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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

21. April 2024

Mittwoch, 21.04.2004 – Sakura no Kisetsu[1]

Filed under: Japan,My Life,Uni — 42317 @ 7:00

Der strahlende Sonnenschein bringt die Kirschblüten derzeit besonders gut zur Geltung, aber es weht auch ein recht starker Wind. Die Blüten beginnen daher bereits zu fallen. Inzwischen ist mir auch klar, was japanische Kirschbäume von ihren deutschen Vettern unterscheidet: In Japan kommen die Blüten vor den Blättern zum Vorschein – das Ergebnis aufwändiger Züchtungen. Allerdings ist in der „Japan Times“ zu lesen, dass die Bäume genau deshalb binnen der kommenden Jahre aussterben könnten. Durch die extreme Überzüchtung sind die Bäume viel anfälliger für Krankheiten und Schädlinge.

Yamazaki beginnt den Tag mit einer Konstruktion, die die direkte Folge einer Handlung ausdrückt.
„Naite-ita Kodomo ga rambô-shita totan ni o-Kaa-san wa soto ni okimashita.“
„Als das heulende Kind gewalttätig wurde, stellte die Mutter es nach draußen.“
Nur einer meiner üblichen Beispielsätze.

Ogasawara-sensei hat einen neuen Raum organisiert. Aber während der letzte zu klein war, ist dieser hier viel zu groß. Es ist ein Hörsaal mit einem Volumen von 120 Leuten – für 15 Kursteilnehmer ein wenig zu geräumig. Misi und Nim sind heute zudem nicht erschienen. Nim fühlt sich nicht gut, aber wie ich Misi kenne oder zumindest einschätze, wird er überhaupt nicht mehr erscheinen. „Regeltechnisch“ kann er auf den Kurs verzichten, aber vor allem müsste er sich dieses nicht ganz so billige Lehrbuch kaufen, das unsereins noch vom letzten Semester besitzt.

Die Mittagspause verbringe ich im Center, abgesehen von einem Ausflug zur Post, und ergehe mich mit Mei in englisch-japanischer Konversation, da sie ihren Plan, ihr Englisch zu verbessern, trotz des nicht allzu erfolgreich verlaufenen Kurses im letzten Semester, nicht aufgegeben hat. Sie stellt mir eine weitere Studentin ihrer Heimatuniversität vor, die Anfang April eingetroffen war. Ihr Name liest sich auf Japanisch „Jin Shoku“, aber das klingt für mich wie „Ninniku“ („Knoblauch“), außerdem hört sich das so hart an wie ein Kantholz auf dem Schädel. Dann verbleibe ich bei der in diesem Fall relativ einfachen chinesischen Version: JinShu.
„Der hat Deinen Namen nächste Woche wieder vergessen…“ sagt Mei und lacht. Oh nein, nicht den Namen – ich werde ihr Gesicht nächste Woche bereits nicht mehr erkennen, sofern ich sie nicht in der Zwischenzeit noch einmal bewusst wahrnehme. Mei erzählt mir außerdem, dass es in China keine Zeitzonen gebe, sondern dass alle Uhren nach der Zeit in Peking liefen, also auch an der Grenze zu Kasachstan. Das würde ich einen ausgeprägten Zentralismus nennen. Und es erinnert mich doch direkt an die Episode von „Don Camillo und Peppone“, in der der Bürgermeister den Entschluss fasst, die Uhren im Dorf nach Moskauer Zeit laufen zu lassen, um damit seine Solidarität mit der „großen Sache“ zum Ausdruck zu bringen.

Kondô-sensei redet heute über die Verteilung von Sparvermögen und über die verschiedenen wichtigen Einrichtungen in Japan, die den Finanzmarkt kontrollieren. Dabei ist die japanische Postbank besonders hervorzuheben. Es handelt sich dabei um eine staatliche Einrichtung[2] und die Konten dienen der Regierung öfters als „zweiter Haushalt“, falls hier und da mal ein Loch gestopft werden muss. Natürlich gibt es einige Stimmen, die dagegen protestieren, und es scheint, dass seit der Krise von 1997 immer mehr Sparer und Anleger ihr Geld lieber im Ausland investieren.
Kondô gibt das Procedere, den Text während des Unterrichts vorlesen zu lassen, vorerst nicht auf. Er lässt aber auch immer Leute (den englischen Teil) vorlesen, von denen er der Meinung ist, sie bräuchten etwas Übung – heute muss SangSu dran glauben. Mir scheint, ich werde eine gemütliche Zeit hier verbringen.

Hugosson bleibt bei seinem Diskussionsstil (was auch recht einfach ist mit nur drei bis vier Studenten) und stellt sein Modell von Wirtschaftssektoren oder –faktoren vor. Seine Dissertation, um genau zu sein. Wirtschaftliche Unternehmungen seien privat oder öffentlich, auf finanziellen Gewinn oder sozialen Nutzen ausgelegt, und entweder fest organisiert oder nur ein lockerer Verbund von Leuten. Dazu fragte er eingangs, wie wir denn „Gesellschaft“ („society“) in Untergruppen aufteilen würden. Ich verstehe darunter eine Ansammlung von historisch, kulturell oder anderweitig verbundenen Individuen, die sich durch die Definition des gemeinsamen Nenners ihrer Werte von anderen Gruppen/Gesellschaften abgrenzen, daher gefällt ihm meine Antwort nicht. Er wollte eben auf „Privat vs. Öffentlich“ hinaus, und das sind für mich Untergruppen im Bereich „Wirtschaft“ und nicht „Gesellschaft“. Aber man kann wohl auch sagen, dass eine Gesellschaft aus öffentlichen und privaten Teilen besteht. Er redet über NPOs (Non-Profit Organizations) und sagt, dass der Erlös solcher Körperschaften nicht akkumuliert, sondern in Dinge investiert werden müsse, die der Gruppe zu Gute kämen, wie z.B. einen neuen Teppichboden, einen Computer oder ein Gemeinschaftsfahrzeug. Ich frage, ob man das Geld auch in eine gemeinsame Urlaubsreise investieren könne und er lacht. Ich solle Anwalt werden, sagt er, da genau an dieser Stelle der Schwachpunkt der Definition liege. NPOs zahlen außerdem für gewöhnlich keine Steuern und es gibt natürlich Organisationen, die diesen Umstand entsprechend ausnutzen möchten.
Nach dem Unterricht unterhalten wir uns über dies und das und Hugosson erzählt, dass er Offizier bei der schwedischen Marine gewesen sei. Das ist zumindest nicht uninteressant.

Der heutige Marathon ist also vorbei und ich gehe in die Bibliothek. Im Netz ist nicht viel los, und viel Zeit habe ich eigentlich auch nicht. Ganz zu schweigen von meiner nicht vorhandenen „Aktionsbereitschaft“. Da kommt nämlich Valérie zu mir und sagt, dass ab 18:00 eine Hanami[3]-Party stattfinden werde. Ich weiß, dass ich was verpassen werde, aber ich lehne das Angebot ab. Ich bin zum Umfallen müde und einen Bericht will ich ja auch noch geschrieben kriegen. Um 18:30 gehe ich dennoch für eine Stunde zum Sport. Das gibt mir sozusagen den Rest und ich falle um zehn Uhr ins Bett.


[1] Die Zeit der Kirschblüte

[2] Dieser Zustand wurde auf Betreiben des Premierministers Koizumi anno 2006 behoben. Die japanische Postbank ist seitdem zumindest teilweise privatisiert. Koizumi schuf sich damit ein politisches Vermächtnis und trat zurück – angeblich um das bedeutendere Vermächtnis einem Nachfolger zu überlassen: die dringend notwendige Rentenreform.

[3] Blütenschau