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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

14. April 2024

Mittwoch, 14.04.2004 – Beengte Verhältnisse

Filed under: Japan,My Life,Uni,Zeitgeschehen — 42317 @ 7:00

Mittwoch wird in diesem Semester der „Großkampftag“ werden, weil ich durchgehend Programm von 08:40 bis 16:50 habe. Und der Tag beginnt mit Yamazaki-sensei im Raum 415. Der Raum ist so klein, dass wir gerade so alle hineinpassen, nur die vier Stühle, die neben dem Lehrerpult stehen, sind noch frei.

Danach haben wir Unterricht bei Ogasawara-sensei, im selben Raum, und die Frau zieht für gewöhnlich mehr Publikum als Yamazaki. Außerdem mischen sich auch noch Misi und Nim unter uns, die eigentlich einen Level tiefer angesetzt sind. Schließlich muss einer der Koreaner den kleinen Schrank, in dem der Kassettenrekorder steht, als Schreibunterlage benutzen, weil alle Tische besetzt sind. Wir können nach kurzer Rücksprache mit der Uni-Organisation allerdings in den Raum 421 verlegen, in dem genug Platz für alle ist.
Im Anschluss gehe ich mit Nim einen Stock tiefer, um das zweite Wirtschaftsseminar von Kondô-sensei zu besuchen. Im Vorbeigehen deutet sie auf die Herrentoilette und sagt, dass sie bisher immer diese benutzt habe, weil ihr das Schild am Eingang nicht aufgefallen sei.

Der Unterricht bei Kondô-sensei ist schwach besucht. Misi und Nim sind da, die Koreanerin MunJu und meine Wenigkeit, und außerdem freue ich mich darüber, mit Mei einen Kurs zu teilen. Nur Kondô ist nicht da. Nach 15 Minuten gehe ich ins Center und frage nach. Der Stundenplan, der an seiner Tür hängt, beinhaltet einen Fehler – Kondô hat diese Stunde für Donnerstag eingetragen. Ich würde das in dieser Situation als „aufschlussreich“ bezeichnen. Ich rede mit Chiba-sensei, der meint, dass er sich darum kümmern werde. Wir sollten noch ein wenig warten.

Kondô trifft fünf Minuten später ein, entschuldigt sich für seinen Fehler und überrascht Mei damit, dass der Kurs auf Englisch gehalten werden wird (und sein schriftliches Englisch ist furchtbar – der „Rotary Club“ wird zum „Lottery Club“). Mei hat erst letztes Jahr begonnen, Englisch zu lernen, aber Kondô sorgt auch gleich für Entspannung in diesem Punkt: Er wird keinen Leistungsnachweis außer Anwesenheit verlangen und das Lehrbuch, das er verwendet (und kopiert hat), ist zweisprachig Japanisch-Englisch. In Folge dessen lässt er es abschnittsweise vorlesen. Ich hoffe, dass das nicht so bleibt und denke, dass das daran liegt, dass er für heute eigentlich nichts vorbereitet hat – das Buch kann man auch zuhause vorbereitend lesen. Sehr groß ist es nicht und die Sprache ist leicht verständlich. Nim liest den ersten englischen Abschnitt vor und Mei den japanischen. Und bei Mei spürt man die Macht von acht Jahren Unterricht in Japanisch: Sie zwitschert den japanischen Wirtschaftstext in einer Geschwindigkeit herunter, wie ich es mit der Londoner Ausgabe der „Financial Times“ nicht besser könnte. Beeindruckend.

Zuletzt habe ich Unterricht bei einem relativ jungen Lehrer, dessen leichter, aber vorhandener Akzent mir gleich verdächtig vorkommt: Der Mann heißt Hugosson und stammt aus Schweden. Er ist seit 1992 in Hirosaki. Sein Thema ist „Public Policy“, und nachdem wir die Vorstellungsrunde hinter uns haben, versuchen wir uns an Definitionen für „Wirtschaft“ („Economy“) und „Organisation“. Anders als bei Kondô wird hier allerdings eine Abschlussklausur geschrieben. Die Themen in dem kopierten Lehrbuch sind nichts sagend bis abschreckend, aber der Diskussionsstil gefällt mir. Ich hoffe, dass das so bleibt.

Ich gehe in den Computerraum und finde leider keine Post von Frank vor, wie ich sie gerne haben würde. Als ich mit meinem Krempel fertig bin, gehe ich nach Hause. Melanie hat leider versäumt, „Nadia“ aufzunehmen… aber ich bin etwas zu müde, um diesem Umstand irgendwelche Emotionen entgegenzubringen. Ich sitze eher apathisch vor dem Bildschirm… ich weiß aber noch, dass währenddessen ein Bericht über eine Frau (in den USA) gesendet wurde, die 1977 entführt und während der kommenden sieben Jahre weitgehend in Kisten und ähnlichen Behältnissen gefangen gehalten worden war – bis auf die Zeiten nachts, wo sie mit Handfesseln an einen Balken gehängt und mit einem Gürtel verprügelt wurde. Als das keinen Reiz mehr hatte, wurde sie quasi als Arbeitssklavin gehalten und kümmerte sich um Haus, Garten und Kind – das Kind des Entführers. So was wollte ich jetzt natürlich nicht unbedingt sehen, eher was Entspannendes. Soll ich darüber jetzt denken: „Das war ein unnötig hell beleuchteter Extremfall!“ oder „Man soll die Augen nicht vor unangenehmen Realitäten verschließen!“?

Dann ist da ein 290-kg-Japaner, der in eine spezielle Klinik nach China verschifft wurde und dort binnen vier Monaten 140 kg Gewicht verlor. Die Lösung: Maßvolles Essen und regelmäßige Bewegung.

Zuletzt läuft eine neue Serie an, über ein Ehepaar, dessen kleiner Sohn Autist ist. „Hikaru“ ist sein Name und der Name der Serie. Und jetzt weiß ich, dass „Autismus“ auf Japanisch „Jiheishô“ heißt – ob ich das mal brauche, ist allerdings was Anderes. Es bedeutet in etwa „Krankheit, bei der man sich selbst (vor seiner Umwelt) verschließt“. Yamaguchi Tatsuya (TOKIO) spielt die Hauptrolle als Vater des Jungen.
Das ist mir zu dramatisch… die Schwiegermutter macht natürlich die Mutter des Jungen für die Umstände verantwortlich, der Junge macht lauter Nonsens (wie zum Beispiel den Inhalt sämtlicher Schubladen auf den Boden zu werfen), und es fließen viele Tränen der Verzweiflung. Das muss nicht sein. Nicht ausgerechnet am Abend nach dem längsten Unitag der Woche, wenn ich leichte Unterhaltung brauche.