aber ich bin „seltsam“ und lasse es. Man mag meine Beweggründe, den Kauf zu unterlassen, naiv finden, und ich habe auch gar nichts dagegen, weil sie vermutlich naiv sind, aber ich habe von Nakama Yukie ein bestimmtes Image im Hinterkopf, und ich befürchte, dass der Inhalt mein Bild von ihr zerstören könnte, wenn ich das Buch ansehe. Nakama Yukie scheint mir eine sehr lebendige und selbstbewusste Person zu sein, und ich lege keinen Wert darauf, Bilder von ihr zu sehen, auf denen sie lasziv oder gar… (ja, wie eigentlich?) abgebildet ist Die englischen Begriffe „docile“ und „submissive“ gehen mir als Beschreibung der Darstellungsweise durch den Kopf. Vielleicht werde ich die Entscheidung irgendwann einmal bereuen, aber so ist das Leben.

Um 17:30 verabschiedet sich Shizuka plötzlich. Sie muss wegen einem Konzert um 18:30 in Shinjuku sein. Also sagen wir uns „Mata ne“, und in der Eile vergesse ich völlig, ein Bild von Ihr zu machen. Sie wird mir eines per Mail schicken müssen. Da ich jetzt auf mich allein gestellt bin und noch keinen Treffpunkt mit den anderen drei ausgemacht habe, beschließe ich, in Akihabara noch ein bisschen spazieren zu gehen. Vielleicht findet sich ja doch noch etwas, das mich interessiert, oder etwas, was sich verkaufen lässt (und gleichzeitig nicht wegen expliziten Inhalts gesperrt werden kann). Aber es findet sich nichts. Stattdessen laufe ich, und das ist kein Witz, zufällig Ronald, Ricci und Melanie über den Weg, die gerade aus Shibuya zurückgekommen sind und sich ebenfalls mehr oder weniger planlos einfach mal hier umsehen wollten. Na, dann muss ich mir ja keine Gedanken machen, wie ich gegebenenfalls zu einem wie auch immer gearteten Treffpunkt komme. Wir sehen uns gemeinsam noch ein wenig um, ohne etwas Bedeutendes zu kaufen oder zu sehen, abgesehen von den zwei Millionen Leuten, die einem auf der Straße Werbegeschenke in die Hand drücken, meist Taschentücher oder auch kleine Handtücher (weil japanische Toiletten in der Regel keine Handtücher bereitstellen). Einzig erwähnenswert ist mein Besuch bei einem der „au“ Werbestände. „au“ ist eine japanische Telekommunikationsfirma, man kann da also Verträge für Handys abschließen. Das interessiert mich natürlich überhaupt nicht – mich interessiert dieses große Stoffposter von etwa 1,50 m Höhe und 50 cm Breite, das die Person zeigt, die momentan der Werbeträger von „au“ ist: Nakama Yukie.

Leider kann das Poster weder verschenkt werden noch „auf seltsame Art und Weise verschwinden“. Die Mitarbeiter hier sind unbestechlich. Man teilt mir mit, dass ich warten müsse, bis die Werbekampagne ausgelaufen sei. Dann würden die Poster und all das irgendwie entsorgt und man könne ein solches Plakat bekommen. Hm… es gibt „au“ Geschäfte in Hirosaki…[2]

Kurze Zeit später fahren wir nach Odaiba zurück. Im „Daily Yamazaki“, das ist, wie ich schon angedeutet habe, einer der 24 Stunden am Tag geöffneten „Konbini“ Läden (wie auch „Circle K“, „Hotspar“ oder „Mini Stop“ und wie sie alle heißen), kaufe ich spontan eine Pappschachtel mit der Aufschrift „World Panzer Museum“, für 300 Yen. Der Aufdruck auf der Rückseite scheint auszusagen, dass es sich bei dem Inhalt um ein Panzermodell aus dem Zweiten Weltkrieg handelt, aber es ist dem Zufall überlassen, was für ein Typ enthalten ist. Kauft man mehrere, besteht also die Chance, dass man das selbe Modell erhält. Zu meiner großen Freude befindet sich in meiner Schachtel ein „Tiger“. Sieht ganz gut aus. Vielleicht werde ich irgendwann noch mehr von diesen Schachteln kaufen. Interessierte Freunde habe ich ja (bestimmt).


[1] Das trifft es aber nicht. Die japanische Industrie will ihre Idols multimedial über alle Sparten hinweg vermarkten, also kann man dieser Personengruppe nicht pauschal einen „Hauptberuf“ zuordnen. Die einen machen vielleicht mehr dies, die anderen mehr das, je nach Meinung der Marketingabteilung.

[2]  Nach meinem Besuch der Filiale in Hirosaki einige Tage später musste ich allerdings erfahren, dass das Poster Teil einer Werbekampagne war, die sich auf den Raum Tokyo beschränkte.

Freitag, 26.12.2003 – Lange nicht gesehen!

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 14:21

Um 14:00 treffe ich meinen ehemaligen Tandempartner Honda Hiroyuki am Bahnhof von Akihabara. Die anderen drei gehen lieber in einen Freizeitpark. Es handelt sich dabei übrigens um den Park, in dem die SailorMoon (2003) Episode Nummer 7 gedreht wurde. Aber ich bin in Akihabara und nachdem mir Hiroyuki schon im Vorfeld die Nase lang gemacht hatte, wollte ich das dortige Angebot auch einmal live und in Farbe sehen. Wir kämmen eine Handvoll Läden nach Dôjinshi durch (Dôjinshi sind inoffizielle Manga in Anlehnung an existierende Serien, die von Fans gemacht werden und oft erotische Inhalte vermitteln). Das heißt, ich „kämme“ und hoffe, dass er sich dabei nicht allzu sehr langweilt. Ich hoffe auch, irgendwann Zeit und Gelegenheit für einen „gesitteten“ Besuch zu haben, der mehr auf Dialog als auf Sightseeing ausgelegt ist.[1]

Ich finde ein „One Piece“ Dôjinshi für Melanie in guter Zeichenqualität, aber leider handelt es sich dabei um „Yuri“ und nicht um „Yaoi“. Jugendfrei kurz gefasst handelt es sich bei so genannten „Yuri“ Produkten um Geschichten mit ausschließlich weiblicher Besetzung, während „Yaoi“ sich um männliche Protagonisten und ihre Abenteuer dreht. Beides ist dem Bereich der Homoerotik zuzuordnen, und die Skala geht von „zart“ bis „hart“, mit nach oben offener Skala, je nach Zeichner. Für einen anderen Bekannten kaufe ich zwei Bände der Serie „Yuri and Friends“ des Zeichnerteams Saigadô.

Mein Blick in die Läden verrät mir, dass ich alles, was mich interessiert, bereits auf einer DVD-ROM als Datensatz gespeichert und abrufbereit habe. Jedes Mal, wenn ich ein interessantes Cover entdecke, stelle ich auf der Previewseite (so vorhanden) fest, dass ich die Geschichte schon kenne. Die Bände sind alle in Plastikfolie verpackt, um einer Wertminderung durch Probelesen entgegenzuwirken. In manchen Geschäften gibt es dafür extra Leseproben und oft genug gibt es in der Plastikfolie zusätzlich eine kopierte Seite, damit man eine Ahnung davon bekommt, was man in der Hand hält. Vielleicht hätte ich allerdings die großen (größer als DIN A4!) farbigen EVA Dôjinshi („Rei only“) kaufen sollen, die wären ihr Geld wahrscheinlich wert gewesen… aber was soll’s. So sehr zieht es mich auch nicht mehr zu Manga und Anime Dôjinshi. Natürlich hätte ich auch eine der neueren Sammlungen kaufen können, mit einem breiten Spektrum von verschiedenen „Parodien“, aber da besteht für mich immer die Gefahr, dass 90 % davon Mist sind, mit dem ich nichts anfangen kann.

Die Zeit fliegt dahin und weiß nicht, wo sie bloß geblieben ist. Während ich ein Regal mit preisreduzierten Manga Dôjinshi durchforste, ruft Ricci an und fragt, wann wir uns denn wo treffen könnten. Wir einigen uns auf den Laden „Animate“. Es handelt sich um ein recht großes Geschäft, das so ziemlich alles verkauft, was mit Anime zu tun hat. Wir treffen uns, inklusive Hiroyuki, etwa um 19:00 vor dem Laden, um diesen im Anschluss sofort zu betreten. Und ich erhalte Gelegenheit, auch „normales“ Merchandising zu sehen und zu kaufen. Ich kaufe ein paar Bilder von Nami (ein Charakter des „One Piece“ Anime), drei Cels des SailorMoon Anime, einen Kalender der SailorMoon Realserie, eine CD von Miyamura Yûko (die Originalstimme von Asuka, die eigentlich gar nicht singen kann, aber ein starkes Organ hat) und den „Animetal Marathon IV“. I-III habe ich leider auch in Akihabara nicht gefunden. Offenbar sind die CDs eine Spur zu alt. Und wenn ich auf alle übrigen vielleicht verzichten kann: Das Original des „Animetal Lady Marathon“ muss ich haben. Ich habe bereits vor einiger Zeit eine Kopie auf eine CD gebrannt, aber das Original ist die Investition wert. Zuletzt erhalte ich ein Poster als Werbegeschenk. Ich habe keine Ahnung, wer oder was die Figuren auf dem Poster sind, aber andernorts wird das selbe Poster für 800 Yen verkauft, also lasse ich mich nicht zweimal bitten.

Und mittendrin ruft mich Shizuka an. Sie sagt, sie habe morgen Zeit, mich zu treffen, auch um die Angelegenheit mit Stefans Airguns ein wenig weiter zu bringen, die der bei ihr gelagert hat. Außerdem hat Stefan mir erlaubt, seine Pistolen für ein Probeschießen zu leihen.[2] Und treffen könnten wir uns gleich an Ort und Stelle in Akihabara, weil der Schießstand eben dort ist. Sie werde mir den Laden morgen zeigen. Das ist mir Recht, also wird mir auch morgen nicht langweilig sein. Da wir, Ricci, Ronald, Melanie und meine Wenigkeit, außerdem beschlossen haben, morgen den Fischmarkt zu besuchen, werde ich morgen wahrscheinlich auch viel zu müde sein, um ein Gefühl von Langeweile entwickeln zu können… wenn wir zur richtigen Zeit da sein wollen, um das frischeste Sushi der Welt zu kosten, müssen wir um 04:00 aufstehen. Und nach dem Fischmarkt wollten wir noch ein berühmtes Kabukitheater ansehen… das heißt das Gebäude, kein Theaterstück. Für Kabuki kann ich kein Interesse aufbringen – man wird von Farben erschlagen. Das ist mir zu grell. Ich wage dieses Urteil nach einer TV-Vorführung im Rahmen der Vorlesung über japanische Theaterformen von Frau Professor Scholz-Cionca. Und da „ein Gebäude betrachten und fotografieren“ ja allerhöchstens 15 Minuten dauern kann (den Theaterspezialisten werden sich jetzt bestimmt die Haare sträuben), habe ich bestimmt genug Zeit für alles.
Fischmarkt, Sushi, Kabuki, Shizuka, Schießstand. FSKSS.

Wir gehen abschließend zu fünft zum Essen, chinesisch, und im Anschluss wieder zum Bahnhof. Ich lasse ein Foto von Hiroyuki und mir machen (Ronald ist so freundlich, das zu übernehmen) und ich trenne mich wieder von „HH“ für unbestimmte Zeit. Was mich daran erinnert, dass ich ihm eigentlich das Foto schicken wollte. Es war schön, ihn mal wiederzusehen. Der Typ sieht noch genauso aus wie vor drei Jahren und auch im Kopf scheint er sich nicht auffällig verändert zu haben. J

Um 23:25, zurück in Odaiba, sagt uns ein Blick auf die Uhr allerdings, dass wir um 04:00 keine Lust haben werden, aufzustehen (obwohl, wie manche vielleicht wissen, Lust nur für Tiere und Liebesspiele gut ist), also vergessen wir den Fischmarkt wieder. Wir suchen nach Ausweichmöglichkeiten, finden aber nichts Konkretes. Ja, eigentlich finden wir gar nichts. Ich wollte nur, dass sich der Satz besser anhört. Wenn doch noch eine Entscheidung gefällt wurde, ist sie mir entgangen. Stattdessen sitzen wir Stunde um Stunde da und reden drauflos. Obwohl ich vor Müdigkeit bald vom Stuhl falle.


[1] Diese Hoffnung hat sich mangels ausreichenden Einkommens in den letzten 20 Jahren nicht realisieren lassen.

[2] Stefan hatte sich in Japan begeistert zwei Airguns im Pistolenformat gekauft und sich erst danach überlegt, dass dies Probleme mit dem deutschen Zoll ergeben könnte. Er bat also Shizuka, die Objekte zu lagern, bis er eine Lösung gefunden hatte. Die Lösung war ich, weil meine Mutter in Frankreich lebt, wo man solches Spielzeug weniger kritisch betrachtet. Allerdings dauerte es über drei Jahre, bis Shizuka an den (bereits bezahlten) Versand dachte; Stefan hatte bereits vor jenem Zeitpunkt Probleme mit seinen Eltern, die endlich seine Hinkehr zum ernsthaften Leben eines Erwachsenen sehen wollten, also schenkte er die Dinger kurzerhand mir – lange, bevor sie in Frankreich eintrafen und so irgendwann in meinem Schrank landeten.

25. Dezember 2023

Donnerstag, 25.12.2003 – … for Science!

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 7:00

Eigentlich haben wir gestern beschlossen, auszuschlafen, aber um 10:00 sind wir nach sechs Stunden Schlaf wieder wach genug, um aufzustehen und den Tag zu beginnen. Mit Ausnahme von Ronald vielleicht. Wir wollen heute in das naturwissenschaftliche Museum unweit von hier gehen. „National Museum of emerging Science and Innovation“ nennt sich das auf Englisch, „Nihon Kagaku Mirai Kan“ auf Japanisch. Deutsche Übersetzung? Hm… „Japanisches Museum für Zukunftsorientierte Wissenschaften“? Da das Museum nicht weit ist, beraten wir, was wir im Anschluss noch machen könnten, aber da Museen in Japan offenbar generell zwischen 16 und 17 Uhr schließen, bleibt uns beim Thema Museumsbesuch nicht viel, denn der glorreiche Rest der stadtweit vorhandenen Besichtigungsoptionen wird von den momentanen Schulferien quasi „vernichtet“, weil viele Museen mit Universitäten gekoppelt sind; und die haben wegen der Ferien geschlossen. Hinzu kommt, dass wir aufgrund verschiedener Faktoren erst um 13:00 wegkommen, also fällt gleich alles ins Wasser, was mit Öffnungszeiten zu tun hat.

Und wenn ich schon bei nebensächlichen Faktoren gelandet bin, muss ich gleich noch auf eine weitere Option zu sprechen kommen, die ich an modernen japanischen Toiletten entdeckt habe: Ein Modell, das ich in Tokyo verwendet habe, besitzt die Eigenschaft, Wasser tröpfeln zu lassen, sobald man sich draufsetzt, was in kürzester Zeit wahre Sturzbäche auszulösen im Stande ist. Und neben der Toilette hängt ein Schild, auf dem zu lesen ist: „Wenn sie die Toilette benutzen möchten, klappen Sie vor dem Setzen bitte den Deckel hoch.

Ich habe gegenüber vom Wohnheim auch eine Baustelle gesehen. An sich ist das nichts spannendes, aber die Bauarbeiter hier haben eine besondere Eigenschaft, über die man in Deutschland zweifelsohne den Kopf schütteln wird: Die Jungs tragen an ihren Füssen quasi Stofflappen mit Sohlen, anstatt, wie unsereiner gewohnt ist, eine Art Unfallschuhe mit Stahlkappen zum Schutz vor herabfallenden Gegenständen – was ja am Bau durchaus vorkommen kann, und wenn es nur ein Pflasterstein ist. Auch Pflastersteine machen Aua am Fuß. Ich denke, dass stabiles Schuhwerk doch sehr zur Gesunderhaltung beitragen kann.

Nachdem ich gestern festgestellt habe, dass man die Außenbereiche des Schifffahrtsmuseums einfach so umsonst betreten kann, will ich heute die Gelegenheit nutzen, ein paar Fotos von dem „Emily“ Flugboot (Bj. 1941) machen, aber die Zeit ist gegen mich und ich finde keine Gelegenheit dazu. Wir gehen ja zum Museum, und der Eintritt kostet dort 500 Yen.

Die Mitarbeiter sind irgendwie auffällig. Die Damen sind alle um die dreißig (eine vorsichtige Schätzung meinerseits) und tragen grüne Hemden, während die Herren allesamt ein Stück älter als 50 sind und ein Überhemd tragen, auf dem „Volunteer“, also „Freiwilliger“, geschrieben steht. Alle Mitarbeiter sind natürlich sehr beeilt, alles mögliche zu erklären, wenn man auch nur ein ratloses Gesicht zu machen wagt. Der Service ist also erstklassig, aber ein gewisses Können in Sachen Japanisch sollte man haben, um einer Erklärung folgen zu können, die notwendigerweise eine ganze Wagenladung von Fachbegriffen enthält. Die meisten Exponate benötigen glücklicherweise keine Erklärung und sind gewissermaßen „selbsterklärend“. Zumindest in einem gewissen Maße.

Da steht zum Beispiel eine vierachsige Limousine, die äußerst bequem ist. Aber den tieferen Sinn der Tatsache, dass ausgerechnet dieses Modell hier steht, ist mir nicht klar geworden. Ebenso wenig wie das Foto, das ich davon gemacht habe, weil ich den Zoom falsch auf „Nahaufnahme“ eingestellt habe. 🙁

In der Halle, an deren Rand das Auto steht, hängt ein Globus von etwa drei Metern Durchmesser, wie ein kugelrunder Fernseher. Die vielen kleinen Dioden auf dem Globus zeigen als Gesamtbild Satellitenaufnahmen von der Erde, viele Bilder zu einem großen zusammengesetzt, und die Aufnahmen werden ständig aktualisiert. Manchmal wechselt die Darstellung und man erhält eine Infrarotaufnahme, oder eine Darstellung der globalen Windverhältnisse. Am Rande der Halle befinden sich Liegestühle, von denen aus man bequem die Erdkugel wie aus dem Weltraum betrachten kann.

Der Globus

In der Umweltabteilung nebenan werden Recyclingverfahren vorgestellt. Man kann eine Brennstoffzelle bei der Arbeit beobachten und es gibt offenbar eine Art Plastik, die weniger als ein Jahr benötigt, um vollständig zu zerfallen. Es gibt auch Aktionsexponate, wo man mikroskopische Geräte bedienen kann. Ein Bildschirm zeigt die starke Vergrößerung einer Zange und man hat eine Minute Zeit, mit dieser Zange einen bestimmten Zapfen des kleinen Apparates zu ergreifen. Das Prinzip einer Magnetschwebebahn wird ebenfalls vorgeführt und ich finde die Bahn nicht weniger interessant als die zahlreichen Kinder, die zum Teil mit offenem Mund die Wagen beobachten, wie sie sich zwei Zentimeter über der Unterlage schwebend exakt der Schiene folgend fortbewegen.

Unscharfe Schwebebahn

Weiter hinten steht eine Maschine, die… ja, was macht die eigentlich? Die Anordnung von Motoren, Zahnrädern und Steuerelementen wird belagert von Kindern. Ich sehe denen eine Weile zu, um herauszufinden, was diese Maschine eigentlich macht. Da ist ein Eingabefeld, das aus 10×10 Bällen schwarzer und weißer Farbe besteht. Man kann die Bälle anordnen, wie man will und sagt dann der Maschine, dass sie loslegen soll. Die Maschine erkennt den Unterschied zwischen den beiden Arten von Bällen und empfindet dann das ausgelegte Muster in einem zweiten Feld nach. Das scheint mir alles zu sein.

Golfballordner

Es gibt auch kleine Roboter, die man mit einem Steuerknüppel lenken kann. Es handelt sich um kleine Geräte an einem Greifarm, die aussehen wie kleine elektrische Wischmobs mit rotierenden Scheiben an der Unterseite. Aber eigentlich machen sie nicht viel, außer sich mit viel Lärm an ihrem Steuerarm nach links, rechts, vorne und hinten zu bewegen.

Was machen Sie hier?

Die anderen Robotfahrzeuge haben für meine Augen mehr Sinn: Sie sind entworfen für unwegsames Gelände und für den Einsatz nach Katastrophen.

Der „Held“ der Roboterabteilung ist natürlich der „ASIMO“ von Honda. Oder eigentlich müsste man sagen, dass ASIMO „die Heldin der Roboterabteilung“ ist… ASIMO wurde von der Firma Honda mit einer weiblichen Stimme ausgestattet, also personifiziere ich das Gerät einfach mal. Es handelt sich bei dem Roboter um eine humanoide Maschine mit Kopf, Augen (das heißt „paarigen optischen Sensoren“), zwei Armen und Beinen. Sieht ein wenig wie ein kleiner Astronaut aus. Sie ist 120 cm groß und 52 kg schwer, reagiert auf ihre Umwelt, man kann ihr Fragen stellen, sie grüßt und winkt, und wie ein Video beweist, kann sie auch einen japanischen Fächertanz auf Parkett legen.

Die Assistentin erklärt uns weiter, dass Roboter bei der momentanen Entwicklungsgeschwindigkeit in spätestens fünfzig Jahren in der Lage sein sollten, eine menschliche Mannschaft im Fußball schlagen zu können. Sie weist uns außerdem darauf hin, dass die Bezeichnung „ASIMO“ nichts mit Isaac Asimov, einem der berühmtesten Science-Fiction Autoren aller Zeiten und Erfinder der „Robotergesetze“, zu tun habe. Es handelt sich bei ASIMO um ein Akronym, eine Abkürzung mittels Anfangsbuchstaben. „ASIMO“ steht für “Advanced Step in Innovative Mobility”, also etwa für „Fortschrittliche Stufe Neuerer Beweglichkeit“? Ich glaube, ich habe noch nie den Versuch gemacht, „innovativ“ zu übersetzen und mir fehlt dazu gerade das Wörterbuch.

ASIMO diene nur der Unterhaltung, sagt die Assistentin, und solle den Menschen Spaß bereiten. Da die Frau die Grundregeln der englischen Sprache beherrscht, lasse ich es mir nicht nehmen, mit ihr eine japanisch-englische Diskussion über die Ethik solcher Entwicklungen zu führen. Mehr Englisch als Japanisch, wie ich zugeben muss.

Zum Beispiel bin ich der Meinung, dass Roboter nicht so intelligent werden dürfen, dass sie in der Lage sind, sich ihrer eigenen Existenz bzw. Situation bewusst zu werden oder anfangen, kreativ zu denken. Sollten sie das jemals können, kann man sie eben nicht mehr skrupellos als Arbeitstiere einsetzen, sondern muss ihnen menschliche Rechte einräumen. Außerdem kann ich mir denken, dass viele Menschen Angst davor haben, dass eine Maschine menschliche Eigenschaften entwickeln könnte. Menschen mögen keine Dinge, die sie fürchten. Das gibt nur Ärger. Roboter dürften im Hinblick auf die prognostizierte Fähigkeit, Menschen beim Fußball schlagen zu können, billige (und willige) Arbeitskräfte werden. Sie müssen weder schlafen noch essen oder trinken, sie haben keine Lebenshaltungskosten im menschlichen Sinne, die der Arbeitgeber in Form von Lohn tragen müsste, um sich die Belegschaft zu erhalten. Und Roboter streiken auch nicht. Das dürfte vielen Leuten, die von ihrer Hände Arbeit leben, nicht gerade Behagen bereiten.
Und weil ich Menschen generell pauschal für gefährlich halte, sind auch die von ihnen entworfenen Roboter potentiell gefährlich, vor allem, wenn sie zu intelligent werden. Ich frage, ob denn nicht jetzt schon kriegerische Anwendungsmöglichkeiten absehbar seien? Natürlich heiße es offiziell, dass die Roboter nur friedlichen Zwecken dienen sollten, aber wer wacht – mit welcher Autorität? – darüber, dass das auch so bleibt? Und wer sucht diese Wächter aus?
Ich bin nicht sicher, ob sie meine Argumente nachvollziehen konnte oder ob sie einfach an ihr vorbeigegangen sind. Eine nette Gesprächspartnerin, aber entweder sieht sie mit unglaublichem Optimismus in die Zukunft – oder sie ist einfach uneinsichtig. Sie glaubt an das Gute im Roboter und lässt sich nicht beirren. Ich für meinen Teil habe reichlich wenig Vertrauen in die Kreativität der Menschen. Sprengstoff wurde auch mal erfunden, um im Osten bunte Feuerwerke an den Himmel zu zaubern und im Westen Bergleuten die Arbeit zu erleichtern.
Ich mache ein Bild von ihr vor dem ASIMO und versichere, dass das Bild nur privaten Zwecken zugeführt werde.

Helferin und ASIMO

Asimovs Robotergesetze wären übrigens in der Tat eine lohnende Beigabe. Kriege ich sie zusammen?

  1. Ein Roboter darf niemals einem Menschen schaden
  2. Ein Roboter muss den Befehlen seines Besitzers unbedingt Folge leisten
  3. Ein Roboter darf keinen Befehlen Folge leisten, die Punkt 1. widersprechen

Der „Bicentennial Man“ ist übrigens eine von Asimovs schwächeren Geschichten.

Zurück zum Museum. Die Abteilung für Naturwissenschaft zeigt den Aufbau des menschlichen Gehirns und den Vergleich mit den Gehirnen verschiedener Tierarten, und man versichert uns, dass es sich bei den Scheiben um echtes Gewebe handele. Ein DNA-Strang aus Plastik steht in der Gegend herum, des weiteren eine Weltraumwohneinheit, wie die ISS sie verwendet, und eine Reihe von Stücken, die die Manipulationsfähigkeit des Gehirns darstellen. Da ist zum Beispiel eine Brille, die die Oben-Unten-Wahrnehmung vertauscht. Damit ausgestattet, soll man nun versuchen, einen Stab durch Löcher in einer Platte zu schieben. Das ist nicht so einfach, wie es sich vielleicht anhört und es kostet eine Menge Konzentration, wenn man sich nicht anstellen will, wie ein komplett Betrunkener.

Interessanter fand ich den phonetischen Versuch daneben. Zuerst sieht und hört man sich die Artikulation der Silben „ba“ und „ga“ an, die man mit den ersten beiden Auswahlfeldern aktivieren kann. Das heißt, man hört die Laute und sieht gleichzeitig auf dem Bildschirm den Sprecher mit der dazu gehörenden Mundbewegung, beides passt also zueinander. Das dritte Auswahlfeld dagegen verwirrt meine Freunde und die fragen sich, was da nun eigentlich gezeigt werden soll. Sie sagen, sie hören in der ersten Auswahl „ba“, in der zweiten „ga“ und bei der dritten schließlich „da“. Ich glaube, wenn man die japanische Erklärung nicht verstehen kann oder keine Ahnung von Phonetik hat, bleibt einem der Sinn des Apparates verschlossen. Da ich zumindest ein Basiswissen im Bereich Phonetik habe, interpretiere ich die Vorführung in diesem Moment wie folgt:

Die Augen sehen, dass die Sprecherin auf dem Bildschirm „ga“ artikuliert, aber aus dem Lautsprecher kommt der Laut „ba“. Die Ohren hören also was anderes, als das, was die Augen aus der Mundbewegung interpretieren, und als Ergebnis erreicht der Laut „da“ unser Bewusstsein. Unsere Wahrnehmung ist wegen der widersprüchlichen Eingabe verwirrt und wählt einen Mittelweg. Ich bin so froh darüber, dass ich sicher bin, die Lösung gefunden zu haben, dass ich darüber (schlau!) vergesse, den Namen des vorgeführten Effektes zu notieren. „McMurk“ oder „McGurk-Effect“ könnte der heißen, aber das klingt nur vage vertraut und eigentlich so seltsam, dass ich kaum glauben mag, dass es richtig sein könnte. Aber: ich bin richtig gut – die Seite http://www.media.uio.no/personer/arntm/McGurk_english.html1 bestätigt meine Theorie:

Most adults (98%) think they are hearing “da” – a so called “fused response” – where the “d” is a result of an audio-visual illusion. In reality you are hearing the sound “ba“, while you are seeing the lip movements “ga“. The “McGurk effect” was first described by Harry McGurk and John MacDonald in “Hearing lips and seeing voices”. (Nature 264, 746-748; 1976).

Und da gibt es das Ganze ausführlicher: http://www.haskins.yale.edu/haskins/HEADS/mcgurk.html2

Wir entdecken noch ein Infrarotgerät, das dazu eingesetzt wird, um Leute mit Fieber (wegen SARS) schon bei der Einreise an ihrer erhöhten Temperatur erkennen zu können. Es misst auf 0,1 Grad Celsius genau. Hier im Museum dient das Gerät natürlich der Unterhaltung. Ein älterer Herr steht da und drückt jedem, der möchte, eine Flasche mit eiskaltem Wasser in die Hand, die man dann in Richtung Kamera halten soll, um die dunkle Handfläche dann zu bestaunen. Das ist natürlich nicht ultimativ spannend, also drücke ich mir den Flaschenboden an die Stirn und lasse ein Foto davon machen, wie ich mit einem dunklen Fleck auf der Stirn in der Infrarotaufnahme aussehe.

Ohne Fleck

Zuletzt steigen wir in eine Apparatur, die wir auf den ersten Blick für einen Erdbebensimulator halten. Es handelt sich um einen großen weißen Kasten, vielleicht 2,5 m breit, 3 m lang und knapp 2 m hoch, zzgl. der Rollen und Stützen darunter. Es wackelt und schaukelt wie wild, rollt langsam vor und schnell wieder zurück. Das können wir uns nicht entgehen lassen, und wir haben Glück – wir erwischen die letzte Fuhre, bevor das Museum schließt. Es handelt sich nicht um einen Erdbebensimulator. Stattdessen handelt es sich mehr um eine Luxusausgabe von Heimkino, mit acht Sitzplätzen inklusive Sicherheitsgurten, Surroundlautsprechern und… Bewegungssimulation! Ein Film läuft ab. Ein Frühstückstisch. Die Kamera fliegt gemütlich auf das Ei zu, und unser Kino schwankt entsprechend sanft mit. Das Ei wird aufgeschlagen. Jedes Klopfen auf der Schale ist ein kleines Beben in unserem kleinen Kino. Die Kamera fährt in das Ei hinein wie in das Innere der Erde, es folgt ein schneller Kameraflug durch unterirdische Höhlen, mit plötzlichen und sehr deutlich spürbaren Ausweichbewegungen, wenn auf einmal ein Hindernis auftaucht. Schließlich landet die Kamera auf einem Lavasee und kommt zur Ruhe. Dann wackelt und schaukelt alles stärker und stärker, und schließlich schießt der Lavasee nach oben und presst die Kapsel durch einen engen Schlot aus einem Vulkan heraus ins Weltall. Man kann die Beschleunigung sehr schön nachfühlen. Im All herrscht dann zwar keine Stille (die ISS piept an uns vorbei), aber die Bewegungen sind sehr ruhig und flüssig, werden schließlich schneller und ruckartiger, als unsere Simulationskapsel wieder in die Atmosphäre eintaucht und ins Meer stürzt (ein toller Aufprall!). Dann schwimmen wir mit allen möglichen Meerestieren um die Wette, mal mehr und mal weniger ruckelig, und tauchen schließlich aus dem leergelöffelten Ei wieder auf.
Ich will auch so was für meinen Fernseher! „Saving Private Ryan“ kommt bestimmt gut mit einer solchen Anlage… macht den Lauf über den Strand wahrscheinlich zum hautnahen Erlebnis.

Das Museum schließt, wir gehen nach Hause. Das heißt, eigentlich geht jeder seiner Wege: Ronald fährt nach Shinbashi, weil er eine DVD wieder zurückgeben muss, Melanie geht in den „Daily Yamazaki“ Konbini, Ricci geht nach oben in die Wohnung zurück, weil ihr die Schaukelei nicht gut bekommen ist und ich gehe ein wenig in den Parkanlagen spazieren, für die Odaiba so berühmt ist. Ich gehe auch nach „Aqua City“, das ist ein Konsumtempel mit Tokyo-typischen Preisen und einer Unzahl von Läden. Die eine Hälfte verkauft Kleidung, die andere Hälfte verkauft Essen in diversen Formen, und alles ist teuer. Irgendwo im Gang sitzt eine Zeichnerin und malt Bilder von Leuten (für 1500 Yen pro Person) im Mangastil. „10 Minuten pro Bild“, hat sie auf ein Schild geschrieben. Ich habe Interesse, aber erstens bin ich ohne Melanie hier und zweitens stehen da noch vier Leute in der Warteschlange, und so viel Zeit will ich nicht investieren. Ich gehe zurück zum Wohnheim, aber nicht an der Straße, sondern am Wasser entlang, und entdecke dort die lokale Knutschmeile. Viele Pärchen sitzen auf den Stufen und Bänken im Park und haben eine schöne Zeit zusammen. Die Sitzbänke in der Kiefernpflanzung laden direkt dazu ein, einige davon sind zwischen den Bäumen versteckt, wo weitere, kleinere Spazierpfade durchführen. Ich entscheide mich für den Weg, auf dem ich die wenigsten Leute störe. Am gegenüberliegenden Ufer befinden sich die Hafenanlagen und aus der Ferne betrachtet sind sie ein wirklich schöner Anblick, mit den beleuchteten Kränen und Lagerhäusern. Ich gehe dann aber endgültig wieder zum Wohnheim zurück.

Odaiba by Night

Wir haben noch nichts gegessen und wollen auswärts essen. Wir gehen „italienisch“ essen, in ein Lokal einer Kette von kostengünstigen „Familienrestaurants“ mit Namen „Saizeriya“. Ich erlebe das erste Restaurant in meinem Leben, vor dem man anstehen muss. Etwa 15 Minuten lang. Ich komme mir vor wie im alten Ostblock. Nicht, dass ich da schon mal gewesen wäre, aber ich erhalte hier ein Quäntchen von dem Feeling.
Satt (ja, ich satt) für umgerechnet 11 E würde ich kostengünstig nennen, vor allem in Tokyo. Und derartiges „italienisches Essen“ habe ich in Italien noch nicht gesehen: „Nero Spaghetti“. Die sind nicht etwa flambiert, nein, nein, die sind schwarz! Warum sind die schwarz? Weil diese Spaghetti mit Tintenfischbeilage serviert werden. Die schwarze Färbung kommt von der Tinte des Tintenfisches. Der Geruch ist eigentlich zum Abgewöhnen, der Geschmack ist lediglich gewöhnungsbedürftig, aber mit etwas Parmesan und Tabasco ist das Ganze direkt zum Angewöhnen. Das muss ich unbedingt noch einmal essen, wenn ich wieder Gelegenheit erhalte.
Natürlich hat die Portion Spaghetti nicht allein 11 E gekostet – ich habe noch zwei kleine Pizzen dazu bestellt, und für weitere 180 Yen bekommt man Nomihôdai, also alkoholfreie Getränke, so viel man haben möchte. Ich empfehle diese Restaurantkette wirklich und ernsthaft jedem, der seinen Fuß einmal nach Tokyo setzt und Zeit hat, in die Stadt zu fahren.

1 Der Link existiert nicht mehr

2 Der Link existiert nicht mehr

24. Dezember 2023

Mittwoch, 24.12.2003 – Gimli gehört mir, ich habe seine Axt

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 7:00

n Tokyo ist es immer noch warm. Morgens um 09:00 stehen wir auf, draußen der blaueste Himmel, die Sonne glitzert auf dem Meer. Alle paar Minuten kommt ein Passagierjet auf dem Weg zum Flughafen Haneda vorbei… oder doch Narita? Es ist toll, wenn man etwas anderes im Gedächtnis hat, als im Notizbuch geschrieben steht. Wir sind schätzungsweise etwas mehr als 500 Meter von der Einflugschneise entfernt. Quasi senkrecht vor dem Fenster liegt der Scheitelpunkt der Kurve vor der Landegeraden. Sehr interessant anzusehen, wenn man es nicht gewohnt ist. Und ein Lärmpegel ist nicht festzustellen. Offenbar ist die Entfernung dafür groß genug.

Einflugschneise

Heute werden die Zutaten für unser Weihnachtsessen gekauft. Ronald fährt also nach Shinbashi, um einen Teil davon zu besorgen, und ich möchte ihn darum bitten, mir aus dem Supermarkt eine Flasche Boco oder Dakara mitzubringen, aber noch bevor ich die Frage zu Ende formuliert habe, fällt Melanie mir energisch ins Wort und meint, das könne ich nicht verlangen, weil Ronald ja bereits die ganzen anderen Einkäufe allein durch Gegend tragen müsse. Sieht jemand das Zucken in meinem linken Auge? Das Argument verstehe ich (es ist eine unschöne Eigenart von mir, an so was nicht zu denken, bevor ich rede, das gebe ich zu), aber was ich nicht tolerieren kann, ist, dass sie mir mitten im Satz ins Wort fällt und selbstherrlich das Antworten für andere Leute übernimmt, als ob sie die Hüterin des guten Tons wäre. Es juckt mich dann immer in den Fingern, etwas zu zerquetschen… oder alternativ einen Spaziergang zu machen. Okay, dann eben Konbinipreise und Selbstabholung. Das ist zu überleben. Dass Ronald zu der Angelegenheit schweigt, macht die Angelegenheit in diesem Moment nicht besser, denn wenn er was dagegen hätte, könnte er das ja auch selbst sagen.

Während Ronald weg ist, blättern Ricci und Melanie die Magazine durch, die im Regal rumliegen. Die Beschreibung derselben lasse ich aus (und meinen privaten Notizen vorbehalten), bevor ich wieder Kritik wegen Verletzung von jemandes Privatsphäre hinnehmen muss. Danach basteln sie sein Geschenk zusammen und ich kaufe dafür noch einen Klebestift, weil Ronalds Sekundenkleber seinem Namen alle Ehre macht und binnen drei Sekunden trocknet, nachdem er die Tube verlassen hat und noch bevor er irgendwas kleben kann. Ich mache mich auf den Weg in den kleinen Supermarkt. Kaum bin ich aus dem Haus, fällt mir ein wichtiges Detail auf: Um in das Haus zurück zu gelangen, brauche ich die Magnetkarte, die jeder Bewohner zu diesem Zweck erhält. Ronald hat diese natürlich mitgenommen. Jetzt könnte ich natürlich klingeln. Aber ich habe mir die dafür notwendige Apartmentnummer nicht gemerkt. Er wohnt im 11. Stock, so viel weiß ich. Ich stelle mich also in den Hof und zähle die Balkone im 11. Stock, bis ich unseren rausgehängten Futon erkenne. Aber das bringt ja auch nichts, weil ich nicht weiß, in welcher Richtung die Wohnungen gezählt werden. Ich kaufe also erst mal einen Pritt-Stift, gehe zum Hauseingang zurück und warte dort diskret, bis ein anderer Anwohner (offenbar ebenfalls vom Einkaufen) zurückkommt. Damit habe ich schon mal das größte Problem hinter mir. Ich fahre in den elften Stock und nutze das Balkonzählen aus. Vom Lift aus betrachtet wohnt er hinter der fünften Tür. Außerdem erinnere ich mich, dass sein rechter Nachbar Weihnachtsschmuck an der Tür angebracht hatte. 1… 2… 3… 4… 5. Aha. Nummer 1112. 11-12… ja, einfacher geht es kaum noch. Aber jetzt weiß ich es, falls ich noch einmal klingeln muss. Der Kleber wird seinem Zweck zugeführt und Melanie klebt die Verzierung der Hinterseite der Karte falsch herum darauf. Die beiden Schlangen (?) stehen auf dem Kopf. Das steigert natürlich die Einzigartigkeit des Geschenkes.

Ich kann immer noch nicht recht glauben, dass ich mitten im Dezember (ich will nicht sagen „mitten im Winter“ wegen der hiesigen Abwesenheit desselben) im T-Shirt bei offener Balkontür in einem ungeheizten Raum herumsitze…

Ronald kommt schließlich zurück, mit einem Weihnachtskuchen. Leider ist es kein weißer mit Erdbeeren, sondern ein brauner, ein Holzstammimitat mit Pilzimitaten, mit einer Axt und einem Zwerg, der mit einem Beil bewaffnet ist. Gibt bestimmt -25 auf den Offensivbonus. Aha und soso, der Kuchen imitiert also ein angefaultes Stück Holz, auf dem bereits Pilze wachsen. Keine verlockende Vorstellung eigentlich. Aber der Kuchen schmeckt ganz hervorragend. Und ich will die Axt. Leider ist der Stiel nicht, wie erhofft, aus Schokolade, sondern aus Plastik. Natürlich stelle ich das „empirisch“ fest. Dann will ich den Zwerg, der bei dieser Gelegenheit „Gimli“ getauft wird, aber auch noch haben. Der Kuchen ist eine Sahnerolle mit etwas Biskuit. Wer Sahnerollen mit Schokogeschmack mag, wird von diesem Machwerk begeistert sein.

Danach fahren wir nach Shinbashi, um weitere Zutaten für unser Essen zu kaufen. Ich nehme eine Flasche Rotwein und eine Tüte Mandarinen dazu. Der Rotwein hat in Japan auf dem hinteren Etikett eine Angabe, ob er „leicht“ oder „schwer“ ist. Ich kann mit den verwendeten Bewertungskriterien nicht unbedingt etwas anfangen, aber da mir Rotwein am liebsten ist, wenn man nicht durch ihn hindurchsehen kann, nehme ich einen „schweren“. Melanie nimmt noch einen Strauß Bananen. Ich habe nicht vermerkt, was die Bananen gekostet haben, aber sie waren sehr billig. Sehr kleine Bananen, aber viele davon.

Ganz und gar nicht billig

Zurück in Odaiba beginnt Ronald mit den Vorbereitungen für das Essen. Und passend zum Kontext kreiert Melanie ihr heutiges Wort des Tages: „Freineschwaß“. Aber Ronalds Essen wird natürlich alles andere als Schweinefraß. Entenbrust mit Orangensoße, Broccoli mit Mandeln und Röstkartoffeln. Ich finde es, wohl mangels Gewohnheit, reichlich seltsam, Fleisch mit Orangen zu mischen, aber es schmeckt ganz wunderbar. Dazu der gekaufte Rotwein „Vaqueyras“ von 1999. Die Mischung ist hervorragend, Lob an den Koch. Die Stimmung ist entsprechend gut. Allerdings trinke ich die Flasche ja beinahe alleine und die Alkoholentwöhnung macht sich bemerkbar. So viel zu meiner Stimmung. 🙂

Geschenke gibt es erst nach dem Essen. Melanie erhält allerlei „Hello Kitty“ Krempel und Ricci allerlei „Naruto“ und „Getbackers“ Krempel. Ronald bekommt Ohrringe und Geld, das in der bereits erwähnten Karte eingefasst ist, um sich eine CD frei nach Wahl kaufen zu können. Melanie und Ricci haben die Geldscheine in Form von Hemden gefaltet und dazu geschrieben „Wir schenken Dir unsere letzten Hemden“ oder etwas ähnliches in dieser Art. Ich schenke Melanie ein Bild von dem „One Piece“ Tony Tony Chopper (das ist das Rentier der Truppe), das ihn beim Geschenkauspacken zeigt und bekomme von ihr eine Figur von SailorVenus geschenkt, die sie im „Animedia“ in Hirosaki gekauft hat. Die SailorJupiter war zu dem Zeitpunkt, als sie einkaufen gegangen war, leider nicht mehr da, sagt sie. Aber auch diese Figur ist sehr schön gearbeitet. Sie wird zuhause einen Platz neben meiner EVA-03 bekommen. Und Ricci schenkt mir einen Kalender – gut, dass ich auch was Simples bekomme. Ich möchte mir nur ungern „überbeschenkt“ vorkommen.

Christmas Cake

Als Nachtisch gibt es Bratapfel und einen weiteren, kleinen Weihnachtskuchen von ca. 15 cm Durchmesser. Diesmal das weiße Erdbeermodell, das Melanie und Ricci noch dabeihaben wollten. Danach sind wir wirklich erschlagen satt und machen uns daran, ins Bett (oder eher „auf den Futon“?) zu gehen. Aber wie solche Nächte nun einmal ausarten, reden wir uns noch bis morgens um 04:00 den Mund fusselig und hindern Ronald am Schlafen.

23. Dezember 2023

Dienstag, 23.12.2003 – Wer braucht New York und Rio, wenn er Tokyo hat?

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 7:00

Um 06:30 kommen wir am Bahnhof Hamamatsu, Tokyo, an. Das bedeutet, dass wir 30 Minuten zu früh dran sind und auf Ronald und Ricci noch ein wenig warten müssen, die uns abholen wollen. Auch SangSu ist da. Als erstes frage ich mich, was wohl aus der weiblichen Begleitung geworden ist, die er in Hirosaki noch hatte, die auch nach Tokyo wollte? Aber ich denke mir erst nichts dabei. Wenige Minuten darauf klingelt sein Telefon. Seine Begleitung möchte wissen, wo er ist… dieser Unglücksmensch ist an der falschen Haltestelle ausgestiegen. Der Bus fährt noch drei weitere Positionen im Stadtgebiet von Tokyo an. Und Tokyo ist das, was man „riesig“ nennt. Ich glaube einfach nicht, was ich da erlebe.

Ronald und Ricci kommen schließlich. Das heißt, Melanie findet sie auf der anderen Seite des Busbahnhofs, wo sie offenbar bereits seit ein paar Minuten sitzen. Also können die beiden den SangSu gleich original und live in Aktion erleben. SangSu ist sich (natürlich, wer hätte das gedacht) nicht zu 100 % sicher, wo der Kamerad wohnt, bei dem er übernachten will, aber er kann immerhin eine Bahnstation nennen. Ronald erklärt ihm, wie er da hinkommt und wie man den Fahrkartenautomaten bedient. Ich hoffe, der arme Trottel kommt auch da an, wo er hin will.

Wir fahren nach Odaiba, wo sich Ronalds Wohnheim befindet. Über die Rainbow Bridge. Und… ja, warum habe ich eigentlich all diese Kleidungsstücke am Leib? In Tokyo ist es warm, zumindest im Vergleich mit dem verschneiten Hirosaki, 10 bis 15 Grad Celsius haben wir hier, würde ich sagen. Das Wohnheim liegt nicht weit von der Haltestelle „Fune no Kagakukan“, wo sich das gleichnamige Museum für Maritime Technik und Geschichte befindet, und das Museum hat die Form eines großen Schiffes.

Fune no Kagakukan

Auf dem Vorplatz steht ein „Emily“ Flugboot aus dem Pazifischen Krieg. Davon muss ich noch eine Nahaufnahme machen, sobald ich kann. Wir essen etwas und beraten, was wir heute tun können. Die von mir erwartete Reiseerschöpfung hat sich nicht eingestellt, weil ich im Bus ausreichend habe schlafen können. Wir beschließen, nach Asakusa zu fahren, um das Kamenarimon, das wahrscheinlich bekannteste Tempeltor Japans, und den Kannontempel zu besuchen.

Kamenarimon

Ein lohnender Anblick, darf ich feststellen, aber total überfüllt. Auf dem Weg vom Tor zum Tempel muss man erst einmal eine ganze Reihe von Souvenirläden passieren, die die 200 m der Straße säumen. Interessant finde ich vor allem die Leute, die vor einem stinkenden, qualmenden Kessel stehen und sich den Rauch zufächeln. Offenbar haben nicht nur bekennende Christen eine Vorliebe für stinkende Gefäße mit kokelndem Inhalt. Ich habe keine Ahnung, warum Japaner das machen, aber ich muss annehmen, dass es auf Ziele wie „Seele reinigen“ oder „Glück und Segen erbitten“ hinausläuft. Wir gehen dann noch die paar Schritte bis zum Tempelgebäude.

Feinstaub für alle!

Es ist an dieser Stelle üblich, Münzen in spezielle Sammelbehälter vor dem Heiligtum zu werfen. Als ehemaliger Christ kenne ich kleine Sparbüchsen mit Einwurfschlitz, in die man das Geld einwirft, aber in Japan wird diese Sache gleich richtig gemacht: Vor dem Heiligtum steht ein Sammelkasten, ca. 4,00 x 0,50 x 0,50 Meter, mit Holzgittern darüber. Da steckt man das Geld nicht etwa diskret hinein, oh nein, die Leute werfen hier mit Geld, zum Teil aus der dritten oder vierten Reihe der Betenden!1 Als ob Geldspenden irgendjemandem schon einmal Glück oder göttliches Gehör gebracht hätte… und was hat Buddha gelehrt?

Selbst wenn jemand sechs Galaxien mit den Schätzen der Welt anfüllt und all diese Reichtümer als Almosen verschenkt, ist der Lohn desjenigen dennoch größer, der nur vier Zeilen einer Sutra verstehen, rezitieren und lehren kann.

Es ist wohl kein Zufall, dass der japanische Begriff für „Zen-Dialog“ (Zen ist eine Sekte des Buddhismus und ein solcher Dialog gilt wohl der Diskussion philosophischer Ansichten) die Konnotation „unverständliches Gerede“ besitzt. Japaner sind ja bekannt dafür, dass sie kulturelle Dinge aus dem Ausland zwar aufnehmen, aber auch das wieder aufgeben, was ihnen nicht zusagt – selbst wenn es sich um grundlegende Dinge der importierten Idee handelt. Auf der anderen Seite ist die Klausel des „Verstehens der Sutra“ möglicherweise nicht selten zu viel verlangt.2

Heiligtum mit Münzzaun

Wir verlassen dieses Gebäude wieder und sehen uns die übrigen zum Tempel gehörigen „Attraktionen“ an. Melanie zieht ein Stück Papier aus einer Box, und damit hat es folgendes auf sich: Oft stehen da die fürchterlichsten Dinge drauf, was denn in naher Zukunft so alles schiefgehen werde, und das in einer Intensität, dass kein Mensch das ernst nehmen kann – bei der Menge an bösen Prophezeiungen ist die Chance natürlich gegeben, dass mindestens eine davon eintreffen wird. „Eine Reise wird nicht gut verlaufen“, „Ihre Beziehung wird scheitern“, und lauter solche Dinge. Und damit das, was da steht, bloß nicht wahr wird, bindet man den Zettel an ein neben der „Ausgabestelle“ angebrachtes Gitter, und die Götter werden dieses Schicksal gnädigerweise bereinigen. Ja ja, man kann auch seltsame Dinge glauben.

Danach fahren wir nach Shinjuku, um vom 45. Stockwerk der Stadtverwaltung aus die nun weit unter uns liegende Metropole zu betrachten. Sehr beeindruckend. Wie erwartet kann man den Berg Fuji nicht sehen – zu viel Smog. Wahrscheinlich kann man den nur sehen, wenn konstanter Wind die ganzen Abgase wegpustet. Aber es offenbart sich sehr schön, dass Tokyo keine „hohe“ Stadt ist. Ja, in Shinjuku befinden sich einige Wolkenkratzer, aber der Rest der städtischen Gebäude geht relativ selten über zehn Stockwerke hinaus, und wahrscheinlich 80 % der Stadt halten sich noch näher am Boden. Dafür ist die Stadt extrem weit ausgebreitet. Von hier aus betrachtet scheinen erst die Berge am Rand der Kanto-Ebene die Stadt einzugrenzen. Häuser bis zum Horizont. Aber dem sind ja wegen der verschmutzten Luft Grenzen gesetzt.

Tokyo Tower im Hintergrund

Am Nachmittag gehen wir endlich was essen. „Okonomiyaki“ möchten wir essen, und Ronald weiß ein dafür geeignetes Restaurant. Was ist Okonomiyaki? Im Prinzip eine Art dicker Pfannkuchen. Auf der Speisekarte sucht man sich aus, welche Zutatenkombination man haben möchte und die Bedienung bringt das gewünschte Rohmaterial in Schüsseln. Die Basis besteht wohl aus Ei, Teig und Kraut, der Rest lässt sich zusammenbasteln aus… eigentlich allem möglichen. Ich bestelle Krabben und andere Meeresfrüchte, aber ich kriege Schweinefleischstreifen. Ähem. Ich wusste nicht, dass meine Aussprache so undeutlich ist. Aber egal. Essen ist Essen und ich habe Hunger.

Da man ja nur die Einzelbestandteile bekommt, muss man sich den Pfannkuchen selbst machen. Den mitgelieferten eingelegten Ingwer werfe ich gleich weg. Man mischt die Zutaten in der „Hauptschüssel“ zu einem Teig. Den wirft man auf die Heizplatte, die den Großteil des Tisches ausmacht, sorgt mit Hilfe von Spachteln für eine angemessene Form und lässt das Ganze drei Minuten anbacken. Dafür gibt es am Tisch spezielle Sanduhren. Nach drei Minuten dreht man das Ding um und lässt die andere Seite braten. Dann verteilt man den gelieferten Käse, die Mayonnaise, und eine dicke Soße über das Machwerk und lässt das verschmelzen, indem man eine Glasglocke über den Pfannkuchen auf der Platte stülpt, und zum Schluss kann man noch Fischflocken drüberstreuen. Leider habe ich den gesamten Vorgang nicht minutiös in allen Einzelheiten dokumentiert, also muss ich viel aus dem Gedächtnis zusammenkramen. Ich bin sehr zufrieden mit diesem Essen. Die von Marc so gelobten Okonomiyaki in Hirosaki schmeckten ja penetrant nach Seife – was der eingelegte Ingwer im Zusammenspiel mit den übrigen Zutaten gewesen sein könnte. Die Portion kostet hier 880 Yen, also etwas mehr als 6 E. Kein schlechter Preis für eine Mahlzeit, die man eigentlich selbst zubereitet. Aber der Geschmack macht das wieder wett. Und schließlich sind wir in der teuersten Stadt der Welt.

Als wir mit dem Essen fertig sind, ist es dunkel. Wir sehen uns also Shinjuku bei Nacht an. Viele, viele Neonlichter und Anzeigetafeln und Großbildschirme, die Werbung unters Volk bringen. Ich gebe zu: Das hat seinen Reiz, auch für ein Landei wie mich. Aber wohnen möchte ich hier lieber nicht. Ich empfinde es als beruhigend, zu wissen, dass ich irgendwo eine ruhige Bleibe habe, weit weg von diesem Überschwang an Leben. Und da heute ja der 23. Dezember ist, findet man überall Weihnachtsbeleuchtung und weihnachtliche Verzierungen. Überall stehen männliche und weibliche Weihnachtsmänner und preisen ihre Waren an. Das bei einem Anteil von 2 % Christen an der Gesamtbevölkerung. Und diese Christen machen Werbung, geradezu Propaganda, an Kreuzungen und anderen Fußgängerüberwegen der Hauptstraßen. Mit Plakaten und Lautsprechern. „Das Himmelreich wird kommen“ und „Der Erlöser hilft auch Dir“. Nicht einmal in Japan kann man vor denen fliehen. Das ist mir zu aufdringlich. Außerdem war ich bereits in Rom, auch im Petersdom, und nach altem christlichen Glauben dürfte mich das von den Sünden der nächsten 100 Jahre befreit haben.

Melanie setzt am Abend ein neues Wort in die Welt und erfreut uns alle mit ihrer Kreativität:
PHASENBLASTER
Diese gefährliche Waffe sollte eigentlich nur ein „Blasenpflaster“ werden.

1 Das Heiligtum ist durch einen dünnen Drahtzaun von den Besuchern getrennt, wie mit einem Fliegengitter. Der Zaun lässt den Blick auf das Tempelinnere zu, ist aber auch so engmaschig, dass die geworfenen Münzen davon abprallen und in die davor aufgestellten Tröge fallen.

2 Ich sehe natürlich ein, dass, jenseits der religiösen Bedeutung, ein historisch bedeutendes Bauwerk erhalten bleiben sollte und dass ein solches Ansinnen Geld kostet.

22. Dezember 2023

Montag, 22.12.2003 – Reise nach Tokyo

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Nichts spannendes heute. Yamazaki-sensei holt verlorene Stunden nach und füllt so den Nachmittag. Danach gehe ich ins Kaufhaus Daiei, um die Socken zu ersetzen, die ich gestern habe wegwerfen müssen. Der Rest der Zeit wird mit Essen und gemütlichem Packen für die nächtliche Reise nach Tokyo verbracht. Um 20:10 fahren wir mit dem letzten Bus zum Busbahnhof beim Ito Yôkadô und schlagen die Zeit bis 22:00 irgendwie tot. SangSu fährt ebenfalls mit dieser Fuhre (aber in einem anderen Fahrzeug, da fährt ein ganzer Konvoy) nach Tokyo, wie wir bereits im Vorfeld vermutet haben. Insgesamt fährt heute Abend etwa ein Dutzend Busse in kurzen Zeitabständen nach Tokyo. Interessanterweise ist SangSu in weiblicher Begleitung hier. Sie möchte ebenfalls nach Tokyo fahren. Der Sprache nach zu urteilen, ebenfalls eine Koreanerin, von der ich allerdings nicht sagen kann, ob ich sie schon einmal gesehen habe. Und eigentlich bin ich zu unkonzentriert, um mir darüber jetzt Gedanken zu machen.

Um 22:15 fahren wir los, und es ist ein „echter“ Nachtbus, mit Schlafsitzen. Das heißt, die Sitze in dem Bus sind einzeln aufgestellt, drei Reihen nebeneinander mit je einem Gang links und rechts neben dem mittleren Sitz und genügend Platz für die Beine. Ich stelle schnell fest, dass es überflüssig war, eine Plastikschüssel mit Reis als Wegzehrung mitzunehmen, da ich wahrscheinlich die meiste Zeit über schlafen werde. Ich finde den Nachtbus auf Grund seiner Sitzanordnung weitaus bequemer als ein Flugzeug (mal abgesehen von höheren Klassen, als ich mir leisten kann). Für die Rückfahrt werde ich mir merken, auch den Rucksack ebenfalls in Gepäckabteil zu geben, da ich ihn ja nur als Getränkehalter brauche und er die Beinfreiheit (wenn auch nur geringfügig) einschränkt.

21. Dezember 2023

Sonntag, 21.12.2003 – Im Osten nichts Neues

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Wir beginnen den Tag mit massivem Wäschewaschen. Über Nacht hat es ein wenig geschneit, aber es reicht nicht, um mich vom Radfahren abzuhalten – die Straßen sind schneefrei, nur auf den Bürgersteigen liegt eine hauchdünne Schneedecke. Und auf denen fahre ich ja nicht.

Ich schreibe einen Bericht und sehe mich nach sonst irgendwie interessanten Texten um, ohne etwas bedeutendes zu finden. Den Rest der Zeit bis 17:00 verbringe ich damit, den Rest der „Spark“ Persönlichkeitstests zu machen. Leider ist keiner mehr dabei, der es erlaubt, die Werte von Freunden zu vergleichen – und genau darum geht es bei der Sache ja.

20. Dezember 2023

Samstag, 20.12.2003 – Spielhöllenparadies

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Wie bereits gestern Morgen gibt es auch am heutigen Morgen kein fließendes Wasser um 07:25. Das Wasser kommt um 07:45 zurück, und ich bin sehr dankbar, dass mir das am Wochenende passiert, und nicht Dienstags, Mittwochs oder Donnerstags, wo ich um kurz nach acht aus dem Haus muss. Aber heute ist ja Samstag. Da sitze ich um 07:30 ganz gemütlich vor dem Fernseher.

Und heute bewegt sich bei „SailorMoon“ endlich etwas. SailorVenus hat ihren ersten Auftritt! Sie wird immer noch als die Prinzessin propagiert. Das macht mich auf Dauer natürlich ein bisschen unsicher, aber erstens glaube ich nicht, dass Takeuchi Naoko einer solchen Veränderung jemals zustimmen würde, und zweitens sehe ich es kommen, dass sich die Wahrheit genau dann herausstellen wird, wenn die bösen Bösen ihre Konzentration voll und ganz auf die falsche Prinzessin gelenkt haben und der das Schicksal entscheidende Moment gekommen ist. Fragt sich: Warum sollten sie das tun? Königin Beryll weiß ja ganz genau, dass es die Königin des Mondreichs war, die zu jener Zeit „nicht unwesentlich“ zu ihrem Untergang beigetragen hat – also warum sollte sie auf den Gedanken kommen, dass die neu geborene Venuskriegerin die Prinzessin sein könnte??? Ich würde das ein Loch in der Story (oder vielleicht auch ein Loch in meiner Theorie) nennen. Ich gehe nämlich derzeit davon aus, dass Minako am Ende, in eben jenem Schicksal entscheidenden Moment, einen höflichen Kniefall vor Usagi machen und erklären wird, dass die Maskerade als Täuschungsmanöver zum Schutz der Mondprinzessin (= Usagi) notwendig war.

Wie dem auch sei. SailorVenus „geht ab wie e rod Mobbedd“, wie mein Schulfreund Frank immer so schön sagt. Zoisyte will ihr nämlich „eine Ansichtskarte aus Solingen“ schicken und Mamoru stellt sich zwischen Venus und Zoisyte. Zoisyte erkennt seinen alten Herrn und Meister in Mamoru wieder und zögert – offenbar ein Anfall vergangener Loyalität, worauf Venus ganz cool einen Schritt aus ihrer Deckung heraustritt und den armen Zoisyte ohne ein weiteres Wort zu verlieren mit ihrem Crescent Beam wegbrutzelt. Da geht er hin und muss ins Gras beißen, ohne eine einzige Einstellung, die ihn zusammen mit Kunzyte gezeigt hätte. In der Vorschau stellt sich Kunzyte dann als der „Dunkle König“ vor. Ah ja. Dann bin ich mal gespannt, was aus dem Mann wird.1

Im Übrigen gehen mir die Kämpfe, die mehr Ähnlichkeit mit gymnastischem Bodenturnen haben, so langsam ein wenig auf den Wecker. Die Angriffe turnerisch vorzutragen, erfüllt keinen mir ersichtlichen Zweck, außer der dadurch besseren Möglichkeit der Hervorhebung der Hüften und Beine der Hauptdarstellerinnen, und dass sich der männliche Zuschauer ab 12 Jahren an der Darstellung von weißer Unterwäsche erfreuen kann (eigentlich ist es aber der untere Teil von einer Art Badeanzug in weiß). Ich sage nicht, dass dieser Punkt aus männlicher Perspektive uninteressant sei – aber als Fan im weitesten Sinne finde ich es ein wenig übertrieben und irgendwie deplatziert, wenn die Realserie die Animeserie an Pantyshots übertrifft. Sawai Miyû (Usagi) hat eine offizielle Seite, und man kann ihr Fanmails schreiben – ich glaube, ich frage sie mal, was das eigentlich für ein Gefühl ist, wenn man weiß, dass Hunderte von männlichen Zuschauern mit eindeutigen Gedanken und nur deshalb vor dem Bildschirm sitzen. Das würde mich interessieren.

Entgegen meiner ursprünglichen Absicht gehe ich nach der Sendung nicht wieder schlafen. Der Bettbezug hat was dagegen; er sagt, er möchte bitte gewaschen werden. Soll mir Recht sein. Sobald ich mit ihm fertig bin, arbeite ich auch den übrigen Wäscheberg etwas ab. Bevor wir nach Tokyo fahren, möchte ich den Schrank annähernd leer haben. Während die Wäsche sich dann in der Maschine dreht, komme ich endlich dazu, das Bad zu putzen. Seit etwa einer Woche will ich das schon erledigen. Und während ich schrubbe, klingelt SongMin und eröffnet uns, dass sie heute ins Frauenwohnheim umziehen wird, weil ihr die Wohnung für sie allein zu groß ist und sie sich darin zu allein fühlt. Schade… sie war eine sehr angenehme Nachbarin.

Ikeda kommt wegen der Übergabe der Wohnung kurz danach vorbei. Und wenn er schon da ist, kann ich ihn ja wegen des festgefahrenen Videobandes im Videorekorder ansprechen. Das sei gar kein Problem sagt er und gibt uns den Fernseher aus SongMins Wohnung, weil es sich um das gleiche Modell handelt. Na wunderbar, dann ist die Videosession ja vorerst gesichert.

Nachdem ich mit dem Putzen fertig bin, gehe ich in die Bibliothek und verlasse sie erst um 17:00 wieder. Ich gehe ins Naisu Dô und kaufe mir das verbliebene Artbook von „Königin der Tausend Jahre“. Ein weiteres Filmartbook, auch dieses hier behandelt nicht die Serie. Des weiteren kaufe ich ein „Mahôjin Guru Guru“ Artbook, das nicht wirklich ein Artbook ist. Es handelt sich eigentlich um einen „World Guide“, in dem die Welt dieser Serie erklärt wird, mit Landkarte und wie das mit der Magie da geregelt ist, welche Symbole und Magiearten es gibt. Der größte Teil des Buchs besteht aus kurzen Mangastrips, zum Teil Parodien auf europäische Märchen. Ganz nett, aber das werde ich verkaufen. Falls ich es loswerde.
Weiterhin zum Verkaufen bestimmt ist eine dreibändige „Rurôni Kenshin“ Sammlung (ein Episode Guide, um genau zu sein), ein „Slayers DX“ Artbook und eine weitere Ausgabe von „Memory of Memories“ von Otomo Katsuhiro. Vorgemerkt für den gleichen Zweck habe ich eigentlich eine Komplettausgabe der „Nausicaä“ Manga. Würde nur 1800 Yen kosten. Aber andererseits… gibt es das nicht schon auf Deutsch oder Englisch? Welcher Trottel würde dann die japanische Version kaufen? Das lasse ich vielleicht doch besser.

Aus dem Naisu Dô heraus fahre ich direkt ins Ito Yôkadô Kaufhaus, um nach CDs zu sehen. Aber 3000 Yen finde ich immer wieder aufs Neue abschreckend. Ich finde in einer Angebotskiste die „Animatrix“ DVD für 1500 Yen. Ich vergewissere mich, dass auch eine englische Sprachversion drauf ist und kaufe die DVD. Schließlich kosten DVDs hier normalerweise mehr als das Doppelte. Dann mache ich mich auf den Weg ins Daiei.
Dort entdecke ich japanische Geschirrspülmaschinen, und mache auch gleich ein Bild davon. Die Maschine sieht auf den ersten Blick aus wie eine Mikrowelle, oder wie ein leeres Aquarium mit Springbrunnen drin. Klein und handlich. Das Geschirr einer Familie mit zwei Kindern passt da bestimmt nicht rein, aber die Werbung sagt, dass ein Waschgang nur sechs Minuten benötige.

Der Geschirrspüler für den kleinen Haushalt

Ich fahre weiter nach oben und entdecke die Spielabteilung. Nicht die Abteilung, wo man Spiele kaufen kann – die Abteilung mit den Spielautomaten. Eigentlich wollte ich nur das Angebot begutachten, aber… was ist das!? Da steht der Fahrautomat „Sega Rally Championship“ – das Original von 1995! Das habe ich zuletzt 1997 im heimatlichen Blieskastel gespielt. Und der hier verfügt sogar über zwei Sitze, damit man auch gegen einen Freund antreten kann. Das lasse ich mir nicht entgehen und lasse 200 Yen an dem Automaten. Ein tolles Gefühl, die vibrierenden Sitze und das zerrende Lenkrad noch einmal zu erleben und die simplifizierte Gangschaltung misshandeln zu dürfen… aber ich bin genauso schlecht wie damals. Ich habe inzwischen zwar mehr Gefühl dafür, eine Gangschaltung zu benutzen (1997 hatte ich noch keinen Führerschein), aber die Spielpraxis zeigt, dass ich noch an der gleichen Stelle rausfliege, wie damals. Kai wird sich an die Bergstrecke und ihre widerlichen Kurvenkombinationen erinnern… er sollte mich hier mal besuchen. „Daytona Racing“ steht in einer Zweispielerversion nämlich direkt daneben. Und da, ein paar Meter weiter kann man „Time Crisis“ spielen! Das alte „Time Crisis“ für die Playstation, Baujahr 1997. Da muss auch eine Runde rollen. Und noch eine. Mann, bin ich schlecht geworden. Hätte ich das gewusst, hätte ich zuhause noch schnell geübt.
Aber da soll mir noch einmal jemand was von der Schnelllebigkeit der japanischen Populärkultur erzählen – im Großen und Ganzen trifft das natürlich tatsächlich zu, aber ich hätte nie damit gerechnet, jetzt noch, zum Jahreswechsel 2003/04, hier drei Klassiker der Automatenunterhaltung am selben Ort zu finden, die vor eben mehr als fünf Jahren erschienen sind. Ich habe gedacht, hier sei nichts zu finden, was vor 2001 aus der Fabrik gekommen ist.
Neben „Time Crisis“ steht „Time Crisis 3“, offenbar funkelnagelneu. Eine Runde kostet da nämlich 200 Yen statt der üblichen 100. Was soll’s, wenn ich schon mal da bin, kann ich das auch ausprobieren. Wohlgemerkt haben beide „Time Crisis“ Spiele hier GunCons (die Spielpistolen) mit beweglichen Teilen, und die Dinger haben ein ordentliches Gewicht, um das Schießen realistischer rüberzubringen. Und „Time Crisis 3“ hat es in sich. Grafisch und von der Anforderung an den Spieler. Von daher komme ich als Ungeübter auch nicht weit.

Zuletzt lasse ich 300 Yen an einem Automaten, an dem man ein Scharfschützengewehr bedient. Ich schätze, dass es sich um das Spiel handelt, von dem JP erzählt hat, das Stefan es „mit Links“ durchgespielt habe. Der Automat hat natürlich einen Bildschirm, aber in dem Zielfernrohr der festgeschraubten Spielwaffe befindet sich ein weiterer, winziger Bildschirm, der eben die Nahaufnahmen darstellt. Macht unheimlich Spaß, zeigt mir aber, dass das Gerät für japanische Jugendliche installiert wurde. Ich stehe hier sehr breitbeinig in der Gegend rum, weil die Schulterstütze viel zu niedrig für mich angesetzt ist. Die Levels, wo es wirklich um Scharfschützenaufträge geht, bringe ich bequem hinter mich, aber das Schießen auf bewegliche Ziele (Jeeps und Hubschrauber!), ist mir zu viel. Ja Kai, Du bist der Meister.

Frau Professor Gössmann hebt an dieser Stelle als personifiziertes Gewissen in meinem Hinterkopf den Zeigefinger und sagt: „Dafür hatten Sie eigentlich gar keine Zeit, Herr Schwarz!“ und sie hat natürlich Recht. Denn vor lauter Begeisterung verspäte ich mich, außerdem ist die Straße stellenweise glatt geworden. Zeit aufholen kann ich also in den Wind schreiben. Ich treffe Melanie im BenyMart, und sie war so lieb, mir die verpassten Sendungen ab 19:00 auf Band aufzunehmen. „Crayon Shin-chan“ und „Bobobôbo Bôbobo“ wollte ich nicht verpassen. Ja, wie es aussieht, hat sich meine Meinung bezüglich „Shin-chan“ geradezu ins Gegenteil verkehrt. Ich gehe aber auch weiterhin davon aus, dass ich in Deutschland von dem Konsum der Serie wegen der üblen Synchro absehen werde. Aber ich mutiere in Japan bereits zu einer Art Fan.

Ich komme heute Abend aber in den unvergleichbaren „Genuss“, Nattô zu essen. Das faulige Bohnenzeugs befindet sich auf zweien von den Sushiklumpen, die ich heute gekauft habe. Hauptsächlich, um zu erfahren, worüber „alle“ reden. Volker hat Nattô bereits beschrieben, ganz gut sogar, aber beim Geschmack beschränkte er sich meines Wissens auf „lecker ist was anderes…“. Das sei ihm gegönnt, aber ich will weiter darauf eingehen und bei der „Basis“ anfangen. Im Prinzip besteht Nattô aus kontrolliert angefaulten Bohnen. „Fermentiert“ nennt man das beschönigend. Nattô ist von einer hellbraunen Farbe, etwas dunkler als ein brauner Briefumschlag, hat eine irgendwie schleimige Konsistenz wie eine Mischung aus Uhu Kleber und „Colgate Gel“ Zahnpasta und ist mit Bröckchen (der Bohnen) durchsetzt. Der Geruch ist auffällig, leicht faulig, aber nicht so streng, wie ich dachte. Der Geschmack erinnert an einen sehr alten Weichkäse, den man im Schrank festbinden muss, damit er nicht von alleine davonläuft, wenn man den Schrank öffnet. Ich mag alten Weichkäse. Wer auch immer mein Zimmer im Wohnheim nach mir bezogen hat, wird das erahnen können. Aber Nattô fehlt in der Komposition ein wichtiger und entscheidender Geschmacksfaktor, den ich leider nicht genau definieren kann, um den Genussfaktor eines alten Camembert oder Brie zu erreichen. Mein Urteil: Man kann es essen (ohne sich übergeben zu müssen). Es muss aber nicht unbedingt sein. Vor allem nicht mehr als ein Kaffeelöffel voll auf einmal. Das ist die Grenze, die mein Magen mir dabei setzt.

1 Das war ein Hörfehler. Er sagte, er sei einer der „Dark Kingdom no Shitennô“.

19. Dezember 2023

Freitag, 19.12.2003 – Heimatland, schönes Land?

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Als ich nach dem Aufstehen den Wasserhahn aufdrehe, kommt nichts raus. Aha. Dann haben sie in der Parallelstraße wahrscheinlich wieder die Wasserleitung in Arbeit. Dann schreibe ich den Hausaufgabentext eben vor dem Duschen, so das Wasser zurückkehren sollte, bevor ich zur Uni muss. Ich drücke mich heute wirklich seltsam aus. Oder kommt mir das nur so vor? Was ist los? Ich weiß es nicht… ich muss immer so schreiben, wie es mir in den Sinn kommt, alles andere gefällt mir tags darauf (da! Schon wieder so ein Begriff!) schon nicht mehr.

Ja, das Wasser. Nein, eben nicht das Wasser, sondern der Fisch…, nein, mein Text. (Eine Stunde nach dem ersten Versuch haben wir wieder Wasser.) Ich muss also noch einen Text (für den Kurs von Ogasawara-sensei) entwerfen… zu lange aufgeschoben habe ich das ganze schon. Und schreiben tue ich schon wie Yoda. Sei’s drum. Auf jeden Fall stehe ich rechtzeitig auf, um noch meinen Text schreiben zu können. Wir sollen einen kurzen Vortrag halten, und zwar über unsere Heimatstädte, im Unterricht von Ogasawara-sensei. Genau. Ja, das wäre bei mir dann wohl Gersheim. Aber über Gersheim gibt es auf den ersten Blick zumindest nicht sehr viel zu erzählen. Da muss ich ein paar Minuten nachdenken… ich greife ausweichend zu meinem Stück Leinen, auf das ja noch etwas eingestickt werden soll, oder besser: es fehlen noch zwei Drittel von dem Werk. Ich sticke also weiter drauflos, um mich von meinem Gersheim-Vortrag abzulenken.

Ich stelle dabei fest, dass es gar nicht so schrecklich einfach ist, auf einem quadratischen Grundmuster einen runden Buchstaben hinzubekommen… aber für jemanden, der das noch nie in seinem Leben gemacht hat und zwei Minuten braucht, bis der vermaledeite Faden endlich in dem Öhr ist, habe ich meine Aufgabe gar nicht schlecht gemacht. Ein paar Koordinationsfehler sind leider sehr offensichtlich, aber ich bin im Großen und Ganzen zufrieden damit. Das wird mein „Bild des Tages“ am Tag des Abgabetermins. Und der ist, wenn ich mich recht erinnere, am 15. Januar.

Aber dann hat mich mein Text wieder. Ich mache eine Stichwortsammlung, und hoffe, dass ich alle Vokabeln noch auftreiben kann. Damit die Angelegenheit nicht zu kurz wird, integriere ich noch ein paar Dinge, die nicht direkt im Ort sind, sondern auch ein Stück weg, sofern zu Fuß erreichbar. Was haben wir denn… ich stelle fest: ich weiß noch nicht mal, wie alt der Ort ist. Ich sage einfach mal 800 Jahre.1 Erstens wird das keiner in der Klasse überprüfen und nach dem Unterricht haben es alle wieder vergessen. Als nächstes gibt es Orchideen bei uns. Ja, das wird gut ankommen. Wir haben ein Kalkwerk, und man findet versteinerte Fossilien auf dem Feld. Hui, die Vokabel ist vielleicht zu bissig… das lasse ich unter den Tisch fallen. Die Vokabel für „Naturschutzgebiet“ reicht mir schon zu Genüge. In weiterer Entfernung haben wir die römische Villa bei Reinheim (ich schließe das großzügig in Gersheim mit ein), das Keltengrab an gleicher Stelle, und natürlich muss ich den kurzen Fußweg bis nach Frankreich ansprechen – da staunen nämlich die Asiaten immer alle und finden das ganz toll, dass ich zu Fuß und ohne Grenzkontrollen nach Frankreich gehen und dort frz. Waren kaufen kann, einfach so, mal schnell vor dem Frühstück und eigentlich immer, wann mir danach ist. Dass mir eigentlich noch nie danach gewesen ist und ich die nahe frz. Grenze als etwas Alltägliches und etwas wenig aufregendes betrachte, wollen Menschen aus Asien nicht recht verstehen.
Ja, aber ihr Chinesen, ihr habt die Große Mauer – und ihr Japaner, ihr habt den Ise-Schrein!
Ach so, ja, das…
Scheinbar ist die Indifferenz gegenüber kulturellen Gegebenheiten nur eine Frage der Gewohnheit.

Wenn ich in Deutschland von zuhause aus ein paar Kilometer weit gehe oder fahre, gehe ich an Jahrhunderten von Geschichte vorbei, ohne, dass es mir sonderlich auffallen würde. Kirchen! Was sind denn schon Kirchen? Wer braucht Kirchen, mein Gott… (ja, genau der braucht die!), aber wenn ich in Hirosaki durch die Stadt gehe, fällt mir jeder Schrein ins Auge, als habe er eine Neonreklame ausgehängt. Das heißt, es sind wohl die markanten roten Tore, die mich optisch anspringen. Um Himmels Willen, ein kultureller Monolog entfaltet sich. Nicht heute.

Der Vortrag wird auch gar nicht schlecht. Es ist der einzige, der von Fragen seitens der Zuhörer, und nicht von Vokabelkorrekturen seitens der Lehrerin beendet wird. Manzoku da ne.

Danach gehe ich in die Bibliothek und schreibe meine Post. Und ich stelle erst jetzt fest, dass ich meine beiden Uhren zuhause vergessen habe. Also muss ich die Zeit abschätzen. Nicht, dass ich auch jemanden hätte fragen können… auf jeden Fall sorgt das Missgeschick vom Morgen dafür, dass ich eine Stunde zu früh zuhause bin. Schon um halb sieben. Macht nichts, dann kann ich ja den „Doraemon“ Film ansehen, der für heute im Programm steht. Inklusive Werbung dauert der Film zwei Stunden, und dann habe ich immer noch bequem Zeit zum Einkaufen, da mein Supermarkt ja jeden Tag bis um 21:45 geöffnet hat. Das wird mir in Deutschland fehlen.

1 Erste urkundliche Erwähnung findet der Ort um 1150 als „Geroldesheim“.

18. Dezember 2023

Donnerstag, 18.12.2003 – Gesteuerter Volkszorn?

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Ich bin beim Herrichten des Essens gestern Abend der Empfehlung von Andreas gefolgt und habe eine kleine Handvoll kleingehackte Nüsse in das Kochwasser des Reises getan. Das Ergebnis zeigte sich heute Morgen. Der Reis hat eine bräunliche Farbe angenommen und riecht sehr appetitlich. Ich finde den Geschmack sehr ansprechend, aber wie üblich kann Melanie darauf verzichten. Das Essen, das ich koche, findet in den meisten Fällen ihren Beifall, aber beim Reis ist sie sehr penibel. Was anderes als Reis und Wasser will sie nicht im Topf sehen, und ich habe nach zähen Verhandlungen immerhin eine Prise Salz durchsetzen können. Dem Versuch mit den Nüssen hat sie zugestimmt. Das finde ich gut von ihr. Schließlich darf man sich erst nach dem Probieren über etwas beschweren. Ohne einen Bissen geschmeckt zu haben schon zu sagen „Nein, das möchte ich nicht essen“, finde ich schlicht und ergreifend beleidigend. Aber gut, sie mag die Nüsse im Reis nicht. Dann wird die Packung mit der Mischung ja eine Weile halten.

Eigentlich wollte ich am Morgen noch den Nassbereich reinigen, aber es wird zu spät dafür, wenn wir den Termin mit Masako einhalten wollen. Um zehn Uhr treffen wir Masako und gehen mit ihr noch einmal ein paar Punkte ihrer Katastrophenmeldungen durch, die sie dieses Mal vorliest, anstatt einen Kassettenrekorder zu verwenden. Warum sie das macht, verstehe ich nicht, aber wenn es ihrer Abschlussarbeit nützt, warum nicht? Und der Test dauert tatsächlich nicht sehr lange. Allerdings vergesse ich, auf die Uhr zu sehen, um die Zeit festhalten zu können.

Danach hängen wir im Center rum. Positiver kann man es nicht benennen. Um 14:00 gehe ich in die Bibliothek und schreibe zwei Berichte, bevor ich um 16:00 Yui in der Halle treffe. Aber wir verlegen sofort in die Mensa, weil sie hungrig ist. Und da mir außer dem Unterschied zwischen „Koitsu“ und „Aitsu“ keine dringenden Fragen auf der Seele brennen, wird der Dialog recht entspannend, abgesehen von meinen Vokabelschwächen.

Sie bittet mich darum, ihr zu zeigen, wie man Musik aus dem Internet herunterladen kann. Ich erkläre ihr, dass das nicht sonderlich legal sei und dass sich die Gesetze wie auch die Spionagesoftware deutlich verstärkt hätten, aber sie sagt, sie suche dringend das eine oder andere Lied, ohne dafür gleich die ganze CD kaufen zu müssen. Während des Gesprächs gehe ich noch davon aus, dass sie von ihrem Privatrechner redet, falls sie einen besitzt, der mir bei meinem Besuch entgangen sein könnte. Aber nein, sie meint den Unirechner. Ei, ei, ei… durch den praktischen Versuch mache ich ihr deutlich, dass sie zum Herunterladen von mp3-Daten eine Downloadsoftware installieren muss und dass sie zum Installieren von was-auch-immer auf dem Unirechner sogenannte Administratorrechte benötigt, die man als 08/15-Student natürlich nicht hat. Außerdem könne das Rechenzentrum, wenn die Installation möglich wäre, gegen illegale Downloads vorgehen, weil ja einwandfrei feststellbar ist, wer zu welchem Zeitpunkt was heruntergeladen hat. Und mich wundert dabei doch sehr, dass es in Trier (oder sonst wo) noch nicht zu Verhaftungswellen wegen Verstoßes gegen das Urheber- oder Kopierrecht gekommen ist… und mir soll keiner erzählen, dass nicht auch Dinge heruntergeladen werden, die schlicht und ergreifend als illegal einzustufen sind, und das wegen der Art der Inhalte und nicht wegen des Downloads an sich. Aber ich weiß ja nicht, wie wichtig das Rechenzentrum in Hirosaki seine Aufgabe als Datenwächter nimmt.

Um 18:00 will ich eigentlich nach Hause gehen, aber es regnet in Strömen, also bleibe ich noch, bis der Regen (50 Minuten später) endlich aufgehört hat. Am Abend laufen die jeweils letzten Episoden von „TRICK“ und „Manhattan Love Story“. „TRICK“ hat kein wirkliches Ende, also ist es durchaus möglich, dass weitere Staffeln nachfolgen, nachdem die bis heute gelaufene ja offenbar schon die dritte gewesen ist, wie Alex mir irgendwann einmal mitgeteilt hat. „MLS“ dagegen hat ein definitives Ende und alle Stammgäste des Cafés haben einen Partner fürs Leben gefunden.

Mittlerweile hat sich auch geklärt, warum in Peking derzeit die Wellen hoch schlagen. Die japanischen Studenten, gegen die sich der Zorn richtet, waren Teil einer multikulturellen Party, wie man sie, im Prinzip, auch in Hirosaki veranstaltet. Auch sie hatten sich eine kleine Nummer ausgedacht, die dazu dienen sollte, ihr Land (Japan) vorzustellen. Die Japaner (alle männlich und um die 20 Jahre alt) hatten hierzu kurze Hosen und quietschbunte BHs getragen. Die BHs waren mit Papierschnipseln gefüllt und waren weiterhin mit Kondomen verziert. Auf den Rücken hatten sie sich (in Kanji natürlich) „Japan + China“ geschrieben, umrahmt von einem großen Herzen. Die Papierschnipsel waren wohl mit kurzen Glückwünschen beschriftet und ins Publikum geworfen worden.

Ja, das ist alles. In Deutschland (und wohl auch in Japan) wäre das schlimmstenfalls als geschmackloser Scherz durchgegangen, und auch nur in dem Fall, dass wir von einem sehr konservativen Publikum ausgehen – junge Leute dürfen das, denke ich. Aber nicht in China! Und wie man das in (zumindest offiziell) kommunistischen Staaten so macht, hat sich sofort ein das Volk repräsentierender Mob organisiert, um diese Beleidigung anzuklagen. Und offenbar auch zu sühnen. Tagelang. Ich kann nicht verstehen, warum wegen eines solchen Unsinns gleich 2000 Leute auf die Straße gehen, „Japaner raus!“ brüllen, und auch noch an den entsprechenden Wohnungen randalieren müssen. Die Hauswand wurde beschmutzt, die Scheiben eingeworfen. Was das soll, ist weder mir noch anderen Leuten in meinem Umfeld verständlich. Auch nicht den Chinesen, die ich kenne.

17. Dezember 2023

Mittwoch, 17.12.2003 – Alte Bekanntschaften

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Am Morgen verschicke ich Fotos an Karl. Allerdings so viele, dass seine Mailbox schließlich meldet: „Storage exceeded“.

Am frühen Nachmittag treffe ich Mei und doktere an ihrem Englisch herum, später mache ich noch weitere Bilder von den nötigen Leuten, wie ich sie gerade treffe. Masako teilt uns des weiteren mit, dass wir beide morgen früh um 10:00 doch bitte noch einmal zu ihr kommen sollten, für einen weiteren kurzen Hörverständnistest von 30 Minuten. Sagt sie. Der letzte „kurze Test“ hat immerhin auch kurzerhand 90 Minuten gedauert.

Nach weiterem Herumwerkeln an dem Poster gehe ich zu Sawada-sensei und rede mit ihr über meine Idee, gegebenenfalls „eine Weile“ länger in Japan zu bleiben, und wie es mit Existenzmöglichkeiten denn so aussehe. Stefan Desliu dient mir hier als hoffnungsvolles Beispiel. Natürlich empfiehlt sie mir, erst einmal einen Abschluss zu machen und dann zurückzukommen. Damit habe ich gerechnet, und eigentlich ist es ja auch die von mir bevorzugte Version. Sie sagt, ich solle eben von meinem Stipendium so viel ansparen, wie überhaupt möglich, um die Zeit einer Jobsuche in Deutschland zu überbrücken. Das löst allerdings mein Problem nicht, dass ich binnen Rekordzeit (drei Wochen!?) eine Bleibe in Trier finden muss, um überhaupt eine Jobgrundlage zu haben – sofern ich nicht bereits von Japan aus etwas schieben kann. Sie sagt weiterhin, dass ich doch mit den Neuseeländern reden solle. Die hätten nämlich alle kleine Jobs, die sie im Februar aufgeben müssten, weil sie dann in die Heimat zurückkehrten. Das klingt doch nicht schlecht.

Auf dem Weg in die Bibliothek treffe ich – man glaubt es kaum – eine „alte“ Bekannte wieder: Yukiyo. Das drucke ich deshalb fett, weil sie ja nicht „Yukio“ heißt, wie ich damals im ersten Moment angenommen hatte, und sie klärte mich darüber auf, dass „Yukio“ ausschließlich ein Männername sei. Ich betone also die letzte Silbe immer, wenn ich von ihr spreche. Sie war die junge Frau, die nach der „Welcome Party“ am 07.10. fragte, ob ich mich an sie erinnere. Das trifft sich prima, dann kann ich gleich ein Bild von ihr machen. Das heißt, ich mache eigentlich drei von ihr, weil das erste wegen des Blitzes zu hell und das zweite mangels Blitz zu dunkel wird. Ich stelle sie also an eine Wand unter eine Lampe und die Sache ist gut. Ihre Freundin lacht sich wegen des Hin und Hers dieser Odyssee schief. Diesmal vergesse ich nicht, ihre Mailadresse festzuhalten. Was mich daran erinnert, dass ich eine yahoo.co.jp Adresse einrichten sollte, um meine japanischen Kontakte, die des Englischen nicht ultimativ mächtig sind, so richtig ausschöpfen zu können.

Um 17:40 komme ich dann endlich in die Bibliothek. Aus dem Plan, um 18:00 fertig zu sein, wird also definitiv nichts. Vielleicht also um 19:00. Aber der Zufall will es, dass Misi auf dem Platz neben mir landet, und weil es mir gerade in den Sinn kommt, schiebe ich ihm die Adresse www.thespark.com rüber, damit er an den ganzen Persönlichkeitstests teilhaben kann. Er findet sie ebenfalls lustig. Nebenbei kopiere ich ihm die englischen Bestandteile meines „Humor“ Ordners und noch ein paar Dinge mehr. Misi hat sich übrigens inzwischen eine japanische Freundin angelacht, und man munkelt, dass seine Anwesenheit an der Universität in den letzten drei Tagen unter der trauten Zweisamkeit gelitten habe…

So, mit allem drum und dran komme ich um acht Uhr endlich aus der Bibliothek raus und gehe einkaufen. Natürlich Reis, auch Milch, Boco und… na ja, Sushi eben. Heute kaufe ich aber zwei Rollen am Stück, die eigentlich zum Selberschneiden gedacht sind. Aber ich wollte schon immer mal Sushi wie eine Wurst mit der Hand essen… blasphemisch, gelle? Ist wie Rotwein aus dem Tetrapack trinken.

Ich will früh ins Bett, aber mein Tagebucheintrag, obwohl nicht wirklich lang zu nennen, zieht sich bis 23:45 hin, dann muss das Geschirr noch gespült werden, und das Frühstück will auch vorbereitet sein.

16. Dezember 2023

Dienstag, 16.12.2003 – Alle auf einem Blatt

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Wir stehen um 07:15 auf – zu spät! Wir haben vergessen, den zweiten, den „Sieben-Uhr-Wecker“, einzustellen. Der eigentliche Wecker klingelt um 06:45, aber nachdem ich das Geräusch abgestellt habe, döse ich leider sofort wieder weg und mein nächster Blick verrät mir, dass ich mich sputen sollte. Ich komme aus dem Tatamiraum heraus, und… was ist hier los? Der Wohnraum hat nur 12 Grad? Wie kann das sein? Ah ja, Melanie hat den Timer zwar auf „06:45“ eingestellt – aber für den Abend. Links neben dem Zahlenfeld befinden sich zwei LDs, eine davon steht für „Gozen“ („Vormittag“) und die andere für „Gogo“ („Nachmittag“). Man kann sich leicht damit vertun, wenn man 24-Stunden-Anzeigen gewohnt ist. Aber zwölf Grad sind ja noch keine frostige Temperatur. Kein Grund zur Aufregung. Der Raum wird warm sein, wenn ich aus der Dusche komme.

Ich fasse heute den Plan, ein Sammelposter mit all den Leuten zu machen, mit denen ich „positive“ Kontakte habe (oder hatte). Das bedeutet, dass es noch weitere Leute hier gibt, die aber nicht auf dem Poster auftauchen werden – weil sie nie in meinen Berichten genannt werden. Warum sich ein Bild von (subjektiv) unwichtigen Leuten machen? Ich mache die Fotos mit meiner Kamera recht groß, verkleinere sie dann auf 15 % und füge sie in ein leeres MS-Paint Dokument ein, eines nach dem anderen, und werde bald eine brauchbare Sammlung von Köpfen haben. Daneben sammle ich auch noch die E-Mailadressen, um das Poster auch an die dargestellten Personen verschicken zu können.

Von Misi wurde wie erwähnt vor kurzem der Gedanke aufgebracht, es am Freitag noch einmal mit einem Tabehôdai zu versuchen, aber heute stellt sich heraus, dass Angelas Aufruf, am Freitag Abend nach Nishihiro („Hirosaki West“, könnte man sagen) zu gehen, um „einen zu heben“, bereits einen wesentlich größeren Anklang gefunden hat. Ich erkläre mich prinzipiell dazu bereit, mitzugehen, aber ich bin mir natürlich nicht sicher, ob sich Angelas nicht näher definierte Aufbruchszeit mit dem Ende meines Berichtschreibens vereinbaren lässt. Aber sie sagt, sie werde mich oben abholen, sobald es losginge. Soll mir Recht sein. Sie erinnert mich am Abend im Treppenhaus noch einmal daran, indirekt. Das heißt, ich treffe eigentlich SangSu, der bei Angela vor der Tür steht, um sich einen Flaschenöffner auszuleihen. Er hat eine kleine Party für einen Koreanisch-Sprachkurs laufen. Er sagt, auch Angela habe ihm mittlerweile das Leben gerettet. Wie das? SangSu hat, wie auch immer, seine Ölpumpe kaputtgemacht und auch keinen Trichter, um das Kerosin effektiv umfüllen zu können. Also hat er sich die Pumpe von Angela ausgeliehen, um sich und seine Party auch aufwärmen zu können.

Auch heute kaufe ich wieder eine Portion Sushi, die groß genug ist, dass am Ende (satt!) noch eine Schachtel übrig ist. Aber bei Angeboten von 50 % kann ich schlecht „nein“ sagen. Aha, unser Reis ist effektiv auch schon wieder am Ende. Ich sollte morgen einen neuen kaufen. Für einen 10-kg-Sack ist eine geschätzte Lebensdauer von drei Wochen also realistisch zu nennen.

15. Dezember 2023

Montag, 15.12.2003 – Kein Ende in Sicht?

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Am Morgen passiert mir das Missgeschick, dass ich während des Unterrichts angerufen werde. Ich habe vergessen, das Telefon abzuschalten und Yui hat den Tag verpeilt. Sie dachte, ich hätte erst später Unterricht. Sie möchte mich treffen, damit ich ihren „Arbeitsnachweis“ unterschreiben kann. Dieser Unfall ist mir natürlich peinlich und bringt mich derart aus dem Konzept, dass ich dem Unterricht nur noch schwer folgen kann. Aber es wäre mir noch peinlicher gewesen, wenn nicht Yamazaki-sensei selbst hin und wieder C-Mails auch während der Unterrichtszeit bekommen würde.

Misi meint zu mir, wir sollten es am Freitag noch einmal mit dem Tabehôdai versuchen. Ich habe nichts dagegen, aber ich werde nichts selbst organisieren, bevor ich nicht die entsprechende Liste mit Mailadressen zusammen habe. Des weiteren muss ich meine Kamera mal wieder leer machen, und mein Porträt muss ich auch noch einscannen, damit ich es zum gegebenen Zeitpunkt als „Bild des Tages“ versenden kann. Aber die Rechner im Center sind dauerbelegt, also verziehe ich mich in die Bibliothek.

Am Abend sehe ich mir die letzte Folge der aktuellen Staffel von „Ogami“ an. Der präsentierte Schluss ist so offen wie mein Mund während des Abspanns. Ogami trifft auf seinen Erzfeind, mäht eine Hundertschaft von dessen Leuten mit dem Schwert nieder, wird schließlich schwer verwundet und sticht seinem Gegner das Katana einige Zentimeter tief ins linke Auge. Der Böse wird daraufhin von seiner treusten Gefolgsfrau (hübsch, aber irre) gerettet und vom Schlachtfeld entfernt. Ogami bricht zusammen und sein kleiner Sohn pflegt seine Wunden am Fluss. Kurz darauf ist er wieder unterwegs, mit seinem Sohn und seiner Schiebekarre. Das ist kein Ende.

Danach läuft ein Special von Tai Ginseng, ein zweistündiger Film, plus etwa eine Stunde Werbepausen. Der Film ist deutlich besser aufgebaut als die Serie, und es treten Charaktere aus alten Staffeln auf (gealtert!). Natürlich fehlt mir da der Wiedererkennungseffekt. Lustig ist vor allem die Einblendung alter Szenenschnipsel, denen man ansieht, dass sie aus dem Archiv stammen, und dass sie gefärbt wurden – die Serie war ja bis 1993 schwarzweiß. Wenn sich der alte Herr an die Person erinnert, die ihm gerade wieder über den Weg gelaufen ist, wird eine solche alte Szene eingespielt.

Aber generell ist auch der Film eine unfreiwillige Lachnummer, weil einfach zu viel von der Handlung an den Haaren herbeigezogen wird. Mindestens zweimal z.B. taucht der Herkules in ausweglosen Situationen aus dem Nichts auf und rettet alle: Da werden zum Beispiel der Alte und seine Begleiter über einen Fluss getragen. Im Wasser lauern Attentäter. Plötzlich sieht man den Herkules tauchen und er entfernt das Problem. Woher er auch immer wusste, dass da zwei Shinobi im Wasser planschen. Oder: Der Alte und seine Begleiter werden über den nächsten Fluss gerudert. Der Fährmann setzt sich plötzlich mitsamt den Rudern ab und die Gruppe in dem Boot gleitet auf einen großen Strudel zu. Plötzlich ist der Herkules da mit einem zweiten Boot und wirft einen Enterhaken herüber, mit dessen Seil er die anderen aus der Gefahrenzone zieht. Ich habe einmal gehört, dass auch Captain Harlock hin und wieder solche Aktionen in Serien von Reiji Matsumoto bringe, in denen er ursprünglich gar nichts zu suchen hat.

Das hat natürlich wieder Zeit gekostet, und die Arbeit muss nachher erledigt werden. Um 01:10 kann ich den Tag endlich beenden.

14. Dezember 2023

Sonntag, 14.12.2003 – Kurz und kreativ

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 7:00

Während ich geschlafen habe, kam SangSu noch mitten in der Nacht vorbei, um zu fragen, was mein Haarschnitt gekostet habe. Wenn seine Haare noch weiter wüchsen, würde er bald aussehen wie Koizumi Junichirô. Das wolle er natürlich vermeiden. Melanie kann seine Frage aber beantworten, ohne mich dafür zu wecken. 1000 Yen kostet ein Haarschnitt.

Der heutige Tag selbst ist völlig ereignislos. Wäsche waschen und einen Bericht schreiben. Danach fülle ich mein Tagebuch mit den Ereignissen von gestern, weil ich zu müde dazu war, das noch am gleichen Abend in Angriff zu nehmen.

Um 23:00 will ich eigentlich ins Bett, aber es sind noch Hausaufgaben übrig, und mit der von Sawada-sensei „eingeforderten“ Stickerei sollte ich auch irgendwann mal anfangen. Um 00:15 ist mein Faden allerdings alle und ich werde einen weiteren erbitten müssen, wenn mein Motiv fertig werden soll. Spaß macht mir die Angelegenheit immer noch nicht, aber es ist festzustellen, dass die Sache viel leichter von der Hand geht, wenn man ein eigenes Muster im Kopf hat, anstatt immer wieder auf einen Plan sehen zu müssen, ob man auch die Nadel jeweils durch die richtigen Löcher gezogen hat. Beim momentanen Stand der Dinge sieht es so aus, als würde ich sogar einen dritten Faden brauchen.

13. Dezember 2023

Samstag, 13.12.2003 – Der begehrteste Mann im Kindergarten

Filed under: Japan,My Life,Spiele,Sport — 42317 @ 7:00

Auf dem Weg in die Bibliothek pumpe ich endlich mal wieder etwas Luft in die Reifen meines Fahrrades. Danach werden Mails geschrieben, ohne, dass etwas Dramatisches dabei vor sich geht. Um 16:00 brechen Melanie und ich auf, um der Einladung des „Hippo Family Clubs“ zu folgen, den ich für gewöhnlich „Happy Hippo Club“ nenne, weil es leichter von der Zunge geht. Verdammtes Werbefernsehen!

Wir fahren auf der Straße Richtung Daiei, kommen an die Eneos Tankstelle, und gegenüber wartet auch schon ein bekanntes Gesicht. Es ist der Mann, der mich darauf aufmerksam gemacht hat, dass Vogelweide wahrscheinlich nicht im 1200. Jahrhundert geboren worden ist. Er ist erkältet, wie mir scheint. Sushanan und Yong treffen zur gleichen Zeit ein.

Wie ich mir bereits dachte, handelt es sich auch hierbei um eine durchorganisierte Party mit festem Zeitplan. Ab 16:30 beginnt die „Endphase“ des Aufbaus. Ein hellblauer Teppich und drei Tatamimatten wurden bereits auf dem Boden platziert, damit die Füße nicht zu kalt werden. Es kommen mehr und mehr Leute und schließlich trifft auch die Stereoanlage ein. Maeda-san nutzt sie, um ihre Stimme mit dem angeschlossenen Mikrofon verstärken zu können, obwohl der Raum bestenfalls 35 qm groß ist. Aber wir brauchen die Anlage natürlich noch für was anderes…

Letztendlich anwesend sind die Gastfamilien und die ihnen zugeteilten Studenten, niemand sonst. Eine überschaubare Gruppe. Um 17:00 habe ich bereits die ersten Abenteuer hinter mir, nachdem die (vornehmlich weiblichen) Kinder mich wiedererkannt haben und mit dem „Kinnikuman“ spielen wollen. Weil ich nicht auf dem Boden Platz nehmen will, so lange es sich vermeiden lässt, und auch nicht stehen will, setze ich mich auf die Fensterbank. Neben mir ein halbes Dutzend Mädchen – wie bereits früher erwähnt – im Alter von vier bis elf Jahren. Sie verstecken sich (uns), indem sie die Jalousie des Fensters herunterlassen, und ich werde unfreiwillig Teil dieses Spiels, das ihnen auch nach mehreren Minuten und mehrmaligem Hochziehen und Herunterlassen der Jalousie nicht langweilig werden will.
Dann zieht mich eine davon an der linken Wange, wie das Melanie normalerweise zu tun pflegt, und ruft:
Der hat ja Barthaare im Gesicht!“ und findet das ungeheuer lustig.
Natürlich, das ist männlich!“ („Mochiron, otokorashii da zo!“) sage ich dazu, und alle lachen sich halbtot – weshalb auch immer. Ich wollte natürlich einen Scherz machen, aber dass er eine solche Wirkung haben würde, habe ich nicht erwartet. Und es wird noch toller. Minato, die Kleinste aus der Gruppe kommt im Anschluss noch öfter zu mir und bittet mich, „otokorashii“ zu sagen (und nichts weiteres). Ich tue es ein paar Male und jedes Mal kugelt sie sich auf dem Boden und quietscht vergnügt. Ich wusste nicht, dass das Wort so lustig ist. Auch wenn man es mit verschiedenen Betonungen sagt… aber vielleicht sehe ich das zu rational. Ihr zur Freude mache ich den Spaß eine Weile mit, aber irgendwann wird es mir doch eine Spur zu kindisch, und ich bitte sie freundlich, damit aufzuhören. Sie tut es, ohne sich zu beschweren, aber…

Wir haben ja alle Namensschilder bekommen, selbstklebende Papierstreifen, die wir selbst beschriften. Und als nächstes malen die Mädchen gleich zwei Schilder, auf denen „otokorashii“ zu lesen ist und kleben sie mir auf die Brust. Sie bekommen später einen Platz im „Manuskript“ meines Tagebuchs. Dann gehen sie dazu über, meine Arme und Beine zu befühlen, weil sie die Muskeln so toll finden. Ich finde das ein bisschen peinlich, aber ich will auch kein Spaßverderber sein. Als seltene Attraktion kommt auch einer der Jungs zu mir, etwa sieben Jahre alt, greift nach meinem Oberarm und meint „Das ist doch bestimmt nur Fett!“ Leider muss ich ihn in diesem Punkt enttäuschen, nachdem er sich empirisch überzeugt hat. Er läuft rot an und verschwindet wieder zu seinen Freunden, die an einer Tafel in der Ecke Baseball-Spielzüge durchgehen oder „Vier gewinnt“ spielen. Die Mädchen gehen derweil dazu über, mich mit einer Tür zu verwechseln und klopfen auf meinem Oberkörper herum. „Katai!“ („Hart!“) sagen sie. Hoffentlich wechsele ich nicht ebenfalls zu auffällig die Gesichtsfarbe. Ich habe wie üblich keine Ahnung, wie ich mit diesem ungebremsten Sturm der Begeisterung umgehen soll. Also „Helm auf und Glück ab!“, wie ein Freund letztlich sagte.

Das allein waren die „Abenteuer“ bis um fünf Uhr. Dann beginnt der offizielle Teil. Ich muss endgültig auf den Boden umziehen, das Mikrofon wandert reihum und jeder stellt sich kurz vor, beginnend bei SangSu. Das Procedere „Ich bin… und ich komme aus…“ wird spätestens beim vierten Mal langweilig.
Ich nehme das Mikrofon. „Ja, wer bin ich eigentlich?“ frage ich.
Leises Lachen im „Zuschauerraum“.
Der männliche Dominik!“ („Otokorashii Dominiku!“) rufen die Mädchen, als hätte ich sie dazu aufgefordert.
Amüsiertes Lachen unter den Erwachsenen.
Sehr gut! Gibt es jemanden, der mich noch nicht kennt? Nein? Wie es scheint, bin ich berühmt…
Ich spüre deutlich die pfeilspitzen Blicke von Melanie. Ich gebe das Mikrofon also lieber weiter.

Auch Familie Jin ist mittlerweile eingetroffen und hat sich in meine Nähe gesetzt. Mutter Eiko stellt sich vor. Uh, Keigo = feinstes Japanisch. Vater Yûtaka macht das ganze weniger förmlich. „Oosu!“ ruft er zur Einleitung. Eine Art Schlachtruf von Sportmannschaften. Wieder habe ich das Gefühl, in der irrsten Familie von dem ganzen Haufen gelandet zu sein… ohne das jetzt irgendwie negativ zu meinen.
Das Ehepaar Jin trägt T-Shirts mit aufgedruckten Familienfotos. Sie trägt eines, das sie zusammen mit ihrer Tochter zeigt. Offenbar recht aktuell. Sein T-Shirt zeigt ein Foto, das 1950 aufgenommen wurde. Er sagt, eigentlich habe er das Hemd seiner Mutter geschenkt, aber sie wolle es aus Gründen des Aberglaubens oder der Pietät, je nachdem, wie man es betrachtet, nicht tragen. Er hält die rechte Seite des Fotos zu. „Die sind bereits alle gestorben“, sagt er. Die Mutter wolle die Geister der Toten nicht beleidigen. Da er selbst nicht an solche Geister glaube, habe er kein Problem damit, das T-Shirt zu tragen. Ich frage ihn, wo man solche T-Shirts machen lassen könne. Er habe es in Tokyo gekauft, sagt er. In Hirosaki gebe es einen solchen Laden wahrscheinlich nicht. Ist eigentlich auch egal. Derzeit habe ich kein Motiv, das ich unbedingt auf einem T-Shirt sehen wollte.

Dann stellen sich die Studenten in einer Reihe auf, mit Ausnahme von Melanie, die ja „nur“ ein Gast ist, ohne Gastfamilie. Wir erhalten Geschenke – die Kinder der jeweiligen Familie haben je ein Porträt von uns gemalt, auf ein Blatt Papier, A4 Format, auf Pappe aufgeklebt, mit einem Band zum Umhängen. Yûmiko hat mich gemalt. Idealisiert, ohne Brille und etwas zu blond, aber es ist das schönste Bild von allen. Aller Subjektivität zum Trotz. Yûtarô hängt mir meines um, Yûmiko gibt Sushanan ihres. Yûtarô legt mir gegenüber immer noch eine gewisse Unsicherheit an den Tag. Also muss ich ihn noch ein bisschen auftauen. Sobald ich herausgefunden habe, wie ich es anpacken kann. Natürlich werden Fotos gemacht, wir mit unseren Porträts.

Dann beginnen die obligatorischen Spiele. Zum Aufwärmen der „L-O-V-E“ Song. Ich kriege die Fingerbewegungen nicht koordiniert. Auch das Spiel, wo jemand eine Zahl sagt und sich dann entsprechend große Gruppen bilden müssen, wird noch einmal durchexerziert. Aber diesmal bin ich darauf gefasst und kann unverkrampfter an die Sache herangehen. Danach stellen sich zehn Freiwillige in die Mitte des Raumes, die übrigen bilden einen Kreis um sie herum. Dann wird eine Musik gespielt, der äußere Kreis bewegt sich im Takt der Musik auf die Mitte zu und jeder tritt irgendjemandem (sanft) ans Bein. Ich sehe davon ab, jemanden zu treten. Ich habe keine Ahnung, was das hier bedeutet, aber die Gesetzmäßigkeiten erschließen sich schnell. Der Tritt ans Bein ist gewissermaßen eine Herausforderung zum Jan-Ken-Pon. Okay, alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei. Die Melodie hört auf zu spielen und die Getretenen gehen zum jeweiligen Herausforderer und spielen mit ihm/ihr Jan-Ken-Pon. Wer verliert, muss in die Mitte, bzw. in der Mitte bleiben. Man hat zehn Sekunden Zeit, mit Leuten Jan-Ken-Pon zu spielen, um aus dem Kreis herauszukommen, bevor die Musik wieder zu spielen und der Tanz von vorne beginnt. Da die Vierjährige offenbar einen Narren an mir gefressen hat, sehe ich mich die ganze Zeit über ihren „Attacken“ ausgesetzt, und sie hat ein diebisches Vergnügen daran, mich so kräftig zu treten, wie sie nur kann – aber da sie bestenfalls 20 Kilo wiegt, ist das nicht viel. Jin Eiko bedient die Stereoanlage, da sie mit ihrem gerade wieder halbwegs brauchbaren und noch immer bandagierten Fuß nicht mitspielen kann. Ich hoffe, sie langweilt sich nicht allzu sehr.

Nachdem ich dann alle Spiele ohne bleibende Schäden überstanden habe, gibt es was zu Essen. Und davon nicht zu wenig. Die Familien haben es zubereitet. Da steht eine Art Rahmkuchen, der eher wie ein großes Omelett aussieht, Obstsalat, Onigiri (Reisbällchen) verschiedener Art, gekochte Hühner(-unter-)schenkel, Spaghetti mit mehreren Sorten Soße, darunter Hackfleischsoße, eine scharfe Tomatensoße und sogar Pesto, eine Art Kuchen, dessen einzelne Stücke man andernorts als „Brownies“ bezeichnen würde, kleine Cupcakes, Reis mit Gemüse, Nudeln mit Fleisch und Soße, frittiertes Schweinefleisch, frittierte Teigstückchen, frittierter Teig mit Fleischstückchen, natürlich Sushi, und etwas, das man in Deutschland als „Schweinebraten mit dunkler Soße“ bezeichnen würde. Fast das gleiche wie zuhause, nur der Daikon-Rettich und das Gemüse in der Soße wirken daran japanisch. Und das Fleisch wurde bereits mundgerecht geschnitten, damit man es ohne Messer und Gabel mit Stäbchen essen kann. Nachdem ich von allem eine Portion gegessen habe, bin ich natürlich satt, aber ich nehme noch ein paar Happen von den Sachen, die besonders gut waren. Jetzt bin ich kurz vor „überfressen“.

Übrigens ist auch die Chinesin, die so schön getanzt hat, hier. Mit der offenen Frisur habe ich sie nicht sofort erkannt. Erst das Bild, das man ihr geschenkt hat, brachte mich in die richtige Richtung, weil sie darauf in dem entsprechenden Kostüm dargestellt ist. In japanischer Transkription heißt sie „FanFan“. Die chinesische Originallesung kann ich nicht aussprechen; sie überträgt sich u.a. etwa als „KanKan“ ins Japanische, aber das klingt ja furchtbar…. Das Original jedenfalls kann ich mir nicht merken und… na ja, dann lieber „FanFan“. Meine Bitte, sie möge doch bei anderer Gelegenheit noch einmal tanzen, weist sie höflich und lächelnd zurück.

Nach dem Essen führen die Kinder ein kleines Stück auf, das offenbar aus Russland stammt – und es scheint die russische Version von der „Rübe“ zu sein. „Die Rübe“ ist ein Gedicht oder ein Lied, das sich in einem meiner Lesebücher der Grundschule befand, dritte Klasse, glaube ich, und es geht darum, dass einer aufs Feld geht und eine riesige Rübe vorfindet, die er allein nicht aus der Erde ziehen kann; also ruft er Verstärkung, und einer nach dem anderen kommt, um beim Herausziehen der Rübe zu helfen, bis schließlich alle gemeinsam anpacken und die Aufgabe bewältigen.
Die gezeigte russische Version handelt von einem Bauern, der seine Frau, seine Kinder und seine Eltern zu Hilfe ruft, und schließlich ziehen alle Bewohner des Hofes gemeinsam an der Rübe, vom Bauern bis zum Hofhund, der Katze und der Maus. Die Kinder haben hierzu entsprechende, wenn auch einfache Kostüme gebastelt. Sehr niedlich. Jin Eiko hält während der Vorführung Pappschilder in die Luft, auf denen die Szenen noch einmal in Bilderform aufgemalt sind und liest von der Rückseite den Erzähltext ab. Die Rübe, um die es letztendlich geht, ist ein Zusammenschnitt aus einem großen roten Kopfkissen und grünen Stoffstücken in Blattform.

Dann ist das Programm zu Ende und das Einpacken und Verteilen des restlichen Essens beginnt. Die Tische werden gesäubert und zusammen mit den Stühlen wieder in die jeweilige Ausgangsposition geschoben. Nach und nach verlassen die Leute das Gebäude und ich passe noch einen der Erwachsenen ab, der ein olivgrünes Hemd trägt, das vor einigen Jahren noch Eigentum der deutschen Bundesluftwaffe gewesen war, noch mit Adler an der Schulter und mit Bundesflagge Schwarz/Rot/Gold. Ich frage ihn, wo er das gekauft habe und ob man dort auch japanisches Material kaufen könne. Er habe es in Hirosaki gekauft, sagt er, aber der Laden habe inzwischen geschlossen. Und es gebe nur Material aus dem Ausland, hauptsächlich aus den USA und aus Deutschland. Japanische Uniformen habe er keine gesehen. Das finde ich zwar nicht sehr hoffnungsspendend, aber wenn es noch mehr ausländisches Material gibt, kann ich in Japan vielleicht einen russischen Tarnanzug kaufen, ohne dafür gleich nach Polen oder weiter fahren zu müssen… von Trier aus fährt ja ein Bus direkt nach Minsk. Ich werde auf jeden Fall weiter versuchen, einen Tarnanzug der Jieitai, der japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte, zu ergattern.

Um 19:30 sind wir wieder zuhause und sehen uns „30 Menschen, 31 Beine“ an. Dreißig Grundschüler bilden eine Reihe, ein Bein jeweils an das des Nachbarn gebunden. Sie laufen nacheinander eine Strecke von 50 Metern gegen die Zeit und natürlich gegen Teams aus anderen Gegenden Japans; insgesamt ein Dutzend Mannschaften, die die Vorausscheidungen gewonnen haben, um hier bei den japanischen Meisterschaften antreten zu können. Als Gast ist eine Mannschaft aus Kuba dabei. Die Kubaner scheitern im Halbfinale. Was reden die eigentlich für eine Sprache? Natürlich eine Art Spanisch, aber nach Spanisch hört sich das für mich nicht mehr an. Die ganze Angelegenheit ist sehr emotional. Bei den Verliererteams bricht sich die Anspannung in Form von Tränen feuchte Bahnen. Die begleitenden Lehrer gleich mit. Man hat den Eindruck, die Jungs und Mädchen seien der Meinung, man würde ihre Eltern auf Nimmerwiedersehen nach Sibirien deportieren, sollten sie nicht gewinnen. Aber man sagt mir auch nach, ich sei emotional halbtot. Ich sehe mir die Sendung nicht ganz bis zum Ende an. Nach dem Ausscheiden der Kubaner gehe ich schlafen. Und während ich schlafe… aber das erzählt mir Melanie erst später.

12. Dezember 2023

Freitag, 12.12.2003 – Der Tag, an dem die Welt stillstand

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 7:00

Es regnet und regnet und regnet. Man könnte sagen, es regnet wie bescheuert. Am stärksten am Morgen. Und ich habe seit Anfang November keinen Schirm mehr. Gegen Mittag ist der Regen nicht so stark, vielleicht kann ich sogar mit dem Fahrrad fahren, ohne gleich die Hose wechseln zu müssen. Zuvor muss ich noch ein paar Kanji in den Kopf bekommen, und um 13:00 sehe ich zu, dass ich fertig werde.

Nach dem Unterricht lasse ich mir von Ogasawara-sensei noch einmal die Unterschiede zwischen „aru to“, „areba“ und „attara“ erklären, und es ist ein echter Vorteil, dass die Frau Englisch spricht. Und das sogar sehr gut, beinahe akzentfrei. Ihre Aussprache ist definitiv besser als die von Kashima-sensei. Um 16:45 gehen Melanie und ich wie verabredet zu dem Yakiniku-Restaurant am Maruesu Supermarkt – nur um festzustellen, dass keiner kommt. Wie kann es sein, dass ich etwa zehn Zusagen erhalte und dann niemand erscheint? Das habe ich zuletzt an meinem neunten Geburtstag erlebt. Und wir warten sogar eine halbe Stunde, weil David sagte, dass es bei ihm länger dauern könne. Um 1730 gehen wir dann in den Supermarkt und besorgen uns eine kleine Pizza für 100 Yen. Diese Dinger sind gar nicht schlecht, gemessen am Preis. Vor allem ist eine ordentliche Portion Käse drauf. Nur die Zwiebeln hätte man ein bisschen kleiner schneiden können. Es scheint eine japanische Angewohnheit zu sein, die Zwiebeln in der Tomatensoße sehen zu wollen. Auf dem Heimweg beschließe ich die Einrichtung einer „Yakiniku Mailingliste“. Die soll nicht den Zweck haben, die Leute besser an Fresstermine erinnern zu können – es geht mir darum, einfach ein Datum nennen zu können, ohne erst groß rumzufragen, wann denn nun wer Zeit hat. Ich nenne einen Tag und eine Uhrzeit und schaue, ob sich mindestens zwei Freiwillige einfinden. Wenn niemand kommt, braucht sich auch keiner bei mir zu entschuldigen. Weil ich keine Einladung ausgesprochen habe und auch keiner eine Zusage gegeben hat, nicht wahr? Das spart auch mir Nerven. Wir kommen rechtzeitig nach Hause, um noch „Doraemon“ und „Atashi’n’chi“ sehen zu können. Kurz nach Acht gehen wir noch ein paar notwendige Dinge einkaufen, vor allem was zu Essen. Es ist eine tolle Sache, dass der Supermarkt bis um 21:45 geöffnet hat.

Und als wir gerade vom Einkaufen wieder zurück sind, ruft Jin Eiko an und teilt mir mit, dass sie eben mit dem Wagen vorgefahren sei, um mir einen Lageplan zu bringen, mit dessen Hilfe ich den Dotemachi Square finden könne. Aber sie bringt noch mehr – eine große Tüte Äpfel. Auch Yûmiko ist mitgefahren und scheint sich sehr darüber zu freuen, mich zu sehen. Darüber freue ich mich natürlich. Den Plan hat sie auf eine Weihnachtskarte gemalt, die recht laut ein Weihnachtslied spielt. Auf dem Umschlag steht „Doitsu no Dominik-kun“ („Dominik aus Deutschland“). Die Erwähnung des Vaterlandes (ähem) wirkt auf mich etwas stark, ist aber in Japan relativ normal, um damit eine Zugehörigkeit auszudrücken. Wäre ich Angestellter einer Firma, würde anstatt „Doitsu“ eben jene Firma genannt worden sein. Aber in erster Linie gefällt mir „kun“ besser als „san“. Das klingt vertrauter, und an die Anrede „Herr Schwarz“ will ich mich nicht recht gewöhnen. Ich werde schon noch alt genug dafür werden. In deutschen Begriffen ausgedrückt, lasse ich mich auch nur von Leuten siezen, die das wegen einer wie auch immer von Fall zu Fall gegebenen Hierarchie tun müssen (oder von solchen, die ich nicht ausstehen kann – und damit habe ich das betroffene Publikum jetzt vielleicht ins Grübeln gebracht, haha!). Die Rückseite der Karte sagt „Nihon no Haha, Jin Eiko“ („japanische Mutter, Jin Eiko“). Ja, die Frau trägt wesentlich dazu bei, dass es mir auf dieser Insel so gut gefällt. Aber sie ist natürlich nur einer von vielen Faktoren, die ich möglicherweise gar nicht alle rational erfassen kann.

Sollte ich mir Sorgen darüber machen, dass ich eigentlich bereits jetzt schon gar nicht mehr so richtig von hier weg will? Gibt es nicht zu viele Menschen in der Heimat, an denen mir viel liegt, und die ihrerseits darauf warten, dass ich zurückkomme? Ich fürchte, für mein Problem gibt es keinen bequemen Mittelweg. Ich muss herausfinden, welche Möglichkeiten sich mir wo bieten. Ich darf mich nicht auf einen Weg beschränken – damit bin ich schon einmal derart auf die Nase gefallen, dass es mein Leben radikal verändert hat. Ich muss ausloten, wie es in Deutschland aussieht, wenn ich wieder dorthin zurück muss, aber ich will auch nicht verpassen, was sich mir in Japan bietet. Wenn ich allein daran denke, was mich in Deutschland erwartet, wird mir schon ganz schlecht.

Das „Worst Case Scenario“: Wenn ich zurückkomme, bin ich sehr wahrscheinlich pleite. Das heißt keine Wohnung in Trier für mich (vorausgesetzt, da ist überhaupt was frei!). Wenn ich nicht in Trier wohne, kann ich auch nicht in Trier arbeiten, das bedeutet: kein Geld für Semesterbeiträge und andere notwendige Dinge. Ergo: Studium Ende. Weitere Möglichkeit: Wenn ich etwas Geld in Japan ansparen kann (und sei es durch Geschäfte über E-Bay), komme ich vielleicht ein paar (wenige) Monate über die Runden und habe daher vielleicht Zeit, einen Job zu finden. Auch wenn im Winter eigentlich eher Flaute herrscht. Und das alles setzt immer noch voraus, dass ich einen Platz zum Wohnen finde. Was in Trier nicht so ganz einfach ist. Ich habe noch Anspruch auf zwei Semester Wohnheim, aber die wollte ich eigentlich für das Ende des Hauptstudiums aufheben. Aber was soll ich machen? Notfall ist Notfall und ich muss wohl einen Antrag auf Wohnheim stellen, ob ich will oder nicht, damit ich mein Studium nicht radikal unterbrechen muss, weil ich mal wieder keine Wohnung habe. Ich kann mir wirklich schönere Dinge vorstellen, als Jobsuche in Deutschland… ich werde mal mit ein paar Leuten reden, um mich ein bisschen zu orientieren.

Abrupter Themenwechsel – ich muss mir nicht selbst Magengeschwüre zusammendenken. Die japanische Version des Films „Jingle all the Way“ (dtsch.: „Versprochen ist versprochen“) mit Arnold Schwarzenegger überzeugt mich nicht davon, dass ich den Film noch einmal ansehen möchte, egal, in welcher Sprache. Und wie viele Synchronsprecher für importierte Spielfilme gibt es in Japan eigentlich? Jeder Film hört sich gleich an. Hier gibt es eine Unzahl von hochgradig begabten, gut ausgebildeten und geeigneten Sprechern, die im Anime-Geschäft tätig sind, aber offenbar nur ein halbes Dutzend Sprecher für Realfilme, die alle Rollen sprechen, egal welche. Jedes Mal, wenn ich die Kinderstimmen in einem Film höre, rollen sich mir die Zehennägel hoch, weil man genau hört, dass es sich bei dem Sprecher/der Sprecherin um eine erwachsene Person handelt, die ihre Stimme verstellt. Ich könnte jetzt auf Anhieb und ohne irgendwo nachzuschlagen ein halbes Dutzend Damen nennen, alle in den 1960ern geboren, die ebenfalls Kinderrollen sprechen und denen man nicht anhört, wie alt die Stimme tatsächlich schon ist. Man könnte meinen, dass die Filmindustrie die Rollen in Importfilmen extra schlecht besetzt, um die Kundschaft auf den einheimischen (Anime-) Markt zu lenken.

Und weil der Tag nicht schon schön genug ist, verheddert sich das Band einer Videokassette im Videogerät – und zwar so, dass die Kassette nicht mehr rauskommt. Hurra! Preiset den Herrn! Vielleicht rutsche ich ja noch aus und stoße mir den Kopf an der Türkante… diese Komödie muss doch noch einen dramatischen Höhepunkt finden! Egal… Aufnahmen haben sich damit erst einmal erledigt. Das ist zwar nicht schön, aber mich tröstet der Gedanke, dass ich „SailorMoon“ auch bei „Animesuki“ runterladen kann (oder ich nutze die Tatsache aus, dass sich das noch mehr Leute runterladen). Gute Nacht denn. Ohne Beule oder Platzwunde.

11. Dezember 2023

Donnerstag, 11.12.2003 – Roadrunner

Filed under: Japan,My Life,Uni,Zeitgeschehen — 42317 @ 7:00

Ein sonniger Morgen, kein Schnee über Nacht. Aber es ist dennoch ziemlich kühl. Von dem gefallenen Schnee ist nur noch etwas auf den Dächern und ein paar Flecken auf dem Rasen übrig. Und morgen soll es regnen. Mal wieder.

Leider verschätze ich mich in der Zeit, die ich zum Rasieren brauche und werde erst um 0740 fertig. Dann also schnell den Reis in die dafür vorgesehene Körperöffnung stopfen und los geht’s, um 08:20. Das reicht bei den herrschenden Bodenverhältnissen zu Fuß gerade so, um pünktlich zu sein, wenn man ein bisschen Gas gibt. Die Straßen sind frei, aber auf den Bürgersteigen liegt noch Eis. Es ist allerdings kein festes Eis, es ist gebrochen und sehr körnig. Man kann also beinahe normal darauf laufen. Da wir spät dran sind, will ich mich beeilen, aber pro 100 Meter, die ich zurücklege, fällt Melanie 20 Meter zurück. Vom Boden her wäre es wirklich möglich, etwas schneller zu gehen, als sie das tut. Aber sie kann natürlich nichts dafür – es pflügt nicht jeder so durch die Gegend wie ich. Aber ich will nicht zu spät kommen und ziehe auf den letzten 500 Metern davon. Sie wird mir das übel nehmen, das weiß ich. Aber ich kann nicht spazieren gehen oder alle paar Meter stehen bleiben, um zu warten, wenn ich weiß, dass ich mich eigentlich beeilen sollte. Ich kann dann nicht langsam machen… das macht mich ganz zappelig und meine Laune wird ungenießbar. In dem Fall muss ich also abwägen, ob ich lieber ihre oder lieber meine Laune in den Keller trete. Heute steht meine Entscheidung fest. Ja, vielleicht ist das nicht nett. Ich habe aber was dagegen, zu spät zu kommen, vor allem, wenn es sich noch vermeiden lässt. Wir sind doch kein einheitlicher Organismus – es ist immer noch jeder in erster Linie für sich selbst verantwortlich.

Ich bin etwa eine Minute vor ihr da. Ich vor dem Gong, sie danach. „Danke, dass Du auf mich gewartet hast!
Ja, sie nimmt mir das übel. „Ja, keine Ursache.
Die Situation juckt mich jetzt gerade wenig.
Sie setzt sich in die übernächste Reihe hinter mir. Oha, symbolischer Abstand. Mach nur.

Nach dem Kanjitest, noch während des Unterrichts, sehe ich, dass sie eifrig ihr Tagebuch benutzt – sie wird einen entsprechenden Eintrag zu meinem unsozialen Verhalten schreiben… als ob ich je behauptet hätte, sozial zu sein…
Und weil ich ein gutes Gedächtnis für solcherlei Dinge habe, fällt mir in diesem Moment ein Tag im Oktober ein, an dem ich mich tödlich über die hiesigen Unterrichtsverfahren aufgeregt habe, und um genau zu sein, war es der 15. Oktober. Der „Born to kill?“ Eintrag war das. An dem Tag habe ich noch während des Unterrichts meine Meinung schriftlich festgehalten und wurde deswegen von ihr vorwurfsvoll getadelt:
Pass gefälligst auf und schreib nicht in Dein blödes Tagebuch!
Würde ich nicht gerade im Unterricht sitzen, würde ich angesichts dieser paradoxen Situation laut lachen.
Sic transit gloria mundis!

Am Ende der Stunde erzählt uns Yamazaki-sensei, dass sich nächste Woche der Stundenplan geringfügig ändere. Wegen der vielen ausgefallenen Montage sei eine Umstellung beschlossen worden. Ich glaube, der Unterricht am Donnerstag wird durch einen „Montagsstundenplan“ ersetzt. Genau verstanden habe ich die Angelegenheit nicht, aber es gibt Leute, die ich deswegen befragen kann.

Der Unterricht von Sawada-sensei beschäftigt sich heute mit Kogin-Stickerei. Es handelt sich dabei um eine Kunstform in Tsugaru, die aus dem Verbot (während der Edo-Periode) entstanden ist, dass Bauern keine Kleidung aus Baumwolle, sondern nur aus Leinen tragen durften. Leinen ist nicht dafür bekannt, dass man daraus warme Kleidung machen kann, und wenn man im Süden wohnt, dann mag das nicht allzu schlimm sein, aber hier oben sieht die Sache anders aus. Es gab allerdings kein Gesetz, dass den Bauern die Verwendung von Baumwollfäden verboten hätte. Die Frauen von Tsugaru stickten also Baumwollfäden in die Leinenkleider ihrer Familien, um sie über den Winter zu bringen. Und zwar so viel davon, dass man das Leinen darunter kam noch erkennen, sondern nur noch stellenweise erahnen konnte. Wenn man ein Auge für solche Dinge hat, kann man in den erhaltenen Kleidern (und auch in neuen Handarbeiten aus Heimproduktion) sehr schöne Muster finden.

Die Aufgabe für heute: 5 x 15 cm2 Leinen selbst besticken. Ich soll sticken??? Na wunderbar. Ich brauche ja schon eine ewige Zeit, um den vermaledeiten Faden überhaupt durch das Nadelöhr zu pressen. Und wie soll das jetzt laufen? Ich verstehe die Arbeitsanweisung nicht, weil hier Bewegungsabläufe beschrieben werden, unter denen ich mir nichts vorstellen kann. Dr. „Dragon“ Chen kommt damit auch nicht wirklich klar.
Wenn Du das gut machst, überlege ich mir, ob ich mich von Dir operieren lasse“, sagt Sawada-sensei schmunzelnd.
Einen Blinddarm zu entfernen ist viel leichter als das hier!“ sagt Chen. Und während ich noch an der Vorlage herumrätsele, nach der wir das Muster eingeben sollen, sieht sie sich noch einmal seine Arbeit an und meint: „Ich glaube, ich lasse mich lieber nicht von Dir zunähen…

Natürlich machen hier alle Scherze über die Bemühungen der weniger Begabten. Chen bringt auf Anhieb nichts zustande, ich habe nach einer Stunde endlich die Grundlinie fertig (und es werden Fotos von meinem hochkonzentriert anmutenden Gesicht gemacht), und SangSu stickt ein arg abstraktes Bild von seinem Hund in das Stück Leinen. „Der ist weggelaufen, bevor ich nach Japan gekommen bin,“ sagt er, „und ich hoffe, dass er dadurch wieder zurückkommt.“ Und dann plappert er wieder drauf los, von seinem Hund, und davon, wie man Kitahara-sensei eine besondere Freude machen könnte, indem man „K.K.“ (für Kitahara Kanako) in das Leinen stickt. Er sorgt für allgemeine Belustigung.

Am Ende der Stunde muss ich mein mühsam zusammengepuzzeltes Werk wieder lösen, weil ich mich bei der Reihenfolge der Einstichlöcher verzählt habe. Als Hausaufgabe sollen wir es für die nächste Stunde fertig haben. Ich kann mir wirklich angenehmere Beschäftigungen für meine Mußestunden vorstellen. Und die Vorlagen gehen mir auf den Senkel… warum soll ich hier unbedingt reproduzieren, was andere bereits gemacht haben? Aber nein, wir dürften auch gerne individuelle Muster entwerfen, wenn wir uns kreativ genug fühlten, sagt Sawada-sensei. Na, dann weiß ich natürlich binnen 30 Sekunden, was ich mit meinem Stück Leinen mache… nein, ich werde nichtHentaiman“, „Black Death“, „der Extreme“ oder „42317“ in das Leinen sticken. ?

Habe ich heute Yui vergessen? Ich bin nach dem Unterricht sofort in die Bibliothek gegangen, anstatt erst in der Halle vorbeizusehen. Ich glaube aber zumindest, dass sie nicht angerufen hat, um zu fragen, wo ich bleibe. Und ich glaube das nur, weil ich bei meiner Beschäftigung am Computer für gewöhnlich Kopfhörer trage und Musik höre. Keine Chance für das Telefon.

Als ich am Abend vom Einkaufen zurückkomme, findet sich eine lohnende Tätigkeit fürs Wochenende. Jin Eiko ruft mich an und bittet mich in einem für mich geradezu peinlich langsamem Japanisch, am Samstag auf eine kleine Party des „Hippo Family Clubs“ zu kommen, zusammen mit Melanie. Ich solle um 16:30 am „Dotemachi Square“ sein. Die Uni hat diese Feierlichkeit nicht angekündigt, also gehe ich diesmal von einem wirklich kleinen Rahmen aus, also Gastfamilien und die zugehörigen Studenten.

Am Abend läuft im Fernsehen (wieder) ein Bericht über die Situation in Peking. Alles, was ich verstehe, ist, dass sich eine Handvoll japanischer Austauschstudenten wohl irgendetwas ungebührliches geleistet hat, was die chinesischen Gemüter so sehr erregt, dass 2000 Leute (hauptsächlich Studenten, wie mir scheint) auf die Straße gehen und lauthals demonstrieren. „Apologize! Apologize!“ brüllen sie. Auf Englisch. Damit die internationale Presse das auch versteht. Sie tragen auch Transparente in englischer Sprache, auf denen Parolen wie „Japaner raus!“ zu lesen und japanfeindliche grafische Darstellungen zu sehen sind. So langsam interessiert mich, was da los ist. Haben die Jungs an eine Mao-Statue gepinkelt? Oder eine ausschweifende Orgie gefeiert (wie die japanischen Geschäftsleute in Shanghai, was dieser Tage ebenfalls in der „Japan Times“ zu lesen ist)? Ich werde Sawada-sensei fragen, sobald ich dazu komme.

Die TV-Zeitschrift beinhaltet in dieser Woche einen Extrabericht über den von mir bereits beschriebenen „Tai Ginseng“. Da ist zu lesen, dass die Serie bereits seit 1969 existiert, mittlerweile mit dem fünften Hauptdarsteller, und bis etwa 1993 wurde sie in Schwarzweiß gedreht!? 1000 Episoden gibt es davon inzwischen, und aus diesem Grund soll demnächst ein „Movie Special“ gezeigt werden. Ich frage mich, wie man dieses Konzept 1000 Episoden lang durchhalten kann. So viel Abwechslung kann es doch nicht geben… man müsste ja annähernd ebenso viele verschiedene Berufe auffahren, für die Leute, die gerettet werden sollen. Aus den Fängen gieriger Feudalherren. Gibt es davon eigentlich so viele? Immerhin sehe ich, dass andauernd Samurai gemaßregelt werden, die mindestens aus der „mittleren Führungsebene“ stammen, wie man sagen könnte. Die Position der gezeigten Gegner scheint mir jeweils in die „Top 5“ des jeweiligen Clans zu gehören. Wie viele gab es davon?

Übrigens ist die Ninja-Xena in dem Lack-Leder-Polyester-Dress bereits seit Anfang der Achtziger dabei (mindestens) und ist dieses Jahr 53 Jahre alt geworden. Sie dürfte damit das älteste Mitglied der Wandertruppe, dieser japanischen „Spezialisten unterwegs“ sein, denn der Hauptdarsteller ist deutlich jünger als sie. Sein Alter wird nicht angegeben, aber wenn man ihn ohne Schminke sieht, erkennt man ihn erst einmal nicht wieder und man würde ihn auf Mitte Dreißig schätzen.

10. Dezember 2023

Mittwoch, 10.12.2003 – Alles rennet, rettet, flüchtet

Filed under: Japan,My Life,Uni — 42317 @ 7:00

Während der Nacht hat es nicht geschneit. Kalt ist es trotzdem, es liegt noch überall Schnee herum und die Bürgersteige sind am Morgen noch heftig glatt. Melanie verwendet bei dieser Gelegenheit die Spikes, die sie von Marc bekommen hat, aber ihre Schuhe sind dafür überhaupt nicht geeignet, weil sie an der Sohle die dafür notwendige Vertiefung zwischen Fußballen und Ferse nicht haben. Die Spikes stehen also weit nach unten heraus und drücken ihre Oberseite durch die weichen Sohlen der Turnschuhe unangenehm in den Fuß hinein. Ohne geht es sich bequemer. Ich selbst spüre bislang noch keine ernsthaften Probleme wegen der Straßenglätte.

In der ersten Stunde erfahre ich, dass meine Bemühungen um die Kanji gestern Abend (kurzfristig betrachtet) vergebens waren – der Test wird erst am Freitag geschrieben. Ich unterhalte mich nach Ende des Unterrichts ein wenig mit dem Chinesen, der erst neulich zu uns gekommen ist. Er studiert Medizin, mit Schwerpunkt auf Radiologie. Er macht in Hirosaki seinen Doktor und wird vier Jahre bleiben. Und er erzählt mir, dass Jackie Chan eigentlich „Chen Long“ heiße. Ja, ganz ähnlich wie der „DragonBall“ Drache. „Long“ schreibe man wie „Drache“. Einige Schauspieler hätten dies an ihre Namen angehängt, weil der Drache das Nationaltier Chinas sei, so auch Bruce Lee, dessen eigentlicher Name „Li Shou Long“ sei.

Dann gehe ich in meine Literaturklasse. Aber ich finde den Raum Nr. 409 um 10:20 leer vor. Habe ich eine Absage oder Verlegung vergessen? Als ich wieder gehen will, kommen mir die beiden japanischen Teilnehmer und Professor Vesterhoven entgegen. Die haben sich verspätet. Ich frage den Professor, ob heute vielleicht eine Verlegung stattfinde oder ähnliches. Nein, sagt er. Ganz normaler Unterricht. Sei zumindest geplant. Aber es ist niemand da bis jetzt. Nach weiteren fünf Minuten kommt auch noch David, der immer zu spät kommt, aus welchem Grund auch immer. Aber das war dann auch schon alles.

Prof. Vesterhoven 2003

Ich hätte jetzt nicht gedacht, dass Mishima so unbeliebt ist!“, sagt Vesterhoven. „Oder haben die alle eine Erkältung?“ Ansonsten möchte er wissen, was wir von der Geschichte gehalten haben. „Ich finde die Darstellung der Art von idealer Beziehung in der Geschichte schlichtweg bescheiden“, sage ich dazu. „Ich habe die Geschichte gehasst!“ sagt der Japaner. „Ich fand sie furchtbar grausam!“ sagt die Japanerin. „Ich halte sie für interessant…“ sagt David. (Allerdings sagt er das in den allermeisten Fällen.) Vesterhoven beschließt, mit allseitigem Einverständnis der Anwesenden, die Besprechung von „Yûkoku“ auf nächste Woche zu verschieben.

Im Center lese und drucke ich meine Post, rede dabei kurz mit Marc und speichere dann auch endlich die Bilder, die Chen mir geschickt hat: Ein Foto, das ihn im OP mit seinem Professor zeigt und ein weiteres, eine Aufnahme der Entfernung eines Hautkrebstumors. Sehr interessant. Hoffentlich hat er noch mehr davon. Mein elektronisches Postfach ist jetzt endlich wieder leer.

Alles muss raus

Am Mittag wollte ich eigentlich in der Halle bleiben, aber es ist zu kühl und ich finde den Schalter für die Heizung nicht. Offenbar ist sie abgeschaltet oder hat einen Defekt. Ich leiste Mei und BiRei also nur beim Essen Gesellschaft. Danach gehen die beiden zum Unterricht und ich begleite sie bis zur Treppe zum Center.

Und sie gehen dabei etwa halb so „schnell“, wie ich das dann tue, wenn ich viel, viel Zeit habe.

Was ist los? Schlaft ihr beim gehen?
Nein – aber manchmal gehen wir während des Schlafens…“ sagt BiRei und lacht.
Mensch, seid Ihr langsam… das muss an Euren kurzen Beinen liegen!
BiRei lacht sich schief. Mei droht mir amüsiert mit dem Finger. „Wie bitte?? Kurze Beine!? Wie unhöflich!“
Und ich dachte, dünne Bleistifte wie Ihr würden schneller durch den Wind kommen…
Bleistifte??? Du sagst andauernd so schreckliche Sachen!“ Aber kein Beobachter würde dabei auf die Idee kommen, ihren Protest ernst zu nehmen. Dafür lacht sie selbst zu viel. Ich verabschiede mich schließlich von den beiden und kehre erst um 14:22 in die Halle zurück, um Mei wegen ihrer Englischbemühungen zu treffen. Ich bin also (zwei Minuten!) zu spät und ich höre auf dem Weg zur Halle schon mein Telefon klingeln, aber wir begegnen uns, als ich die Treppe runterkomme.

Wir gehen ein weiteres Kapitel aus ihrem Lehrbuch „Questions and Answers“ durch und ich erläutere aus gegebenem Anlass, dass Kaugummikauen während einer Konversation (zumindest für Deutsche; ich weiß in dieser Beziehung ja nichts über China…) unhöflich sei, und dass auffälliges Kaugummikauen (also mit Blasenbildung und Schmatzgeräusch) geradezu als barbarisch eingestuft werde. Sie lässt daraufhin das Kaugummikauen zwar nicht sein, aber immerhin lässt sie mich weniger davon merken. Was ich bemerke, ist aber, dass ihre Aussprache besser wird. Offenbar erreiche ich tatsächlich was.

Den restlichen Tag lang gibt es nichts Interessantes mehr, und es gibt auch keinerlei Neuschnee.

9. Dezember 2023

Dienstag, 09.12.2003 – Tag der Arbeit

Filed under: Japan,My Life,Uni — 42317 @ 7:00

Über Nacht hat es noch mehr geschneit, und kaum sind wir um 08:20 die Tür draußen, schneit es auch sofort weiter, in den folgenden Stunden mal mehr und mal weniger heftig.

In der ersten Unterrichtseinheit schreiben wir die Zwischenklausur bei Yamazaki-sensei. Die Themen der Klausur sind Hörverständnis, Kanji und Grammatik. Letzteres wird durch Satzbildung abgefragt – Lückentexte. Aber diesmal war ich darauf gefasst. Und da über den Sätzen z.B. zu lesen war „Bilden Sie einen te-oku Satz“, war das Ganze eher eine Suche nach einem passenden Verb, als echte Prüfung im Bereich Grammatik. Zumindest hoffe ich, dass ich die Angelegenheit nicht falsch verstanden habe.

In der Pause danach bereite ich noch etwas „Buddhismus“ nach wie vor. Also eigentlich beides. Direkt danach wird die Klausur geschrieben. Und diese Klausur hat schon eine ganz tolle erste Frage:
Welche Doktrinen des Theravada Buddhismus sind wohl die wichtigsten? Begründen Sie Ihre Meinung.
Ich wusste noch nicht einmal, dass es mehrere Doktrinen gibt. Ich dachte, die „Doktrin“ sei eine einzige – die Überlieferungen der Lehren Buddhas. Die Antwort, die ich schreibe, ist entsprechend… „unwissenschaftlich“ und wird mich vermutlich 40 % der Punkte kosten. Ich fasse nur in drei Sätzen zusammen, was mir dazu einfällt. Der Rest der Klausur besteht aus 30 Stichworten, von denen wir 15 definieren sollen. Wegen der Kürze der ersten Aufgabe aber habe ich eine Menge Zeit und schreibe munter drauflos, was mir einfällt. Ich verfasse 22 Antworten und hoffe, dass mir das ein paar Bonuspunkte beschert.

Und es schneit und schneit und schneit. Zehn Zentimeter sind heute Morgen allein gefallen. Die Straßen sind glatt, die Bürgersteige sind es ebenfalls, aber es ist an der Zeit, Melanies Geschenk zu kaufen, also gehe ich zum Animedia Laden. Danach gehe ich zurück in die Bibliothek und schreibe Post. Um 19:20 kehre ich nach Nakano zurück.

Im BenyMart sind Sushi wieder mal um 50 % ermäßigt, also kaufe ich drei Pakete. Zuhause stelle ich fest, dass Melanie die gleiche Idee hatte… also können wir uns heute Abend wieder mit Sushi vollstopfen. Und das Beste daran ist der phänomenal niedrige Kaloriensatz – hier kann man essen bis zum Umfallen ohne zuzunehmen! Das Röstfleisch, dass sie ebenfalls gekauft hat, hebe ich dann für morgen früh auf. Macht sich als Frühstuck ja nicht schlecht.

Ich fühle mich nicht mehr sonderlich wach, aber ich muss noch ein paar Vokabeln in mein Gehirn stanzen und ich sollte für morgen auch noch einmal „Yûkoku“ von Mishima Yukio lesen. Man kann die Geschichte so schön auseinanderdiskutieren. Eine Berichtigung an dieser Stelle: Der Titel wurde oft übersetzt mit Begriffen wie „Patriotismus“, obwohl das den Kern der Sache nicht ganz trifft. Wenn ich die Vokabel recht verstehe, geht es dabei weniger um „Liebe zum Vaterland“ als um „Sorge um das Vaterland“.

8. Dezember 2023

Montag, 08.12.2003 – Der Nikolaus findet seinen Weg nach Japan

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 7:00

Der Morgen ist wolkig und kalt, aber das Eis auf den Straßen hat sich wieder gelöst. Ab Mittag beginnt es wieder zu schneien, aber nicht sehr stark. Der Wetterbericht gestern Abend sprach von einem bis neun Zentimeter Neuschnee heute. Wenn das so weiter schneit, dann wird es bei einem bis zwei Zentimetern bleiben…

Ich mache die Runde und frage alle bekannten Gesichter, die mir über den Weg laufen, ob sie Interesse an einem Tabehôdai am Freitag hätten. David sagt zu, ebenso Misi und Alexej. (Meine) Melanie will eigentlich Geld sparen, Alex fährt nach Hause, ebenso Valérie. Die fallen also ganz aus. Ramona will sich das Ganze noch überlegen (was „Nein“ heißen dürfte), und Irena hat am Freitag Chorprobe. Mathieu bekundet „prinzipiell“ Interesse, aber ich bin jetzt nicht ganz sicher, was ich davon zu halten habe. Ich werde ihn noch einmal fragen, sobald ich ihn sehe. Er hat Yannick gefragt, aber der hatte kein Interesse. Mein Interesse an Yannick nähert sich damit wieder dem Nullpunkt, weil er selten an der Uni und generell nicht sehr gesprächig ist. Man soll mir nicht nachsagen, dass ich es nicht versucht hätte. Dave habe ich am Morgen ebenfalls gesehen, aber natürlich vergessen, ihn zu fragen.

Nach Tagen des Wartens komme ich auch endlich wieder an den Rechner, den ich für meine Bilder verwende. Also mache ich meine Kamera wieder leer und nutze die Gelegenheit, Karls Mailbox mit meinen Bildern zuzustopfen, damit er sie auf meine Festplatte überträgt. Kurz darauf beschwert er sich, weil ich die neuen Bilder gerade dann schicke, nachdem er meine Festplatte wieder von seinem Computer abgeklemmt hatte… Tut mir ja leid, aber ich kann mir leider nicht aussuchen, wann ich Gelegenheit dazu habe.

Am Abend schneit es wieder verstärkt, und am Ende kommen etwa 5 cm Neuschnee zusammen.

Melanie erwartet heute ein Paket. Das heißt, wir nehmen an, dass es ein Paket ist. Wahrscheinlich von ihrer Mutter, der sie vor einiger Zeit ihr Leid darüber geklagt hat, dass es in Japan an dem Krempel mangelt, den man zum Nikolausfest am 06.12. in Deutschland normalerweise verschenkt oder bekommt. Ihre Mutter hat daraufhin ein Paket geschnürt und ihrer Tochter was geschickt. Wegen des zu erwartenden Inhaltes nenne ich es jetzt einfach „das Fresspaket“. Der Postbote hat auf dem Benachrichtigungszettel allerdings nicht „Paket“ angekreuzt, auch nicht „Päckchen“ oder „Brief“, sondern „Sonstiges“. Also sind wir nicht zu 100 % sicher, was da kommen wird. Es war am Freitag bereits hier, aber wegen unserer Abwesenheit musste Melanie mit der Post einen günstigeren Termin ausmachen. Ich sagte ihr, sie solle Mittwoch angeben, das sei sicher. Aber sie wollte lieber schon am Montag ihr Fresspaket haben. Die ausgemachte Zeit verstreicht, und der Postbote ist noch nicht da. Um das Klopfen oder Klingeln auf jeden Fall zu hören, hat Melanie sogar die Schiebetür zur Küche aufgemacht (und leistet sich so den Luxus, zwei Räume zu heizen), obwohl man die Klingel nicht überhören kann… und weil der Postbote nicht wie gewünscht kommt, lässt sich eine deutliche Verschlechterung ihrer Laune feststellen. Darüber muss ich verständnislos den Kopf schütteln. Wie nötig kann man denn so was haben?

War „Montag“ eine zu eilige Angabe? Immerhin liegt das Wochenende dazwischen, und wer weiß, ob die japanische Post das in diesem Zeitraum hinbekommt, auf ihren Terminwunsch zu reagieren? Auf jeden Fall scheint das Fresspaket dringend benötigt zu werden, da Melanie einen so enttäuschten Eindruck macht, dass man sich nicht mehr normal mit ihr unterhalten kann. Aber ich gebe zu, dass ich ihr gegenüber auch keinen Hehl daraus mache, dass ich ihre Reaktion für schlichtweg unvernünftig halte.

Aber der Postbote kommt schließlich doch noch. Melanies Laune verkehrt sich in das komplette Gegenteil. Sie macht ein Foto von dem geöffneten Paket. Sie macht ein Foto von dem geöffneten Paket? Ja, sie macht ein Foto von dem geöffneten Paket. Und es ist, was ich mir dachte. Ein Korb voll mit Erd- und Walnüssen, zwei Nikoläuse und zwei Tafeln Lindt-Schokolade, dazu etwas Tisch- und Wandverzierung. Als nächstes räumt sie die Oberfläche des Schuhschrankes komplett leer. Das Waschmittel landet vor der Waschmaschine, die Obstschale und die Waage müssen ebenfalls auf „Notunterkünfte“ ausweichen. Aha. An dieser Stelle proklamiert sie „Melanies Weihnachtsecke“.

Die Weihnachtsecke

Warum auch nicht, wenn sie sich darüber freut… so lange sie akzeptiert, dass mir die Angelegenheit völlig gleichgültig ist. Das versteht sie aber nicht. Weihnachten hat für sie eine sehr glückselige Bedeutung. Bei mir ist Weihnachten (betrachtet man die „optische“ Gestaltung) in den letzten zehn Jahren immer trister geworden und ich habe mehr und mehr das Interesse an dem ganzen Drumherum verloren. Schön ist, dass Ferien sind und dass man eine Gelegenheit hat, Familienmitglieder zu besuchen. Solche Gelegenheiten gibt es zwar das ganze Jahr über, aber ich bin in dieser Hinsicht etwas bequem. Sehr zum Leidwesen meiner Eltern, die bestimmt der Meinung sind, ich hätte was gegen sie, weil ich sie nur drei- oder viermal im Jahr besuche, trotz eher unbedeutender Wohnortunterschiede.

Ich nehme nicht an, dass Melanies Geschenk so schnell schlecht wird… die Küche wird für gewöhnlich nicht geheizt und es ist normalerweise um die zehn bis 12 Grad kühl in diesen Tagen.

Aber ein bisschen übertrieben fand ich die Idee, das Paket (knapp 2 kg) per Luftpost zu schicken – Portokosten: 30 E. Ein heftiger Preis, bedenkt man, dass Melanies Mutter sich nicht in der besten finanziellen Lage befindet. Hoffentlich kommt meine Mutter nicht auf eine solche Idee. Es gibt offenbar Dinge auf der Welt, die man nicht mit einer Währung bewerten kann. Herzlichen Glückwunsch.

7. Dezember 2023

Sonntag, 07.12.2003 – Sang- und klanglos ging der Tag vorüber…

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 7:00

Als ich um 09:00 aufstehe, sieht es draußen noch recht trostlos aus. Grau verhangener Himmel. Aber um etwa halb zehn beginnt es zu schneien. Binnen 30 Minuten ist alles weiß. Der Schnee ist nicht hoch, aber die Schneedecke ist geschlossen. Dann muss ich halt zu Fuß in die Bibliothek gehen. Ich bin nicht todesmutig genug, um bei Schnee ein Fahrrad zu benutzen, auch wenn es ein Mountainbike mit gutem Profil ist.

Ich treffe Misi und teile ihm meine Pläne mit, am folgenden Freitag ein Tabehôdai im „Momo“ (dem Fressladen über dem „Maruesu“) anzusetzen. Ja, er wolle das auch machen. Er habe es am Samstag getestet und sei begeistert gewesen. Na denn… ich werde morgen beginnen, noch weitere Leute zu fragen. Dann schreibe ich die Mail zum 31.10.2003, und danach noch zwei weitere. Und dann gewinne ich endlich eine Partie Go gegen den Rechner. Mit einer Strategie, auf die kein Mensch hereinfallen würde… also ist das angewandte „Wissen“ praktisch nutzlos…

Am Abend ist alles noch immer weiß verschneit. Aber darüber hinaus ist der Schnee auf den Straßen festgefahren und überfroren. Es ist spiegelglatt und der Gang zum Supermarkt ist ein kleines Abenteuer. Ich komme (noch?) ganz gut ohne „Schneeketten“ an den Schuhen aus. Den ganzen Fuß auf einmal aufsetzen, kleine Schritte machen, Neigungen vermeiden.
Trotz der Glätte höre ich am Abend keine Sirenen von Krankenwagen oder Feuerwehr. Es ist fast ein kleines Wunder. Vielleicht fahren die Leute doch vorsichtiger, als ich das vermutet habe.
Der Winter zähmt Mensch und Tier“ sagt Shakespeare.

6. Dezember 2023

Samstag, 06.12.2003 – Mein Freund, der Baum, ist tot…

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 7:00

Wie versprochen regnet es heute den ganzen Tag. Schwach, aber beständig.

Die SailorMoon Serie zieht sich dahin… ich will noch nicht sagen „wie Kaugummi“, weil ich die Angelegenheit noch nicht so negativ betrachte, als dass dieser Begriff vonnöten wäre. SailorVenus kommt immer noch nicht dazu – stattdessen streitet sich Usagi mit ihrer Mutter und zieht einstweilen aus. Sie klappert ihre Freundinnen ab, um irgendwo bleiben zu können, aber keine hat Zeit oder Gelegenheit, das in die Tat umzusetzen. Schließlich landet sie bei Rei im Hikawa Schrein. Derweil ruft Zoisyte einen Yôma, der wohl alle Prinzessinnen in der Gegend von Tokyo töten soll, indem er… singt!? In Folge seines (ihres?) Gesangs landet eine blonde Europäerin im Krankenhaus, die aus ihrer Limousine aussteigen und vor den Augen der Fotografen zusammenbrechen darf (das sind etwa 80 % ihrer Rolle). Des weiteren brennen die Porträts von Prinzessin Kaguya, die Rei gemalt hat, aus dem Papier heraus.

Der Kampf mit dem Yôma ist heute wieder eine hübsche Vorstellung im Synchronturnen (Hüpfen und Springen), und ich frage mich, ob der Regisseur nicht vielleicht doch ein wenig zu viel „Evangelion“ gesehen hat… auch wenn das Synchronturnen hier nicht notwendig ist, um den Yôma niederzumachen. Der Tanz bleibt fruchtlos, denn alle Senshi werden bewusstlos gesungen! SailorMoon packt dafür den Mondstab aus und plättet nicht nur den Yôma und lässt die Frau aus Europa wieder aufwachen (die verbliebenen 20 % ihrer Rolle), sondern repliziert auch noch die ausgebrannten Stellen der Bilder (damit der Kindergarten zu seinem Spaß kommt, da die Bilder die Sage „Taketori Monogatari“ nacherzählen). Man kommt sich vor wie auf dem Holodeck der Enterprise.

Danach verschwindet Melanie. Sie nimmt heute an einer Exkursion in die Tsugaru Ebene teil und wird erst am Abend wieder zurückkommen. Ich dagegen lege mich wieder aufs Ohr und schlafe bis etwa um 1100. Dann wasche ich die Wäsche und bringe ein wenig Ordnung in die Bude. Aber nur ein wenig. Um etwa 1500 fahre ich in die Bibliothek, um zumindest noch einen Bericht schreiben zu können.
Dort angekommen, muss ich feststellen, dass das Bild des Campus sich heute stark und nachhaltig verändert hat. Im Laufe des bisherigen Tages wurden alle großen Tannen abgesägt. Zwei große Autokrane und ein Dutzend Arbeiter mit zwei LKWs und einem Bagger sind angerückt und lassen heute nur noch die Baumstümpfe zurück. Ich gehe davon aus, dass die in den nächsten Tagen fällig sind.

Abgesägt

Die Zeit, die ich in der Bibliothek übrig habe, reicht exakt aus, um einen Bericht zu schreiben. Ich hoffe, morgen zwei oder drei schreiben zu können – und den Bericht zum 31.10. sollte ich endlich schreiben…

5. Dezember 2023

Freitag, 05.12.2003 – Ein eitles Lehrbuch träumte, wie eine Speisekarte studiert zu werden…

Filed under: Japan,My Life,Uni — 42317 @ 7:00

Am Morgen scheint die Sonne und ein Blick aus dem Fenster sagt mir, dass sich der gefallene Schnee nicht lange wird halten können. Die Straßen und Bürgersteige sind wieder vollkommen eisfrei, nur auf Dächern, Bäumen und Grünflächen hält sich der Schnee noch hartnäckig. Morgen soll es mal wieder regnen und für Sonntag ist Frost gemeldet.

Im BenyMart ist die Aktion, nach dem Einkauf 1 bis 5 Punkte auf die Kundenkarte geschenkt zu bekommen, offenbar ausgelaufen. Jetzt kann man mit jeder Karte einmal versuchen, 10 bis 50 Punkte zu erspielen, aber nur an bestimmten Tagen und vorausgesetzt, man kauft für 2000 Yen oder mehr ein. Das dürfte mich also kaum betreffen, da ich meist zwischen 500 und 1200 Yen liege. Bis der nächste Sack Reis fällig wird, vergehen noch ein paar Tage.

Um 10:00 gehe ich aus dem Haus und nehme unseren Müll mit. Und ich erwähne das extra, weil es sich um vier große Tüten handelt – zwei Säcke mit PET-Flaschen, einmal Papier und einmal Plastik. Hoffentlich bin ich noch nicht zu spät dran, an der Sammelstelle liegt nämlich sonst nichts herum. (Anmerkung: Es sollte sich allerdings herausstellen, dass ich zu früh dran war, da die entsprechenden Müllkategorien erst am folgenden Tag abgeholt werden würden.)

Um 11:00 will ich Yui treffen, und sie kommt zehn Minuten zu spät. Sie entschuldigt sich dafür, aber es ist ja kein Beinbruch. Ich habe genügend Möglichkeiten, mich selbst zu beschäftigen… mir wird so schnell nicht langweilig. Wir gehen die Lektionen 9 bis 13 durch, aber es ist zu merken, dass wir alle beide nicht so recht wach sind. Und wenn ich weiter hier rumsitze, schlafe ich am Ende noch ein…

Yui 2003

Nachdem wir fertig sind, gehe ich ins Center und sehe nach meiner Post. Und dann ist wieder Unterricht angesagt. Ogasawara-sensei versucht heute, uns die Konnotationsunterschiede bestimmter Satzendungen näher zu bringen, aber ich verstehe die Hälfte davon nicht sofort. Ich muss erst ein wenig über diese Dinge wie „yo“, „ne“, „naa“, „ka naa“ und „yo ne“ nachdenken, bevor ich was damit anzufangen weiß. Ich befinde mich ja in der glücklichen Lage, direkt an der Quelle zu sitzen.

Ich komme nicht drum herum, mir die Trierer Situation vor Augen zu führen. 40 neue Studenten in der Japanologie, wie ich gehört habe… und wie viele Japaner sind für Tandem verfügbar? Wenn sich die Angelegenheit in einem „normalen“ Rahmen bewegt, möchte ich schätzen, dass vielleicht zehn Japaner anwesend und bereit sind. Frau Eismann als Tandem-Koordinatorin fällt aus beruflichen Gründen aus, und zu den 40 Erstsemestern kommen bestimmt noch einmal doppelt so viele Leute aus dem zweiten, dritten und vierten Semester dazu, die nicht weniger Bedarf an Kommunikationsübung haben. Am besten verdränge ich das, bis ich wieder zu Hause bin. Dort wird es genug Gelegenheit geben, mich von der herrschenden Situation erschlagen zu lassen.

Um 16:00 bin ich wieder in der Halle und gehe mein Textbuch noch ein bisschen durch, aber ich bleibe nur bis 16:45, weil mir die Formen „te-aru“ und „te-oku“ ja inzwischen klar sind. Hoffe ich zumindest. Ich will nicht noch eine Arbeit unter 60 % schreiben. Mein persönliches Ziel liegt schon bei nur zwei Dritteln, das wird wohl irgendwie zu machen sein!?

Um 18:55 bin ich wieder in der Bibliothek, um endlich die Post über den 22.11. fertig zu schreiben. Endlich, ja. Die Vorbereitungen für die Klausuren machen sich in meinem Schreibrhythmus deutlich bemerkbar. Aber der Computer, den ich aussuche, hat einen Schaden am Soundsystem… die Musik kommt nicht aus den Kopfhörern, sondern aus den Lautsprechern an den Seiten des Gerätes, und das stört natürlich mein Umfeld. Na wunderbar, dann fällt die Musik heute also flach. Ich merke mir das Gerät und vermeide es in Zukunft.

Endlich komme ich auch dazu, die letzte Mail von Kai zu öffnen: Er hat seine Meisterprüfung bestanden. Das freut mich natürlich sehr, und ich überlege, ob ich ihm nicht etwas passendes dazu schicken könnte, aber mir fällt nichts ein. Vielleicht stolpere ich noch über etwas. Schade, dass er die Prüfung nicht schon ein Jahr vorher abgelegt hat… ich habe mir bereits überlegt, ob ich nicht zusammen mit Oliver an den Prüfungsort fahren sollte, um „Infernal Meisterprüfung!“ (von der Spaßmetalband „Urinstein“) laufen zu lassen… aber ich will die Feierlichkeiten zu diesem Ereignis auch noch nachholen, und da wird sich bestimmt eine Gelegenheit finden, Kais Gehörgang mit der „Infernal Meisterprüfung!“ durchzufönen. 🙂

Und wenn ich schon dabei bin, sollte ich mal zusehen, dass ich das für Melanie vorgesehene Weihnachtsgeschenk auch kaufe, bevor es ein anderer tut. Morgen wäre ein passender Termin, denke ich. Der Schnee ist ja weitgehend weggeschmolzen, also kann ich wohl auch mit dem Rad hinfahren. Das würde deutlich Zeit sparen. Es kann ja wohl nicht den ganzen Tag regnen…

4. Dezember 2023

Donnerstag, 04.12.2003 – Ohne den Winter wären die Tage länger und die Unterhosen kürzer

Filed under: Japan,My Life,Spiele — 42317 @ 7:00

Auch heute Mittag warte ich vergeblich auf Yui. Ist sie krank? Wenn sie keine Zeit hat, ruft sie doch gewöhnlich an. Ich verabschiede mich also vorläufig davon, dass unsere Treffen Mittwochs und Donnerstags dauerhaft regelmäßig geplant waren. Ich muss aber endlich meine Krankenversicherung zahlen, und Melanie sagt, das ginge mit dem Automaten. Für die Bedienung einer Maschine möchte ich Yui aber lieber dabei haben. Um 1215 verlasse ich die Halle wieder. Bis 1240 sehe ich dann meine Post durch und stelle fest, dass der Drucker im Center nach Tagen endlich wieder Tinte hat. Das muss ich direkt ausnutzen, und ich freue mich, dass der Rechner, an dem ich sitze, den Druckauftrag auch weiterleitet. Leider stelle ich dabei fest, dass ich Kais Mail versehentlich gelöscht habe, in der er mit den hehren Worten eines wahren Meisters erklärt hat, warum eine Kette an den Schweißstellen nicht so leicht rostet. Eigentlich wollte ich sie fürs Archiv mit ausdrucken…

Kitahara-sensei erläutert uns heute die Geschichte der Frauen der Gegend, die heute Aomori-ken ist. Es ist ganz interessant, wie sich die Neuzeit (also ab 1868) für die Frauen gestaltet hat. Die Gattin des ersten amerikanischen Lehrers in Hirosaki zum Beispiel bedauerte die armen Mädchen, die im Alter von 13 oder 14 Jahren bereits verheiratet wurden, und Heiraten war zu dieser Zeit wenig anderes als eine Umverteilung von Arbeitskräften. Und weil die Mädchen dringend benötigte Arbeitskräfte waren, waren sie vom existierenden Bildungsangebot weitgehend ausgeschlossen. Die Mädchen (und auch die Jungs), die eine Schulbildung erhielten, kamen aus besser gestellten Familien, die nicht unbedingt auf aller Hände Arbeit angewiesen waren. Mrs. Ing hatte offenbar auch Schwierigkeiten, zu beschreiben, was „Kalligrafie“ im japanischen Sinne ist. Das kann doch nicht so schwer sein – „man nimmt einen großen Pinsel und einen großen Bogen Papier und malt schwungvoll japanische Schriftzeichen darauf.“ Das war ein Satz. Ja, das sei schon richtig, sagt Kitahara-sensei, aber Mrs. Ing ging mit ihren Schilderungen (die sie an eine Zeitung in ihrer Heimatstadt schickte) auch weit mehr ins Detail, beschrieb die benötigten Requisiten und alles andere darum herum.

Während des Unterrichts setzt starker Schneefall ein. Gestern Abend hat es auch schon geschneit, aber der Schnee war sehr nass. „Es schneite Regen“, könnte man sagen. Der heutige Schnee dagegen ist von einer ganz hervorragenden Qualität, soweit ich das nur vom Anfassen und Formen her beurteilen kann. Allerdings soll es am Samstag gleich wieder regnen, sagt der Wetterbericht. Erst der Sonntag soll wieder richtig kalt werden. Warten wir’s ab. Aber heute schneit es erst einmal, mal mehr und mal weniger heftig. Aber die meiste Zeit stark.

Nach dem Unterricht erfahre ich von Melanie, dass Yui im Center auf mich warte. Das ist doch was. Vielleicht erhalte ich dann doch noch eine sinnvolle Beschäftigung fuhr den Nachmittag. Yui begleitet mich zur Bank und erweist sich (natürlich unverschuldet) wieder einmal als überflüssig. Ja, ja, von wegen Automat… wer hat das Gerücht bloß in die Welt gesetzt? Die Dame am Schalter nimmt den richtigen Zettel aus dem meinem Überweisungsblock heraus, bittet um die Zahlung von 2500 Yen, überreicht mir eine Quittung und die Sache ist erledigt. Tut mir leid, Yui…

100 Meter von der Bank weg, wieder in Richtung Universität, sehen wir einen Mann, der keine Kälte zu kennen scheint. Der gemeinte Herr ist etwa 170 cm groß, schlank, um die 40 Jahre alt und arbeitet kniend an seiner Garageneinfahrt herum. Durch das Knien ist seine Trainingshose so verrutscht, dass die Hälfte seines Hinterns zu sehen ist. „Kowai…“ sagt Yui dazu. Er steht kurz auf, zieht die Hose zurecht und kniet sich wieder hin – mit dem Ergebnis, dass all seine Mühe umsonst war. Er sieht noch immer aus, als wolle er ein Ei auf die Straße legen. Es juckt mich direkt in den Fingern, eine Portion Schnee von der Mauer zu nehmen und sie ihm in die Öffnung zu werfen. Aber ich lasse es lieber.

Yui schlägt vor, zum Lernen in das Restaurant über der Mensa zu gehen. Ja, warum auch nicht. Auf der Speisekarte finde ich ein paar (wenige) Sorten Spaghetti, als erstes „Napolitan“, also „Napoli“, mit Tomatensoße. Das will ich dann doch mal probieren. Andere Leute probieren McDonald’s in verschiedenen Nationen und ich eben Spaghetti mit Tomatensoße. Schließlich bin ich vor langer Zeit der „Pastasciutta-König“ gewesen. Ich glaube, das ist inzwischen 20 Jahre her. Die „Probierportion“ (also „klein“) kostet 390 Yen…

Und gerade eben geht mir der zweite Kugelschreiber aus, den ich hier gefunden habe. Ich schreibe offenbar unerhört viel. Ich muss mich in den Hörsälen dringend nach einem neuen Kugelschreiber umsehen – gewöhnlicherweise werden ja genug davon vergessen. Für den Moment muss ich auf meinen „ureigenen“ umsteigen.

… wo war ich? Ja, also 390 Yen für eine kleine Portion Spaghetti mit Tomatensoße, aber für nur 100 Yen mehr kann man noch „Nomihôdai“ („All you can drink“) dazu bekommen. Natürlich nur Softdrinks, aber so viel, wie man will, bis zum Ladenschluss um 1700. Die Auswahl an Getränken besteht aus Apfelsaft, Orangensaft, Eiskaffee, Oolong Tee, schwarzem Tee und Kaffee. Selbstbedienung. Nachdem ich von jedem was probiert habe, bleibe ich bei einer Mischung aus Apfelsaft und Orangensaft (1:2).

Die Spaghetti sind sehr interessant. In der Soße befinden sich kleine Fleischstreifen, Paprikastückchen, sichtbare Zwiebelstücke (so groß wie die Fläche meines Daumens) und ein einsamer Champignon. Ich würde sagen „Das ist kein Jim Beam!“ (und meine damit „Das ist keine Napoli-Soße!“). Ich habe schon viele Spaghetti mit Tomatensoße gegessen, nicht nur aus der Tüte, sondern auch echte – aber diese Zutatenzusammenstellung habe ich noch nirgendwo gesehen, auch nicht in Italien. Nu ja, aber es schmeckt. Der Geschmack ist gut, wenn auch vielleicht ein bisschen stark – ich fürchte, denen ist die Dose mit dem Fondor (Geschmacksverstärker auf Basis von Mononatriumglutamat) in den Topf gefallen.

Auf dem Tisch steht ein Parmesanspender. Aber nicht irgendein neutraler oder einer aus Japan. Nein, der Parmesan hier ist von Kraft. Also eigentlich teuer. Und es ist echter Parmesan, und kein „Parmesello“, wie man ihn in Deutschland für den Hausgebrauch kauft, wenn der Geldbeutel eher schmal ist. Parmesello ist kein Parmesan – echter Parmesan hat seinen Preis, und der ist normalerweise nicht von schlechten Eltern. Parmesello ist nur ein günstiges Plagiat, das mit dem ähnlichen Namen Werbung macht. Oh, Tabasco gibt es auch. Besser Tabasco als gar nichts scharfes.

Nach dem Essen gehen wir neun der 16 für die Klausur am Dienstag notwendigen Lektionen durch, und die Unterscheidung von „te-iku“ und „te-kuru“ macht mir immer noch gewisse Probleme, vor allem, wenn der zu bildende Satz keine physische Bewegung beinhaltet. Aber wie es der Zufall will, kommt um 1630 Kashima-sensei in das Restaurant, um einen Kaffee zu trinken. Genau den brauche ich jetzt. Ein professioneller Japanischlehrer, der überdies auch noch Englisch kann. Yuis Englisch ist leider zu rudimentär, um grammatikalische Zusammenhänge zu erklären. Aber zusammen mit dem, was Yui bereits erklärt hat, kann ich mir so langsam ein Bild davon machen, was es mit den fraglichen Konstruktionen auf sich hat.
Und wenn Kashima-sensei schon einmal am Tisch sitzt, kann er mir grade noch „te-oku“ und „te-aru“ erklären, zur Sicherheit. So weit ich ihn verstehe, bezieht sich die Verbkonstruktion „te-aru“ auf Dinge, die in der Vergangenheit bereits vorsorglich getan wurden, während man „te-oku“ verwenden sollte, wenn die Vorbereitungen im Gange sind oder überhaupt erst noch in der Zukunft begonnen werden sollen.

Um 1700 schließt das Lokal, und nachdem Kashima-sensei sich verabschiedet hat, gehe ich mit Yui in die Mensa, um noch ein paar Aufgaben durchzugehen. In der Mensa treffen wir (Saitô) Mio, die kleinere der beiden Mios. Aber viel ist in der Mensa nicht mehr zu machen, weil es da zu laut ist. Ich kann mich ja kaum auf das konzentrieren, was ich fragen oder sagen will. Aber ich schieße ein hübsches Bild von den beiden.

Yui und Mio 2003

Um 1815 komme ich an einen Rechner, schreibe meinen Bericht und spiele ein bisschen Go. Ich habe die CD mit dem Spiel darauf Ende Oktober im 100 Yen Laden gekauft und ich bin eigentlich sehr glücklich damit. Ich habe versucht, „Go“ aus dem Netz runterzuladen, aber ich fand große Bretter nur als kostenpflichtige Version, musste also mit einem kleinen 9×9 Brett vorlieb nehmen. Jetzt habe ich also 75 Cent investiert und habe eine „große“ Version, die man auch zu zweit (am selben Rechner zumindest) spielen kann, und man muss das Spiel nicht installieren (was ich ja am Unirechner eh nicht kann). Ich spiele direkt von der CD. Und ich verliere – mal wieder – haushoch gegen meinen elektronischen Gegner. Leider mangelt es mir ein wenig an Fähigkeit zur Fehleranalyse, also muss ich mir schon vorher ein generelles Vorgehen zurechtlegen. Ich merke, dass ich verloren habe, wenn ich dazu übergehen muss, auf den Gegner zu reagieren. Aber das ist auch grade alles, was ich merke, und ich verliere auch weiterhin… aber wenn ich hin und wieder spiele, wird das bestimmt noch. SangSu sagt, dass er auch Go mal gelernt habe, aber er sei „abgrundtief schlecht“ („chô warui“). Ich sehe mich am besten mal nach einem echten Brett um. Muss ja nicht gleich Teakholz sein.

Ich gehe nach Hause, als ich genug habe und komme noch früh genug an, um noch „Mujin Wakusei no Survival“ (ein Anime, „Überleben auf einem unbewohnten Planeten“) zu sehen. Danach läuft die Serie um diesen Detektiv in Kyoto (kein Anime, und ich habe immer noch nicht nachgesehen, wie man den Namen der Serie liest und übersetzt)1, dann „Trick“ und schließlich „Manhattan Love Story“.

Ich bin auch immer noch auf der Suche nach Downloadmöglichkeiten, aber ich weiß nicht einmal genau, wo ich eigentlich nach japanischen Live-Action Serien suchen muss, also habe ich noch nichts gefunden. Im Prinzip brauche ich eine Seite wie www.Animesuki.com, eben nur für Live Action Serien…

1 Es könnte sich um „Kyôto Meikyû“ handeln, „Labyrinth Kyôto“.

3. Dezember 2023

Mittwoch, 03.12.2003 – Ein Mensch lernt wenig von seinem Siege, aber viel von seiner Niederlage

Filed under: Bücher,Japan,My Life,Uni — 42317 @ 14:33

Ein sonniger Morgen, laut Wetterbericht sieben Grad Celsius. Zum Frühstück vertilgen wir den Reis, den Melanie gestern leider umsonst gekocht hat (sie hat die Einladung zum Essen bei den Nachbarn zwanzig Minuten zu spät erhalten). Um den Reis warm essen zu können, brate ich ihn an, mit etwas Öl, und das Ergebnis ist, dass mir den ganzen Tag über mehr oder weniger schlecht ist. Das Essen liegt mir wie ein Stein im Magen, und um 1700 habe ich immer noch keinen Hunger. Dabei habe ich doch noch eine Menge Sushi im Kühlschrank…

Aber alles der Reihe nach. Die Tatsache, dass wir am Morgen unsere Zwischenklausur des A2-Kurses zurückbekommen, trägt wohl auch nicht unwesentlich zu meinem Befinden während des restlichen Tages bei. 47 % sind keine Heldentat. Ich würde das „klar durchgefallen“ nennen. Urrghs… warum dieses Ergebnis? So schlecht war ich ja noch nie, so weit es Japanisch betrifft. Es ist natürlich nicht ganz einfach, als Betroffener objektiv darzustellen, wo genau der Wurm drin war, also stelle ich Melanies Interpretation an den Anfang: „Mangel an Vorbereitung!

Ich will den Vorwurf nicht als völlig unbegründet von der Hand weisen. Ich hätte wohl wirklich mehr dafür tun können – aber wegen des Schwierigkeitsgrades sah ich mich zu besonderen Anstrengungen nicht veranlasst. Das, was hier behandelt wurde, habe ich alles schon einmal gemacht und (damals) mit einem guten Ergebnis hinter mich gebracht, also ist es nicht so, dass ich die Materie überhaupt nicht beherrschen würde. Ich sehe mein Problem darin, wie die Aufgaben gestaltet sind. In Trier bestehen Klausuren aus einer Übersetzungsübung, die den Prüfling dazu veranlasst, die gelernte Grammatik anzuwenden. In Hirosaki bestehen die Aufgaben aus Lückentexten, über denen viel sagend geschrieben steht: „Setzen Sie die richtige Form ein!

Wenn ich diese Aufgabe nun im Buch sehe, dann ist mir ja wegen des aufgeschlagenen Kapitels voll und ganz klar, auf welche Satzstrukturen die Angelegenheit hinausläuft. Hier ist das nicht der Fall. Ich muss den japanischen Text lesen, trotz der Lücken verstehen, um was es geht, und daraus schließen, was ich in die Lücken schreiben muss – und das alles ohne Wörterbuch (das in Trier bei Übersetzungen aus dem Japanischen ins Deutsche erlaubt ist). Die Mehrheit der Fehler ist wohl dadurch entstanden, dass ich Übersetzungsschwierigkeiten bei den Kanji hatte (= mangelnde Vorbereitung meinerseits) und den Kontext nicht richtig auf den Lehrplan habe umdeuten können (= konzeptionelle Mängel des Lehrmaterials). Die Kanji, die wir für die drei Tests jede Woche lernen müssen, stehen nämlich in keinem direkten Zusammenhang zu den zu behandelnden Lektionen – das ist ein ganz anderes Buch. Die Aufgaben der Klausur stammten jedoch alle aus dem Lehrbuch – was für mich bedeutet, dass ich nicht nur die grammatikalischen Formen können muss (mit dem, was ich an Strukturen vorbereitet hatte, wäre ich bequem auf 80 % gekommen), sondern ich muss auch die Aufgabenstellungen im Buch mehr oder weniger auswendig können, damit ich bei Verständnisschwierigkeiten dennoch weiß, welcher Grammatikteil da gerade abgefragt wird.

Das alles trägt weder zu meiner körperlichen und geistigen Gesundheit noch zu meiner Laune bei. Die Übersetzungsaufgaben von Katsuki-sensei schmecken mir viel besser – schließlich wird man bei der Konversation in der Mensa nicht plötzlich mit Lückentexten konfrontiert… Dass die Klausurtexte Kommunikationsbeispiele waren, macht die Sache nicht besser. Andererseits sitzen in Form der ca. 15 Teilnehmer mindestens fünf Nationen im Raum (Deutschland, Frankreich, Thailand, China und Peru), was eine Übersetzungsübung ziemlich kompliziert für die Lehrerin machen würde. Also muss ich Lernaufwand in die Lehrbuchtexte investieren – was früher völlig überflüssig war. Man könnte aber ruhig ein Kanjilexikon zulassen, um so Vokabelfragen klären zu können und eine vollständige Konzentration auf die Grammatik zu ermöglichen, um die ja eigentlich geht.

Vesterhoven bespricht heute Mishima Yukio und gibt uns „Yûkoku“ („Patriotismus“) zum Lesen mit. Ich bin gespannt. Die „Geständnisse einer Maske“ haben mir sehr gut gefallen, und „Yûkoku“ ist das wahrscheinlich bekannteste Werk Mishimas – nicht zuletzt wegen der Darstellung eines rituellen Selbstmordes… aber das ist bislang alles, was ich darüber weiß, weil ich es noch nicht gelesen habe. Ich bin gespannt…

… und die Kinnlade fiel mir auf den Schreibtisch. Und ich kann nicht sagen, dass dieser metaphorische Vorgang positive Ursachen hätte. Ich habe nicht gedacht, dass Mishima solch einen Mist schreiben kann. Seine Fans mögen mir das bitte verzeihen, aber ich finde „Yûkoku“ in keiner Weise berauschend. Das einzige, was dieser Text wirklich gut vermittelt, ist der Schmerz eines Mannes, der sich mit einem Katana den Bauch aufschlitzt – und zwar ohne jemanden, der ihm den Kopf abschlägt, wenn es zu viel wird. Ansonsten ist der Text eine Mischung aus chauvinistischen Phrasen, Körperkult und Sex. Nennen wir die Dinge doch beim Namen. Die Handlung findet statt vor dem Hintergrund der Geschehnisse ab dem 26. Februar 1936. In Tokyo rebellierten rund 1400 Soldaten der kaiserlichen Armee (geführt von idealistischen Offizieren der unteren und mittleren Dienstgrade) gegen die Regierung. Ihre Motivation war die Absetzung der Herrschaft von „Parteien, korrupten alten Männern und Bürokraten“, um den Tenno persönlich die direkte Herrschaft zu ermöglichen. Sie hofften, auf diese Art und Weise u.a. die ärmlichen Verhältnisse der Landbevölkerung mildern zu können (die dazu führten, dass eine Menge Töchter in die Prostitution verkauft wurden) – und nicht wenige Offiziere kamen vom Land zur Armee, weil sie dort eine gesicherte Existenz sahen. Der Shôwa Tenno (Hirohito) ordnete am 29.02. jedoch an, die Rebellion niederzuschlagen, worauf die meisten Aufständischen freiwillig die Waffen niederlegten.

Leutnant Takeyama ist die männliche Hauptperson der Kurzgeschichte. Er steht nicht auf der Seite der Aufständischen, aber er weiß, dass man ihm befehlen wird, gegen die Meuterer vorzugehen, unter denen sich seine besten Freunde befinden. Der Leutnant ist verheiratet, und die Darstellung dieser Ehe ist von einem derart archaischen Ideal geprägt, dass einem davon schlecht werden könnte. Seine Frau ist seine absolute Untergebene. Er macht ihr klar, dass es zum Leben eines Offiziers der kaiserlichen Armee gehört, jederzeit sein Leben für Kaiser und Vaterland zu geben und sie macht deutlich, dass sie ihm freiwillig in den Tod folgen werde, sollte dieser Fall eintreten. Es folgen Darstellungen, wie leidenschaftlich (und ausdauernd) das Sexualleben der beiden verläuft (vor allem, wenn er von Übungen wieder zurückkommt), was für einen göttlichen Körperbau die beiden haben (jeweils das extreme Idealbild eines männlichen und eines weiblichen Körpers, man denke dabei an die Vorstellungen der Nazis) und wie hingebungsvoll der Leutnant seinem Kaiser dient. Und als dann klar wird, dass er am folgenden Tag auf seine Freunde und Landsleute würde schießen müssen, nimmt er sein Schwert und verteilt eindrucksvoll seine Darmwindungen auf dem Tatamiboden im gemeinsamen Schlafzimmer (es ist nicht schwer zu raten, was die zwei vorher einige Stunden lang gemacht haben), gefolgt von seiner Frau, die sich mit einem großen Messer den Hals aufschlitzt.
Das möchte ich nicht noch einmal lesen, wenn es sich vermeiden lässt. Aber die Darstellungen der Schmerzen sind so richtig „echt Mishima“. Sehr lebhaft geschildert und gut durchdacht. Immerhin.

Um 1200 gedachte ich eigentlich Yui in der Halle zu treffen, aber sie ist nicht da. Sie ruft auch nicht an. Daraus muss ich eigentlich schlussfolgern, dass unsere Treffen nicht als so regelmäßig ausgemacht worden sind, wie ich mir das gedacht habe. Ein bisschen Kontinuität würde ich doch begrüßen. Ach, was soll’s, ich hab auch schon solche Fehler gemacht. Dafür treffe ich Mei und BiRei, die hier ihr Mittagessen verzehren wollen. Dann unterhalte ich mich eben mit denen ein bisschen, so lange sie essen.

Um 1420 sehe ich Mei dann wieder zum Englischlernen. Derzeit ein überraschend konstanter Faktor in meiner wöchentlichen Freizeitplanung. Mei hat ihr Textbuch vergessen, also nehmen wir das Grammatikbuch als Grundlage. Verbformen. Das ermüdet die junge Dame wesentlich schneller als einfache Kommunikation. Aber die Zeit vergeht dennoch recht schnell und sie hat um 1600 eine Verabredung mit ihrem Tutor. Dann komme ich vielleicht ja doch noch bis 1900 nach Hause, und kann vorher noch Post schreiben.

Aber so weit sollte es nicht kommen. Weit gefehlt! Ich schreibe also den bisherigen Tag in mein Tagebuch und um 1615 kommt BiRei mit XiangHua in die Halle – auf der Suche nach Mei. Sie sei bei einem Treffen mit ihrem Tutor, sage ich, worauf die beiden beschließen, mit mir vorlieb zu nehmen. Wir sitzen also da und unterhalten uns. Währenddessen schreibt BiRei Vokabeln auf, die ich nicht kenne (oder nicht sofort verstanden habe), drückt mir den Zettel in die Hand, sieht mich streng an und sagt: „Lern das und vergiss es nicht!“ Ah… wie Sie wünschen. War von ihr natürlich nicht so ernst gemeint, wie sie es in Szene gesetzt hat. Im Gegenzug möchte sie, dass ich ihr ebenfalls etwas Englisch beibringe. Aber nicht zusammen mit Mei, da sie Mei nicht stören möchte. Dann könnte sie sie doch zumindest fragen, ob das in Ordnung sei? Nein, sie wolle Mei nicht damit belästigen. Und ich solle Mei gegenüber das Thema auch nicht anschneiden. Ich will das jetzt nicht verstehen müssen. In einem klassischen Fernsehdrama würde dieses Verhalten darauf schließen lassen, dass Mei romantische Gefühle für mich hegt und BiRei das weiß, und deshalb die Zweisamkeit nicht stören möchte. 🙂
Aber gut… hier und da ein wenig englische Konversation, wenn wir uns begegnen. Ich solle dann auch von Fall zu Fall unbekannte Vokabeln aufschreiben und an sie weitergeben. Hm… sie hat nach ihrem Schulabschluss erst angefangen, verstärkt Englisch zu lernen, auf der Schule hat sie in erster Linie Japanisch gelernt (acht Jahre), und nur ein bisschen Englisch nebenher gemacht. Eigentlich sollte ich ihr gleich ein Wörterbuch schenken. Mehr als „Basiskommunikation“ ist bei ihr noch nicht zu machen, was bedeutet, dass ich zuerst Vokabeln und dann Strukturen aufbauen muss… das könnte ja in Arbeit ausarten…
Als wir uns dann wieder verabschieden, ist es 1840. Mit „1900 zuhause“ wird das nichts mehr, und ich habe heute noch nicht einmal einen Computer gesehen. Ich werde meine Post abrufen und beantworten, aber einen Bericht schreibe ich heute nicht mehr. Mehrstündige Konversation auf Japanisch kostet mich noch viel zu viel Konzentration und Energie.

Und als ob der Tag nicht schon Kraft raubend genug gewesen wäre, läuft am Abend auch wieder die „WG Kunterbunt“. Heute ausnahmsweise nicht mit Bildern aus den dreißiger Jahren. Es geht ein wenig weihnachtlich zu, und ich denke noch so bei mir: „Hey, dann könnte die Sendung heute ja mal erträglich sein“, aber dann kommt bereits der Dämpfer: „Ernst, wie wir nun mal sind…“ oh nein, oh nein, was kommt jetzt?
Ernst, wie wir nun mal sind, berichten wir heute über allein erziehende Mütter und Väter in der Weihnachtszeit.
Okay, ich gebe zu, das ist besser als „Weihnachten unterm Hakenkreuz“, aber immer noch viel zu deprimierend für eine Kindersendung! Ich sagte ja bereits, dass die Themen, die ja nicht unwichtig sind, inhaltlich eher was für Jugendliche wären – hätte die Sendung nicht allgemein eine so kindgerechte Aufmachung. Warum zeigen die keine Weihnachtsmärkte? Von mir aus auch mit alternativem Holzspielzeug „made in Germany“. Oder verschneite Bäume, spielende Kinder mit Schlitten und dergleichen mehr? Nein, wir zeigen lieber die Kehrseiten der Medaille und lassen die Japaner denken, dass Deutsche sich nur über schwermütige Themen Gedanken machen. In Deutschland ist Weihnachten also nicht das Fest der Freude, sondern das Fest, wo man an weniger gut situierte Menschen denkt und Trübsal bläst. Etwas mehr Ausgewogenheit wäre hier angebracht – und unter „Ausgewogenheit“ verstehe ich etwas anderes als die Laberbacke Sascha mit seinen Fußballbegriffen… wenn Deutsche sich von ihrer Trübsal mal lösen wollen, spielen sie also Fußball oder sehen sich Spiele an. Wie könnte es auch anders sein?

Prinz Pipo“ gibt am Ende der Sendung jeweils den Satz des Tages vor. Vielleicht habe ich das bereits erwähnt – es handelt sich dabei um den Kernsatz des vorgeführten Puppentheaterstücks, und dieser Satz wird mehrfach erwähnt, damit ihn sich auch jeder merkt. Und der lautet heute:
Eigentlich dachte ich, dass die Natur auf der Erde intakt ist.
Muss man Germanist sein, um diesen Satz als „auffällig“ zu betrachten? Ich bin keiner, und ich behaupte dennoch, dass der Satz nicht ganz richtig ist (ich will nicht direkt „falsch“ sagen). Müsste das hier nicht heißen:
Eigentlich dachte ich, dass die Natur auf der Erde intakt sei.???
Vielleicht gibt es Konnotationsunterschiede, die mir unbekannt sind? Annahmen werden wie indirekte Rede doch im Irrealis ausgedrückt, oder? Für mich ist meine Version jedenfalls richtiger. Übel Freunde, ganz schlecht.

Und dann fängt es an zu schneien.

2. Dezember 2023

Dienstag, 02.12.2003 – „In deinem Nichts hoff ich, das All zu finden.“

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 7:00

Sonnenschein am Morgen. Wie üblich. Es ist im Freien weit weniger kühl als im Treppenhaus, also ziehe ich die Handschuhe wieder aus und fahre ohne zur Universität. Nach dem Unterricht bei Yamazaki-sensei fahre ich zur Post, um meine Stromrechnung zu bezahlen, und anschließend nach Hause. Dort nehme ich meinen leeren Kerosinkanister und besorge mir eine neue Füllung für 850 Yen. Dann fahre ich zur Uni zurück. Bis zum nachfolgenden Unterricht ist noch genug Zeit, um mein Postfach zu überprüfen und ein paar kurze Antworten zu verfassen.

Die Einführung in das Studium des Buddhismus bringt mich indes dem Verständnis dieser Lehre (Leere!) keinen Schritt näher. „Nirvana“ ist offenbar eine Art Zustand, den man als Lebender erreicht – Nirvana ist keineswegs eine Art „Himmel“, in den man einzieht, sobald man als Erleuchteter den Weg alles Irdischen gegangen ist. Nein, nein, der Buddha erlangt Erleuchtung, und das ist Nirvana, und lebt dann ein Leben frei von allem Leiden. Und dann stirbt er. Und wird nicht wiedergeboren – ein Buddha zu werden, bedeutet, das letzte Leben erreicht zu haben.
Ja, Moment mal – und was ist danach?
Was bleibt von einer Flamme, nachdem man die Kerze ausgepustet hat?
Nichts… Nichts?!? Was soll das heißen: ‚Nichts’?
Nichts heißt ‚Ende, Aus, Vorbei’. Nach diesem letzten Leben kommt eben nichts mehr. Das ganze Leben ist doch eh nur eine Illusion. Und nur Nichts ist frei von Leiden.

Das heißt, ich lebe Hunderttausende Jahre, Hunderttausende Leben lang, im wahrsten Sinne des Wortes wie ein Mönch, um ein lächerliches halbes Leben lang (bewusst) frei von Leiden zu sein? Das ist doch völlig sinnfrei! Als Christ muss man sich „nur“ ein Leben lang darum bemühen, anderen Leuten lediglich nichts Böses anzutun, um in den Himmel zu kommen. Darauf arbeiten alle wahren Christen hin – wo ist die Motivation für wahre Buddhisten? All der Verzicht… für nichts? Dann verzichte ich doch lieber auf das Nirvana, nehme Schmerz und Leid in Kauf und bekomme dafür Freude, Spaß, Liebe, Wollust und (ab und zu ein bisschen) Alkohol. Das ist mir zu verrückt. Oder zu hoch. Ich bin mir nicht sicher. Aber für die Klausuren müssen wir auch nichts verstehen, sondern nur die theoretischen Fakten kennen.

Für mich gibt es also kein Nirvana. Aber das wird in diesem Weltzyklus sowieso nicht mehr gehen. Man muss entweder selbst ein Buddha werden oder von einem unterrichtet werden, um Nirvana zu erlangen. Und der nächste Buddha (Maitreya Buddha) wird erst auf der Bühne der Welt erscheinen, sobald die Lehren des letzten Buddha (Gauthama Buddha) und der ganze Buddhismus völlig vergessen worden sind und die Welt von der Apokalypse dahingerafft worden ist, worauf sie neu entsteht und dem nächsten Buddha eine Heimstatt bietet. Diese Weltzyklen sind übrigens die längsten der Menschheit bekannten Zeiträume. Philips sagt, der buddhistische Weltenzyklus stehe im Guinness Buch der Rekorde. Ich habe die Zahl nicht mehr im Kopf, möglicherweise hat Philips auch keinen konkreten Zeitraum genannt, aber es gibt eine Art Gleichnis, das ein klassisches Beispiel für die Superlative indischer Mythologien ist: Man stelle sich einen typischen Berg vor, sagen wir den Berg Fuji, den Watzmann, das Matterhorn oder von mir aus den Großglockner. Zumindest einer davon sollte jemandem ein optischer Begriff sein. So, jetzt geht alle 100 Jahre ein Mensch zu diesem Berg und reibt ein Seidentüchlein an dem Felsgestein – der Berg wird abgetragen sein, bevor der Zyklus vorüber ist. Ist das nicht irre?

Im Anschluss gehe ich in die Bibliothek, um den Bericht vom 21.11.2003 fertig zu schreiben und mit dem 22.11. zumindest zu beginnen. Schließlich war da auch einiges los und die Post wird bestimmt ebenfalls ein Zweiteiler…
Beethoven Radio“ zu hören lohnt sich heute besonders. Ich höre die Ouvertüre von „Willhelm Tell“ und Teile von Beethovens Fünfter Symphonie. Seltsamerweise spielen sie auch den Soundtrack von „Indiana Jones and the Temple of Doom“ und „Raiders of the Lost Arc“. Ich bin nicht sicher, was diese Stücke hier zu suchen haben, aber ich freue mich, dass sie laufen.

Zwischendurch kommt SangSu zu mir herüber und teilt mir mit, dass Jû morgen wegen der Hochzeit seiner älteren Schwester nach Korea zurückfliegen werde. Aus diesem Anlass finde am heutigen Abend ein Essen statt und wir seien eingeladen, um 20:00 vorbeizukommen. Um kurz vor sieben verlasse ich die Bibliothek und werde von Regen begrüßt. Keine dicken Tropfen, aber viele, viele kleine. Das freut mich wenig, ganz ohne Schirm und Schutzblech. Aber es wird weniger, und als ich zuhause ankomme, hat es bereits aufgehört. Aber ich muss ja erst noch zum Beny Mart. Dort stelle ich fest, dass das komplette Sushi-Angebot um 50 % reduziert ist. Ich lasse mich nicht zweimal bitten und nehme vier Pakete mit. Ich treffe Melanie am Getränkeregal. Also deswegen brannte oben kein Licht in der Wohnung. Sie weiß bereits von der Einladung und sagt, dass die „Party“ angeblich bei SangSu stattfinde. In SangSus Höhle? Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Keine Frau würde sein Apartment freiwillig ohne Schusswaffe betreten, um sich all dessen erwehren zu können, was sie aus den Regalen, dem Abfluss und aus dem Kühlschrank anspringen könnte…

In der Tat findet das Essen bei SongMin statt. Anwesend sind nur Melanie und ich, SongMin, SangSu, Jû und eine weitere Studentin aus Korea mit dem Namen SungYi. Wir haben Sushi und ein paar Süßigkeiten mitgebracht. Das vorhandene Essen besteht aus einer Reisbeilage (was sonst), und dazu zwei zumindest optisch identische koreanische Suppen. Von der linken heißt es, sie sei scharf, die rechte sei süßlich. Aha. Nun ja, in meinem Hinterkopf steht die Meinung (oder das Wissen), dass koreanisches Essen mitunter sehr feurig sein kann, also mache ich mich auf einiges gefasst. Alternativ gibt es zum Reis auch etwas, das aussieht, wie gebratene Paketschnur. Was das denn sei, möchte ich wissen. Aber das japanische Wort sagt mir nichts, und ein englisches gibt es dafür in dem Kanjitank nicht. „Sakana no tomodachi“, sagt SangSu, „ein Freund vom Fisch“. Er ist der Meister der kindgerechten Umschreibung. Ich runzele belustigt die Stirn, Jû lacht. Okay, ich gehe also davon aus, dass es im Meer gelebt hat, bevor es auf dem Teller hier gelandet ist. Es handelt sich wohl um ein zerkleinertes Tier, dass man durch eine Presse gedreht hat.

Ich bekomme eine Schüssel Reis und möchte etwas von der scharfen Suppe. Jû sagt, sie könne für Europäer ein wenig zu scharf sein. Melanie sagt, sie sei wirklich scharf. Allerdings muss das nichts heißen, wenn Melanie das sagt. Ich nehme ebenfalls etwas davon. Ja, sie ist scharf, es entfaltet sich ein Brennen im Mundraum. Aber wenn man zwei bis drei Bissen davon gegessen hat, verschwindet das Brennen weitgehend und macht einem sehr angenehmen Essgefühl Platz. Zumindest bei mir. Ich will in dieser Angelegenheit nicht für Melanie sprechen. ?

Also, das kann ja wohl nicht alles sein. Ich verlange eine von den grünen Chilis in dem Suppentopf. Die versammelten Koreaner halten das für mutig. Diese Schoten seien sogar für Koreaner scharf, sagen sie. Schön, dann nur her damit. Die erste esse ich mit Reis, zur Sicherheit. Hm… habe ich da gerade eben wirklich eine Chilischote gegessen? Ich bitte um eine weitere. Die zweite esse ich ohne „Verdünnung“. Mein Publikum traut seinen Augen nicht. Ja? Hallo? Zunge an Chili: Wo bleibt die Schockwelle? Also, die Peperoni in Berfins Bistro in Blieskastel sind genauso scharf, und haben mehr Eigengeschmack. Ich bin von der Schärfe der Suppe hier nicht beeindruckt. Und werde für meinen Todesmut bewundert. Die Suppe der Thailänder auf der Internationalen Party – die war beeindruckend scharf!

Die Suppen machen sich aber geschmacklich sehr gut am Reis und ich lobe auch die Suppe, die SangSu gemacht hat. Um ihn ein wenig dafür zu entschädigen, dass SongMin ihm unterstellt, er könne bestenfalls Instant-Ramen aufwärmen und dass Jû scherzhaft sagt, die Suppe habe bestimmt keinen Geschmack. Sie ist nicht das, was ich süß-scharf nennen würde, es handelt sich lediglich um eine „zahme“ Version der scharfen Suppe daneben. Aber sie schmeckt sehr gut ich bin sehr dankbar, dass ich davon essen darf.

Der Nachtisch ist ein Salat. Der Salat sieht aus wie ein Obstsalat mit Joghurt. Ist es aber nicht. In der Schüssel befinden sich Bananen- und Äpfelstücke, sowie kleingehackte Shrimps, das Ganze wird gezuckert und mit… mit Mayonnaise verrührt. So was Verrücktes hat man mir ja lange nicht vorgesetzt! Aber verrückte Kreationen haben mich noch nie abgeschreckt und der Geschmack ist sehr überzeugend. Mayu!1Die andere Hälfte der Bananen und Äpfel wird als Häppchen auf den Tisch gestellt, ohne weitere Zusätze.
Während des Essens stellt sich heraus, dass SongMin Süßigkeiten nicht sehr mag, und auch auf Sushi gut verzichten kann. Dann weiß ich ja, was wir beim nächsten Mal nicht mehr mitbringen. SangSu erzählt, dass er mich beneide, weil ich eine Freundin habe und auch noch mit ihr zusammenwohne. Er dagegen sei ganz einsam. An manchen Tagen ziehe er sich die Decke über den Kopf und weine vor sich hin. Ich bin allerdings jetzt nicht in der Stimmung, das ernst zu nehmen, und empfehle ihm, sich doch eine hübsche Japanerin zu suchen. Ja, wenn er nach Tokyo fahre, werde er das in Angriff nehmen, sagt er. Ich glaube, das ist eine Aussage, die ich unverifiziert an mir vorübergehen lassen kann.

Als wir gehen, kündige ich noch an, dass ich die Ferien im Frühjahr dazu nutzen möchte, Videos anzusehen, unter anderem auch die „Tom & Jerry“ Sammlung, die man in der Videothek ausleihen kann. SongMin und SungYi sind zumindest nicht abgeneigt, habe ich den Eindruck. Dann bin ich mit meinem Plan hoffentlich nicht allein. Erstens reduziert das die Kosten und mit mehreren Leuten macht es auch gleich mehr Spaß. Und Tom & Jerry haben den Vorteil, dass man keine Sprache der Welt beherrschen muss, um der Handlung folgen zu können – no speech, just action, zusehen und lachen! Zumindest hoffe ich, dass niemand in Japan auf die Idee gekommen ist, den beiden einen Hintergrunderzähler zu verpassen, wie das in Deutschland der Fall war.

Ich könnte den deutschen Erzähler die meiste Zeit erwürgen, weil die Regie krampfhaft den Versuch macht, Tom zu dem „Bösen“ und Jerry zu dem „Guten“ zu machen, der mit seiner Klugheit und seinem Witz über der Einfalt und dem Geltungswahn des anderen steht. Dagegen offenbart sich dem aufmerksamen Zuschauer, dass beide, Kater wie Maus, ihre Marotten haben und keine Gelegenheit auslassen, dem anderen eins auszuwischen. Bei den beiden gibt es keine Schwarzweiß-Malerei. Schlimmer wäre nur noch gewesen, wenn sie den beiden Dialoge gegeben hätten… dann müsste ich bittere Tränen weinen!

Bevor ich mich schlafen lege, lese ich „Kata Ude“ noch einmal. Aber der Text sagt mir ebenso viel wie letzte Woche. Und die Vokabeln für den nächsten Kanjitest sollte ich auch noch einmal durcharbeiten.

1 Aus Gansô Debuya. Das rufen die kulinarisch Reisenden, wenn es ihnen schmeckt, also quasi andauernd.

1. Dezember 2023

Montag, 01.12.2003 – Fliegengewicht

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 7:00

Der erste Dezember. In drei Wochen ist also Weihnachten. Die Vorfreude droht mich zu zerreißen.
Sonne am Morgen, Wolken ab Mittag, also auch da nichts Neues. Ich arbeite in der Bibliothek und höre Musik. Dem Japaner neben mir ist sie zu laut, offenbar habe ich mit „SnakeMetal Radio“ ein wenig übertrieben. Er zupft mich am Ärmel und weist auf seinen Bildschirm, wo er ein neues Dokument geöffnet hat:
This is a library“ schreibt er (weil er sich das Sprechen nicht zutraut, möchte ich annehmen), „please turn up the volume.“ Was bitte? Ach so, ja, klar. Der Kontext macht seine Absicht deutlich. Ich sage ihm, dass ich verstanden habe und weise ihn darauf hin, dass „up“ eigentlich das Gegenteil von dem ist, was er mir mitteilen will. „Rock the Lib!“ wäre aber vielleicht ein durchaus interessantes Konzertprojekt.

Yamazaki-sensei behandelt heute einen Text, in dem es um Landkarten geht. Und den verstehe ich auf Anhieb – die unbekannten Vokabeln sind ja immer angegeben, aber diesmal ist keine Satzstruktur dabei, die ich erst in meinem Grammatikkompendium würde nachschlagen müssen. Dass ich das auf meine alten Tage noch erleben darf! Und vor Unterrichtsende gibt er uns die Hausaufgaben zurück, die wir das letzte Mal haben abgeben müssen. Es ging darum, einen Text zu schreiben. Egal über was. Wir sollten nur die Formalitäten beachten, also unter welchen Umständen man Satzzeichen setzt, wo man eine Freistelle lässt und wo nicht, und das über 200 Zeichen. Das ist etwa eine halbe Seite. Ich habe drei Formfehler gemacht und ein Kanji falsch geschrieben (den letzten Strich von „toki“ = „Zeit“, vergessen). Verbesserungsbedürftig, aber generell in Ordnung. Nur habe er den Text überhaupt nicht verstanden. Wirklich verübeln kann ich ihm das nicht… wer meine japanischen Vorträge in den Kursen von Katsuki-sensei gehört hat, weiß, dass meine Thematik recht einseitig und meine Struktur etwas irre ist. Wenn eine Textstruktur vorhanden ist. Ah ja, und die wenigen hier, die meine Texte aus dem Unterricht in der Unterstufe bei Frau Bamberg kennen, können noch weit besser nachempfinden, wie sich Yamazaki-sensei bei der Lektüre meines Werkes wohl gefühlt haben mag. Die Überschrift lautet „Gefahr“. Im Grunde genommen handelt es sich um eine Aneinanderreihung der Sammlung militärischer Vokabeln, die ich wegen meines Forschungsthemas angelegt habe. Da steht in etwa:

Beim Militär ist es gefährlich! Es war, es ist und es bleibt gefährlich! Antreten, Helme auf, Kampfflugzeuge, Panzer, Raketen, Handgranaten, Sturmgewehre, Pistolen, Geschütze. Und es ist kalt auf dem Übungsplatz! Und nachher, zurück in der Kaserne, saufen wir uns um den Verstand! Da kann man eine Alkoholvergiftung bekommen – und das ist auch gefährlich! Am besten geht man nicht zum Militär!“

Da der Mann wahrscheinlich nie bei der Armee war, kann er diese „Zusammenfassung“ natürlich nicht sonderlich gut verstehen. Aber es hat Spaß gemacht, den Text zu schreiben.

Zurück im Center lasse ich mir von Mélanie die französischen Textstellen in dem „Noir“ Artbook übersetzen. Sie sagt, die Sätze seien zwar richtig, aber für einen Muttersprachler hörten sie sich dennoch seltsam an, auch, wenn man den unbekannten Kontext außer Acht lasse. Wahrscheinlich muss man die Serie sehen, um herausfinden zu können, was „Die schwarzen Hände beschützen den Frieden der Neugeborenen“ bedeutet. Oder war es „Die schwarzen Hände schützen die Neugeborenen vor dem Frieden?
Mit „Weißkreuz“ geht es mir als deutschem Muttersprachler ja nicht besser, wo auf einem Poster in deutscher Sprache zu lesen ist: „Sie kämpfen statt des Gesetzes… für das ‚Weiß’, das in unserer Zeit noch erhalten ist…“ Ich habe es erst letztlich im „Animedia“ Laden gesehen (wo ich das Weihnachtsgeschenk für meine Freundin kaufen will). Die Rhetorik ist eigentlich die gleiche, aber es geht bei „Weißkreuz“ a) um männliche Exterminatoren und b) steht da die Farbe Weiß im Vordergrund, und nicht Noir, also Schwarz. Das macht mir „Noir“ gleich viel sympathischer. Ganz zu schweigen vom Charakterdesign und den Stimmen der Hauptrollen – Mitsuishi Kotono spricht Mireille Bouquet, wenn ich mich recht erinnere.

Im Animedia erfuhr ich übrigens etwas sehr interessantes. „Dating Games“ sind ja ein sehr verbreitetes Phänomen, wie einige Leute sicher wissen. Dabei geht es normalerweise um einen männlichen Protagonisten, meist im Highschool-Milieu, also 16 bis 18 Jahre alt, der unter einer mehr oder weniger großen Auswahl von Frauen und Mädchen seine Herzensdame aussuchen soll. Mal mit mehr, mal mit weniger rollenspielähnlichen Anteilen, und mal mit mehr und mal mit weniger Sex. Bisher! Ich habe im Animedia eine Werbebroschüre von Konami gesehen, die da aussagt, dass es von „Tokimeki Memorial“ eine Ausgabe für Mädchen gibt! Eine weibliche Heldin, höchstwahrscheinlich an einer Highschool, an der es von Bishônen (hübschen Jungs) nur so wimmelt. Und es gibt bereits Merchandising, wie z.B. Karten zum Sammeln und Tauschen („Trading Cards“) mit den männlichen Charakteren. Natürlich mag es das Spiel schon länger geben – ich habe auf das Ausgabedatum nicht geachtet – aber ich habe nichts davon gewusst. Und ich finde die Idee, bei dem Spielkonzept die Geschlechterrollen zu vertauschen, sehr interessant. Und vor allem war das schon lange notwendig. Jetzt würde mich natürlich interessieren, wie weit die „weibliche“ Version des Spiels geht. Die „Tokimeki“ Spielserie hat meines Wissens nach keinen Ruf als pornografisches Medium. Und ausgerechnet die „Tokimeki“ Serie habe ich noch nicht gespielt.

Nach der Unterhaltung mit Mélanie gehe ich in die Bibliothek zurück, um Berichte zu schreiben. Ich treffe Mei dort an, die sich an den Rechner neben mir setzt. Ich grüße sie und schreibe weiter. Dann klopft sie mit dem Finger auf meinen Tisch, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich setze die Kopfhörer ab und frage, was ich für sie tun könne. Ob ich wisse, wie man den Stuhl nach unten verstellt. Ja, sicher. Bitte setzen. Rechts hinten am Stuhl befindet sich ein Klapphebel. Wenn man daran zieht, während man auf dem Stuhl sitzt, dann sinkt die Sitzfläche nach unten. Ich wundere mich noch, warum sie das nicht weiß – China schießt Astronauten ins All, also werden die wohl Bürostühle mit Höhenverstellung kennen. Sie zieht an dem Hebel – aber nichts passiert. Der Stuhl sei offenbar kaputt. Ich lache darüber – ich winke sie von dem Stuhl herunter, und setze mich selbst darauf. Und der Stuhl funktioniert einwandfrei. Sie ist zu leicht, um den Stuhl nach unten zu drücken!