Code Alpha

Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

11. Dezember 2023

Donnerstag, 11.12.2003 – Roadrunner

Filed under: Japan,My Life,Uni,Zeitgeschehen — 42317 @ 7:00

Ein sonniger Morgen, kein Schnee über Nacht. Aber es ist dennoch ziemlich kühl. Von dem gefallenen Schnee ist nur noch etwas auf den Dächern und ein paar Flecken auf dem Rasen übrig. Und morgen soll es regnen. Mal wieder.

Leider verschätze ich mich in der Zeit, die ich zum Rasieren brauche und werde erst um 0740 fertig. Dann also schnell den Reis in die dafür vorgesehene Körperöffnung stopfen und los geht’s, um 08:20. Das reicht bei den herrschenden Bodenverhältnissen zu Fuß gerade so, um pünktlich zu sein, wenn man ein bisschen Gas gibt. Die Straßen sind frei, aber auf den Bürgersteigen liegt noch Eis. Es ist allerdings kein festes Eis, es ist gebrochen und sehr körnig. Man kann also beinahe normal darauf laufen. Da wir spät dran sind, will ich mich beeilen, aber pro 100 Meter, die ich zurücklege, fällt Melanie 20 Meter zurück. Vom Boden her wäre es wirklich möglich, etwas schneller zu gehen, als sie das tut. Aber sie kann natürlich nichts dafür – es pflügt nicht jeder so durch die Gegend wie ich. Aber ich will nicht zu spät kommen und ziehe auf den letzten 500 Metern davon. Sie wird mir das übel nehmen, das weiß ich. Aber ich kann nicht spazieren gehen oder alle paar Meter stehen bleiben, um zu warten, wenn ich weiß, dass ich mich eigentlich beeilen sollte. Ich kann dann nicht langsam machen… das macht mich ganz zappelig und meine Laune wird ungenießbar. In dem Fall muss ich also abwägen, ob ich lieber ihre oder lieber meine Laune in den Keller trete. Heute steht meine Entscheidung fest. Ja, vielleicht ist das nicht nett. Ich habe aber was dagegen, zu spät zu kommen, vor allem, wenn es sich noch vermeiden lässt. Wir sind doch kein einheitlicher Organismus – es ist immer noch jeder in erster Linie für sich selbst verantwortlich.

Ich bin etwa eine Minute vor ihr da. Ich vor dem Gong, sie danach. „Danke, dass Du auf mich gewartet hast!
Ja, sie nimmt mir das übel. „Ja, keine Ursache.
Die Situation juckt mich jetzt gerade wenig.
Sie setzt sich in die übernächste Reihe hinter mir. Oha, symbolischer Abstand. Mach nur.

Nach dem Kanjitest, noch während des Unterrichts, sehe ich, dass sie eifrig ihr Tagebuch benutzt – sie wird einen entsprechenden Eintrag zu meinem unsozialen Verhalten schreiben… als ob ich je behauptet hätte, sozial zu sein…
Und weil ich ein gutes Gedächtnis für solcherlei Dinge habe, fällt mir in diesem Moment ein Tag im Oktober ein, an dem ich mich tödlich über die hiesigen Unterrichtsverfahren aufgeregt habe, und um genau zu sein, war es der 15. Oktober. Der „Born to kill?“ Eintrag war das. An dem Tag habe ich noch während des Unterrichts meine Meinung schriftlich festgehalten und wurde deswegen von ihr vorwurfsvoll getadelt:
Pass gefälligst auf und schreib nicht in Dein blödes Tagebuch!
Würde ich nicht gerade im Unterricht sitzen, würde ich angesichts dieser paradoxen Situation laut lachen.
Sic transit gloria mundis!

Am Ende der Stunde erzählt uns Yamazaki-sensei, dass sich nächste Woche der Stundenplan geringfügig ändere. Wegen der vielen ausgefallenen Montage sei eine Umstellung beschlossen worden. Ich glaube, der Unterricht am Donnerstag wird durch einen „Montagsstundenplan“ ersetzt. Genau verstanden habe ich die Angelegenheit nicht, aber es gibt Leute, die ich deswegen befragen kann.

Der Unterricht von Sawada-sensei beschäftigt sich heute mit Kogin-Stickerei. Es handelt sich dabei um eine Kunstform in Tsugaru, die aus dem Verbot (während der Edo-Periode) entstanden ist, dass Bauern keine Kleidung aus Baumwolle, sondern nur aus Leinen tragen durften. Leinen ist nicht dafür bekannt, dass man daraus warme Kleidung machen kann, und wenn man im Süden wohnt, dann mag das nicht allzu schlimm sein, aber hier oben sieht die Sache anders aus. Es gab allerdings kein Gesetz, dass den Bauern die Verwendung von Baumwollfäden verboten hätte. Die Frauen von Tsugaru stickten also Baumwollfäden in die Leinenkleider ihrer Familien, um sie über den Winter zu bringen. Und zwar so viel davon, dass man das Leinen darunter kam noch erkennen, sondern nur noch stellenweise erahnen konnte. Wenn man ein Auge für solche Dinge hat, kann man in den erhaltenen Kleidern (und auch in neuen Handarbeiten aus Heimproduktion) sehr schöne Muster finden.

Die Aufgabe für heute: 5 x 15 cm2 Leinen selbst besticken. Ich soll sticken??? Na wunderbar. Ich brauche ja schon eine ewige Zeit, um den vermaledeiten Faden überhaupt durch das Nadelöhr zu pressen. Und wie soll das jetzt laufen? Ich verstehe die Arbeitsanweisung nicht, weil hier Bewegungsabläufe beschrieben werden, unter denen ich mir nichts vorstellen kann. Dr. „Dragon“ Chen kommt damit auch nicht wirklich klar.
Wenn Du das gut machst, überlege ich mir, ob ich mich von Dir operieren lasse“, sagt Sawada-sensei schmunzelnd.
Einen Blinddarm zu entfernen ist viel leichter als das hier!“ sagt Chen. Und während ich noch an der Vorlage herumrätsele, nach der wir das Muster eingeben sollen, sieht sie sich noch einmal seine Arbeit an und meint: „Ich glaube, ich lasse mich lieber nicht von Dir zunähen…

Natürlich machen hier alle Scherze über die Bemühungen der weniger Begabten. Chen bringt auf Anhieb nichts zustande, ich habe nach einer Stunde endlich die Grundlinie fertig (und es werden Fotos von meinem hochkonzentriert anmutenden Gesicht gemacht), und SangSu stickt ein arg abstraktes Bild von seinem Hund in das Stück Leinen. „Der ist weggelaufen, bevor ich nach Japan gekommen bin,“ sagt er, „und ich hoffe, dass er dadurch wieder zurückkommt.“ Und dann plappert er wieder drauf los, von seinem Hund, und davon, wie man Kitahara-sensei eine besondere Freude machen könnte, indem man „K.K.“ (für Kitahara Kanako) in das Leinen stickt. Er sorgt für allgemeine Belustigung.

Am Ende der Stunde muss ich mein mühsam zusammengepuzzeltes Werk wieder lösen, weil ich mich bei der Reihenfolge der Einstichlöcher verzählt habe. Als Hausaufgabe sollen wir es für die nächste Stunde fertig haben. Ich kann mir wirklich angenehmere Beschäftigungen für meine Mußestunden vorstellen. Und die Vorlagen gehen mir auf den Senkel… warum soll ich hier unbedingt reproduzieren, was andere bereits gemacht haben? Aber nein, wir dürften auch gerne individuelle Muster entwerfen, wenn wir uns kreativ genug fühlten, sagt Sawada-sensei. Na, dann weiß ich natürlich binnen 30 Sekunden, was ich mit meinem Stück Leinen mache… nein, ich werde nichtHentaiman“, „Black Death“, „der Extreme“ oder „42317“ in das Leinen sticken. ?

Habe ich heute Yui vergessen? Ich bin nach dem Unterricht sofort in die Bibliothek gegangen, anstatt erst in der Halle vorbeizusehen. Ich glaube aber zumindest, dass sie nicht angerufen hat, um zu fragen, wo ich bleibe. Und ich glaube das nur, weil ich bei meiner Beschäftigung am Computer für gewöhnlich Kopfhörer trage und Musik höre. Keine Chance für das Telefon.

Als ich am Abend vom Einkaufen zurückkomme, findet sich eine lohnende Tätigkeit fürs Wochenende. Jin Eiko ruft mich an und bittet mich in einem für mich geradezu peinlich langsamem Japanisch, am Samstag auf eine kleine Party des „Hippo Family Clubs“ zu kommen, zusammen mit Melanie. Ich solle um 16:30 am „Dotemachi Square“ sein. Die Uni hat diese Feierlichkeit nicht angekündigt, also gehe ich diesmal von einem wirklich kleinen Rahmen aus, also Gastfamilien und die zugehörigen Studenten.

Am Abend läuft im Fernsehen (wieder) ein Bericht über die Situation in Peking. Alles, was ich verstehe, ist, dass sich eine Handvoll japanischer Austauschstudenten wohl irgendetwas ungebührliches geleistet hat, was die chinesischen Gemüter so sehr erregt, dass 2000 Leute (hauptsächlich Studenten, wie mir scheint) auf die Straße gehen und lauthals demonstrieren. „Apologize! Apologize!“ brüllen sie. Auf Englisch. Damit die internationale Presse das auch versteht. Sie tragen auch Transparente in englischer Sprache, auf denen Parolen wie „Japaner raus!“ zu lesen und japanfeindliche grafische Darstellungen zu sehen sind. So langsam interessiert mich, was da los ist. Haben die Jungs an eine Mao-Statue gepinkelt? Oder eine ausschweifende Orgie gefeiert (wie die japanischen Geschäftsleute in Shanghai, was dieser Tage ebenfalls in der „Japan Times“ zu lesen ist)? Ich werde Sawada-sensei fragen, sobald ich dazu komme.

Die TV-Zeitschrift beinhaltet in dieser Woche einen Extrabericht über den von mir bereits beschriebenen „Tai Ginseng“. Da ist zu lesen, dass die Serie bereits seit 1969 existiert, mittlerweile mit dem fünften Hauptdarsteller, und bis etwa 1993 wurde sie in Schwarzweiß gedreht!? 1000 Episoden gibt es davon inzwischen, und aus diesem Grund soll demnächst ein „Movie Special“ gezeigt werden. Ich frage mich, wie man dieses Konzept 1000 Episoden lang durchhalten kann. So viel Abwechslung kann es doch nicht geben… man müsste ja annähernd ebenso viele verschiedene Berufe auffahren, für die Leute, die gerettet werden sollen. Aus den Fängen gieriger Feudalherren. Gibt es davon eigentlich so viele? Immerhin sehe ich, dass andauernd Samurai gemaßregelt werden, die mindestens aus der „mittleren Führungsebene“ stammen, wie man sagen könnte. Die Position der gezeigten Gegner scheint mir jeweils in die „Top 5“ des jeweiligen Clans zu gehören. Wie viele gab es davon?

Übrigens ist die Ninja-Xena in dem Lack-Leder-Polyester-Dress bereits seit Anfang der Achtziger dabei (mindestens) und ist dieses Jahr 53 Jahre alt geworden. Sie dürfte damit das älteste Mitglied der Wandertruppe, dieser japanischen „Spezialisten unterwegs“ sein, denn der Hauptdarsteller ist deutlich jünger als sie. Sein Alter wird nicht angegeben, aber wenn man ihn ohne Schminke sieht, erkennt man ihn erst einmal nicht wieder und man würde ihn auf Mitte Dreißig schätzen.

Schreibe einen Kommentar