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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

16. April 2024

Freitag, 16.04.2004 – One more time

Filed under: Japan,My Life,Spiele,Uni — 42317 @ 7:00

Der erste Unterricht heute ist ein Kulturseminar über „die Bedeutung von Reis in der japanischen Gesellschaft“ unter der Leitung von Kuramata-sensei. Er bespricht zuerst die Themen und erläutert dann die „Sondertermine“, also wann der Unterricht ausfällt und wann wir irgendwelche Ausflüge machen. Problematisch an diesen Ausflügen wird sein, dass sie sich zeitlich mit dem nachfolgenden Japanischkurs überschneiden könnten. Ich habe allerdings kein Problem damit, für eine Exkursion Unterricht zu verpassen. Ich bin sicher, Ogasawara-sensei wird dafür Verständnis haben.
Wir sehen auch die Aufzeichnungen des Erstversuchs dieses Seminars vom Wintersemester 2002/2003. Es sind Fotos dabei und wir sehen darauf neben Dave auch Stefan und Hans beim Reiskochen in der Abteilung für Hauswirtschaft. JP erscheint auf dem Bild von einer Exkursion.
Der anschließende Unterricht bei Ogasawara-sensei läuft in den üblichen, entspannten Bahnen.

Danach habe ich frei und schreibe den Bericht zum 09.04.2004, aber das Versenden will nicht hinhauen. Mein Adressbuch wird als Quelle von Empfängern nicht erkannt und ich kenne die 80 Adressen nicht auswendig, um sie von Hand einzutragen – ganz zu schweigen von der Mühsal, die ich mir damit machen müsste. Dann kann diese Angelegenheit auch noch bis morgen warten.

Kazu setzt sich neben mich und brütet über einer Literaturliste von Professor Philips, die auch die wildesten Gerüchte um Listen von Frau Professor Scholz in den dunkelsten Schatten stellt. Die txt-Datei hat knapp ein Megabyte Datenumfang (txt!!), in ein Word-Dokument übertragen ist die Liste 505 Seiten lang (bei „Times New Roman 11“) und enthält nicht weniger als 10.000 Titel. Und das nur zum Thema „Afrikanische Musik“??? Philips muss komplett irre sein. Ich werfe einen Blick in die Liste und entdecke Titel in jeder mir bekannten Sprache. Ich bin sicher, dass Kazu mit japanischen und vielleicht auch englischen Titeln am meisten anfangen könnte und dass diese Beschränkung die Liste auch deutlich kürzer gemacht hätte. Sie hat bis Dienstag Zeit, aus dieser Liste eine Auswahl für ihre Arbeit zu treffen. Sie erzählt, dass sie im Oktober wirklich gerne nach Deutschland gehen möchte, aber es gebe noch Unstimmigkeiten mit der Krankenversicherung, da sie einen empfindlichen Magen und entsprechende Medikamentenrechnungen habe.

Um 17:55 gehe ich mit ihr gemeinsam zu der für heute angesetzten „Welcome Party“, und ich habe mich nicht für eine Vorstellung gemeldet. So groß ist der Kreis der neuen Studenten nicht, und außerdem hat Marc bei der Organisation durchgesetzt, dass nicht wir etwas bieten müssen, sondern dass in erster Linie wir von „Vertretern“ des Gastgeberlandes etwas geboten bekommen sollten.
Für die Organisation wurde wohl extra ein „Party Club“ an der Uni ins Leben gerufen, dessen Aufgabe und Sinn nicht darin besteht, die alkoholischen Wunschvorstellungen seiner Mitglieder umzusetzen, sondern größere Partys zu organisieren. Und das hat diesmal auch gleich viel besser geklappt als das letzte Mal.

Jeder Besucher erhält natürlich ein Namensschild, und auf diese Namensschilder sind Nummern aufgedruckt, so dass jeder eine Zufallsnummer zwischen 1 und 15 erhält. Ich habe die Nummer 13, und diese Zahl sollte alles andere als Pech verheißen. Die erste Aufgabe ist es, Leute mit der gleichen Nummer zu suchen. Ich werde von BiRei gefunden – das war schon mal ein guter Treffer – und wir machen eine Runde durch den Raum, bis wir unsere Genossen gefunden haben. Unter diesen befinden sich Mei, Saitô-san und Sawada-sensei. Daneben sind noch zwei mir nicht bekannte Japanerinnen in der Gruppe, sowie ein Professor der Physik um die sechzig. Aber ich stelle bald fest, dass die Gruppenbildung eine sehr untergeordnete Bedeutung hat. Natürlich soll man ins Gespräch kommen, aber soweit es mich betrifft, kommt es dazu gar nicht. Zuerst mal wird gegessen, und diesmal ist etwa doppelt so viel Nahrung vorhanden wie beim letzten Mal. Als ich gerade eigentlich satt bin (aber immer noch was essen könnte), fallen mir meine Stäbchen auf den Boden und Ersatz scheint es keinen zu geben, also bewahrt mich das Schicksal so davor, mich an den äußerst schmackhaften Hühnerschenkeln (Unter- und Oberschenkel getrennt) zu überfressen.

Ich erspähe irgendwann den Sohn von Sawada-sensei aus dem Augenwinkel. Ich sehe ihn nicht zum ersten Mal, und wie üblich ist er auch diesmal in seiner Schuluniform erschienen. Wie es scheint, also bereits Oberschüler[1], aber für sein Alter deutlich zu kurz geraten, schlank, dunkelblond, aber mit einem Gesicht, dass man keinem der beiden in ihm enthaltenen ethnischen Einflüsse zuordnen kann. Meine Fähigkeit zur Einschätzung von Menschen anhand ihres Äußeren ist sicherlich nicht die beste, aber der Junge hier macht nicht nur heute, sondern eigentlich ständig (da ich ihn ja nur auf Veranstaltungen sehe) einen äußerst verkrampften Eindruck. Wie soll ich das beschreiben? Er sieht aus, als ob er in jeder Sekunde mit einem Angriff rechne und gleichzeitig bemüht sei, einen selbstsicheren und unangreifbaren Eindruck zu machen. Was ihm nicht gelingt, nach meinem Ermessen. Er verzieht sich auch sehr bald in eine Ecke und bleibt dort sitzen, hin und wieder von seiner Mutter „besucht“. Gut, es kümmert sich auch sonst keiner um ihn… und ich wüsste ebenfalls nicht, was ich kommunikativ mit ihm anfangen sollte. Außerdem erhalte ich nicht viel Gelegenheit, weiter über ihn nachzudenken.

Nach dem Essen beginnt das Unterhaltungsprogramm, allerdings muss ich gestehen, dass ich sehr wenig davon mitbekomme. Da wird der „Arielle“ Soundtrack „Unter dem Meer“ karibisch echt auf Klangfässern gespielt, ein sehr ausgelassener Tanz aus Hokkaidô wird vorgeführt, Irena singt ein Lied (und man merkt, dass sie Übung hat), und auch ein Gruppenspiel wird gespielt. Jetzt kommt die Gruppenbildung zu ihrer Bedeutung!
Zuerst wird rotes und weißes Kartonpapier im Format A4 ausgeteilt. Auf einer Leinwand werden dann zwei Fotos gezeigt, worauf je ein Vertreter eines Staates hingeht und eine der beiden Darstellungen beim Namen nennt. Marc zum Beispiel hat den Begriff „Berliner“. Auf einem der Bilder ist eine Schildkröte dargestellt (wofür man das weiße Blatt hochhalten soll) und auf dem anderen drei frittierte Krapfen mit Marmeladenfüllung[2] (wofür man das rote Blatt heben soll). Und so geht das über etwa zehn Versuche. Die Gruppe, die am Ende alles richtig geraten (oder gewusst) hat, bekommt einen kleinen Preis. Gleich zu Beginn hat man mir die beiden Blätter in die Hand gedrückt und die Entscheidungen völlig mir überlassen, anstatt sich abzusprechen, wie eigentlich geplant. Aber natürlich ist das Konzept arg seltsam, denn im Grunde wird ja geraten. Ich habe zweimal falsch geraten, weil ich ein thailändisches Chiligericht begrifflich nicht von thailändischem Tanztheater unterscheiden kann, und auch die slowenischen Begriffe für Schneemann und Feiertagsschmuck kann ich nicht auseinander halten. Immerhin habe ich die chinesische Mikrowelle richtig geraten, und das einfach aufgrund der Tatsache, dass sich die erste Silbe des chinesischen Wortes recht ähnlich anhört, wie die erste Silbe des japanischen Begriffs.

Kaum, dass ich mit dem Essen fertig bin, geht der Andrang, der Sturm wissbegieriger Einheimischer auf die Ausländer, auch schon los. Oh, drei männliche Japaner? Das ist selten. Und ich verstehe auch am Ende des Abends, warum ich lieber mit Frauen verkehre. Die drei stellen nur die üblichen Fragen und ich versuche mit Händen und Füssen, sie zu beantworten – aber ich verstehe kaum, was die drei (bzw. der Wortführer) sagen. In Ordnung, die Musik ist relativ laut, aber die Jungs reden undeutlicher, als mir lieb sein kann. Wenn ich mit Frauen rede, habe ich im Allgemeinen nur Probleme mit den Vokabeln, aber bei den dreien hier kommen auch noch Verständnisschwierigkeiten wegen der Aussprache dazu.

Als die dann nach etwa 30 Minuten wieder abziehen, steht auch schon die erste Japanerin in der Warteschlange. Ihr Name ist Yumi und ich wiederhole mit ihr quasi das gleiche Gespräch, das ich gerade eben geführt habe, mit dem Unterschied, dass ich weniger Wörter nachfragen muss, weil sie eine verständliche Aussprache besitzt. Und kaum ist Yumi zum nächsten Ausländer abgewandert, kommen auch bereits die nächsten beiden zu mir, die sich bald auf drei aufstocken. Die drei studieren Medizin und sind bereits ausgebildete Krankenschwestern, jeweils 21 Jahre alt. Zu den dreien kommen gegen Schluss noch einmal drei (Krankenschwestern) dazu. Ich habe mir nicht alle Namen gemerkt, außer Fukushima (weil „Glücksinsel“ ein interessanter Name ist)[3] und Saori, die aus Tokyo stammt. Sie sagt, die Universitäten in Tokyo könne sie sich entweder nicht leisten oder aber sie habe die Eingangsprüfung nicht geschafft. Die Universität von Hirosaski habe einen soliden Ruf, was die Medizin betrifft, und sowohl die Finanzfrage als auch die Eingangsprüfung seien für sie schaffbar gewesen. Natürlich sei Hirosaki etwas langweilig im Vergleich zu Tokyo, aber sie wolle Bezirkskrankenschwester werden. Sie wohne direkt beim Book Max (in der der gleichen Straße wie Misi) – was natürlich kein Vergleich zu dem Apartment direkt an der Rainbow Bridge sei, wo sie während ihrer Schulzeit gewohnt habe.

Währenddessen singt Irena gerade und Saori fragt mich, wo sie herkäme.
„Aus Slowenien“ sage ich.
„Ist das nicht in der Nähe von Russland?“ fragt sie zurück.
„Ganz Europa liegt in der Nähe von Russland“, antworte ich amüsiert, „aber Slowenien liegt gegenüber von Italien auf der östlichen Seite des Adriatischen Meeres und nicht direkt neben Russland.“
Und dieses Gespräch läuft im Großen und Ganzen sehr flüssig ab (bis auf meine Vokabelsuche und Umschreibungen für unbekannte), was meine Meinung über männliche Studenten keinesfalls weiter hebt. Zum Schluss bitte ich Nim darum, ein Foto von mir mit den Krankenschwestern machen zu lassen, hinter denen ich wie ein Turm herausrage. Vielleicht hätte ich mir eine Mailadresse geben lassen sollen, damit sie auch was von dem Foto haben. Ich könnte in der medizinischen Fakultät ja mal nach Fukushima fragen.[4] So viele kann es davon doch in diesem begrenzten Suchgebiet nicht geben.

Der Dominik und die Sieben, äh, Sechs Krankenschwestern.

Und dann wird auch schon zusammengepackt. Ich ziehe schließlich mit Mei und BiRei ab, weil ich Kazu (die einer anderen Gruppe zugeteilt worden war) aus den Augen verloren habe. BiRei biegt in Richtung der Shimoda Heights I ab, Mei liefere ich an ihrer Haustür ab. Damit sehe ich das „Männer verboten!“ Wohnheim zum ersten Mal live und aus der Nähe. Mei bestaunt mit offenem Mund, dass es in Deutschland völlig normal ist, dass Männer und Frauen nebeneinander auf dem gleichen Gang wohnen, und zwar ohne, dass es deshalb zu einer Geburtenexplosion kommen würde. Ich verstehe ihre Überraschung nicht wirklich gut, da ja auch im Kaikan solche „Verhältnisse“ herrschen.

Ich gehe noch Getränke kaufen und dann nach Hause. Ich lese das Buch des Ehepaars Seagrave zu Ende und befreie den Latour, „Kampf dem Terror – Kampf dem Islam?“, schon mal aus seiner Plastikverschweißung. Ich wusste gleich, dass das Buch der Seagraves nicht lange halten würde.


[1]   Korrekt ist, dass auch die meisten Mittelschulen Uniformen haben.

[2]   Menschen aus Berlin nennen die Dinger „Pfannkuchen“.

[3]   Nach dem Tsunami mit anschließendem Reaktorunglück hat dieser Zufall eine gewisse Ironie.

[4]   Ist leider nicht geschehen.