Vor der Ostseeküste
Am 5. August 2013 starb mein Großvater. Ich nahm das mit Fassung, denn immerhin hatte ihm der Tod zu diesem Zeitpunkt ein längeres Verweilen im Demenzpflegeheim erspart. Meine Großmutter verblieb dann allein dort – und vertrat in der Folgezeit die Meinung, dass ihr Mann wegen seines Blinddarms vorübergehend im Krankenhaus sei. Ich hatte die beiden dann und wann besucht und ich kann dem geneigten Leser sagen: Wenn man sich als geistig halbwegs gesunder Mensch dort aufhält – und mein Großvater war von Demenz nur im frühesten Stadium berührt – dann ist eine solche Station gleichzusetzen mit einem Vorhof zur Hölle. Unverständlich brabbelnde Menschen, die scheinbar grundlos ihren Oberkörper rhythmisch vor- und zurückbewegen und dabei ihren Brei wieder von sich geben, Menschen, die nicht wissen, wo sie sind, andere, die nicht mehr wissen wer sie sind, eine Dame über siebzig, die nur in Unterwäsche gekleidet in den Aufenthaltsraum kommt, um die Pflegerin zu fragen, was sie denn anziehen solle, dazu der konstante Geruch von Desinfektionsmittel und Inkontinenz, und zuletzt eine weitere Dame im fortgeschrittenen Alter, die dem Besucher Komplimente wegen seines stattlichen Äußeren macht und ihn fragt, ob er nicht mal auf ihr Zimmer kommen wolle, bis das surreale Gespräch von einer anderen Pflegerin unterbunden wird. Immerhin diese letzte Facette war noch irgendwie unterhaltsam.
Mein Großvater hatte das letzte Jahr seines Lebens in dieser Vorhölle verbracht, und es gibt noch einige Zeitgenossen, die sagen, dass er das irgendwie verdient hätte. Er war wohl nicht der erträglichste Mitmensch gewesen, hatte sich aber den allergrößten Teil seines Lebens zumindest mir gegenüber korrekt und liebenswürdig verhalten. Die Menschen, mit denen man aufwächst, genießen immer einen gewissen Vertrauensvorsprung und ich habe meinen Großvater so geliebt, wie das wohl für einen Enkel normal ist. Ich war erst in den letzten wenigen Jahren tiefer in seine Vergangenheit eingetaucht, über die er beharrliches Stillschweigen hielt, während gleichzeitig ein sich immer deutlicher bemerkbar machender Starrsinn einen spürbaren Schatten auf unser Verhältnis warf. Vielleicht werde ich irgendwann auch darüber schreiben, aber zuerst muss noch etwas Zeit vergehen.
Am 5. August 2013 war er an inneren Blutungen gestorben. Wegen eines Schlaganfalls und mehrerer Herzinfarkte und anderer Altersleiden war eine Handvoll Pillen bereits seit etwa zehn Jahren fester Bestandteil seines Frühstücks gewesen; dieser Medikamentenmix hatte zu Magengeschwüren geführt, die in der Vergangenheit bereits zweimal zu Blutungen und einmal beinahe zu seinem Tod geführt hatten. Diesmal war es wohl zu spät bemerkt worden. Er war wegen andauernder Übelkeit ins Krankenhaus eingeliefert worden, aber zur angedachten Magenspiegelung kam es nicht mehr. Damit starb er etwa so, wie es ihm seine Feinde möglicherweise gewünscht hatten: Allein und ohne vertrauten Begleiter auf einer Bahre im sterilen Flur eines Krankenhauses. Dabei hatte er die meisten seiner Feinde überlebt.
Für den Fall seines Todes hatte ich von ihm selbst mündliche Anweisungen über das Verfahren seines Abgangs erhalten. Er wünschte einen Leichenschmaus mit allen Bekannten und Verwandten – mit Ausnahme freilich seiner Tochter, der er mangelnde Pietät unterstellte, und alle meine Einwände, dass die faktischen Ereignisse, auf die er sich dabei bezog, nicht mit seiner Vorstellung übereinstimmten, wischte er beiseite. Er war niemand, der von einer vorgefassten Meinung wieder abrückte. War dies doch gleichzusetzen mit dem Eingeständnis eines Fehlers, und dafür mangelte es ihm an innerer Größe. Das kann man ganz sachlich so festhalten.
Der interessanteste Teil seiner Wünsche war aber der, dass er keineswegs beerdigt werden wollte – er wünschte, dass seine Asche im Meer versenkt werde und dass ich dies selbst tun solle.
Ich telefonierte mit verschiedenen Stellen: Mit der Pflegedienstleitung wegen der Unkosten, für die ein Vorsorgefond eingerichtet worden war, dessen Verwendung jedoch vom Pflegedienst freigegeben werden musste, und mit dem Bestatter, der mich an einen Kollegen am Timmendorfer Strand weiterleitete. Seebestattungen in der Nordsee sind aus irgendeinem Grund teurer als solche in der Ostsee, und der Großvater hatte das Meer nicht näher definiert. Also Ostsee. Im Laufe mehrerer Tage kamen wir überein, dass die Bestattung am 2. September stattfinden solle. Ich begann, die Zugfahrt zu planen.
Gleichzeitig telefonierte ich in der Verwandtschaft herum (die streng genommen die Verwandtschaft meiner Großmutter war, da mein Großvater aus einem Waisenhaus gekommen war und nie irgendwelche Verwandte erwähnt hatte, obwohl Gerüchte von einer Halbschwester berichteten) und solchen Stellen, bei denen ich freundlich gesinnte Bekannte zumindest vermutete, also zum Beispiel mit den Gersheimer Nachbarn, die mit Einkaufsfahrten und ähnlichem ausgeholfen hatten, dem ehemaligen Dirigenten des Musikvereins “Harmonie” in Gersheim, wo er über dreißig Jahre lang Mitglied gewesen war, sowie mit jedem, dessen Telefonnummer ich habhaft werden konnte.
Das Ergebnis war ernüchternd. Ein älteres Ehepaar teilte mir mit, dass sie auf Grund ihres fortgeschrittenen Alters nicht mehr Autofahren könnten, luden mich aber ein, jederzeit bei ihnen vorbeizukommen, da sie mich zuletzt gesehen hatten, als ich noch keine Zehn war. Der Dirigent verwies auf die für den selben Tag angesetzte Taufe seiner Enkelin, die seine (mir ebenfalls bekannte) Tochter just vor wenigen Tagen geboren hatte, versprach jedoch, im Laufe des Tages mit anderen altgedienten Vereinsmitgliedern zu telefonieren. Aber niemand zeigte Interesse.
Am Ende sagten ein Nachbarsehepaar, die Schwester der Großmutter, sowie meine Freundin zu. Leichenschmaus zu fünft unter Ausschluss der eigenen Tochter? Ich telefonierte noch einmal rum, bedankte mich für das Interesse und sagte dem Bestatter die Raumreservierung ab. Es kam mir unwürdig vor, wenn das alles gewesen sein sollte, selbst wenn man bedenkt, dass viele Menschen aus seinem sozialen Umfeld bereits tot waren.
Die Großtante kaufte in ihrer Kirchengemeinde die Lesung einer Fürbitte, um so dem Seelenheil des Verstorbenen unter die Arme zu greifen, dabei hatte mein Großvater religiöses Verhalten immer verachtet. Religion war für ihn eine Methode ihrer Würdenträger, ihm Vorschriften darüber zu machen, wie er sein Leben zu gestalten habe. Es gab wenig, auf das er allergischer reagiert hätte, als auf Einschränkungen seines doch eher eigennützigen Willens.
Generell gewann ich den Eindruck, dass die Großtante nie verstanden hatte, mit wem sie es zu tun hatte, beschwerte sie sich doch bei der Offenbarung der Bestattungswünsche ihres Schwagers (sie erfuhr durch den Pflegedienst davon), dass sie sich das gar nicht vorstellen könne; sie gab aber auf, als die Pflegedienstleitung einwandte, dass es zwar keine schriftliche Willensbekundung diesbezüglich gebe, dass aber wohl auszuschließen sei, dass ich mir das alles einfach so ausdachte. Mein Großvater machte aus seiner Vergangenheit ein großes Geheimnis, und scheinbar wünschte er sich, in ein ebensolches Dunkel spurlos zu verschwinden.
Was blieb, war die Vorbereitung der Fahrt an den Timmendorfer Strand. Da ich kein Auto hatte, musste es die Bahn sein, und da hatte ich gewissermaßen Glück, weil ich ohne umzusteigen an einem Stück zumindest nach Hamburg rollen konnte, umsteigen nach Lübeck, und von dort aus brauchte ich nur in eine Regionalbahn umzusteigen, die mich zu dem beliebten Urlaubsort brachte, und von dort ein Bus zum Strand. Die Urne selbst würde mit DHL dorthin gebracht werden und gewissermaßen auf mich warten. Eine Überführung in den Händen der Hinterbliebenen ist per Gesetz verboten.
Die Beisetzung war für halb Zwei festgesetzt, ich musste also in aller Frühe in den Zug steigen, wobei ich entweder drei Stunden zu früh oder etwas zu spät kommen würde. Letzteres musste ausgeschlossen werden, da Beisetzungen in dem dafür vorgesehenen Seegebiet scheinbar am Fließband ablaufen, eine Verspätung würde also eine Verzögerung für alle anderen Kunden bedeuten, die nach meinem Empfinden in ihrer Mehrheit mehr am Tod ihrer jeweiligen Angehörigen zu knabbern hatten als ich. Es kam in erster Linie darauf an, dass alle Verkehrsmittel pünktlich liefen und ich alle Anschlüsse erreichte. Für den Fall der Fälle hatte ich die Telefonnummer des Bestatters im Telefon eingespeichert.
Der Morgen des 2. September 2013 war nass, windig und kalt. Ich beschloss, in Alltagsklamotten zu reisen und mich im Augenblick der Wahrheit entsprechend umzuziehen, dazu besaß ich eine wasserdichte Hülle für meinen Anzug. Den Umständen entsprechend lief die Reise hervorragend: Alles lief glatt und ich erreichte drei Stunden zu früh die Strandpromenade, wo ich das Bestattungsunternehmen aufsuchte, um meine Anwesenheit zu melden. Da mich meine Arbeit die Woche über sehr beanspruchte und ich deshalb in der Regel bis Mittag schlief, war ich hundemüde und sah mich nicht dafür ausgerüstet oder körperlich in der Lage, bei dem miesen Wetter drei Stunden lang spazieren zu gehen. Ich fragte, ob man mir vielleicht einen Stuhl überlassen könne, damit ich nicht in den unangenehmen Regen hinaus müsse, aber die Anfrage wurde negativ beschieden, im Büro sei leider kein Stuhl frei und einen Warteraum gebe es nicht. Man wies mir den Weg zu einem nahen Café.
Es war nicht weit, ein paar Meter über die Straße – es würde allerdings erst gegen Mittag öffnen. Missmutig machte ich mich auf einen mehrstündigen Aufenthalt unter dem windigen und wolkenverhangenen Himmel gefasst und ging einfach die Straße hinunter. Nach wenigen hundert Metern dann erkannte ich an einer Ecke das allseits bekannte Symbol eines Arbeitsamts. Das ist doch ein irgendwie öffentliches Gebäude, also ging ich hinein, wunderte mich aber, dass es darin überhaupt nicht wie in einem Arbeitsamt aussah, zumindest nicht so, wie ich es kannte. Ich sprach die Damen am Empfang an und erfuhr, dass es sich nicht um ein Arbeitsamt, sondern um eine Seminaranstalt der Agentur für Arbeit handelte. Die auffällig gut gekleideten Kunden waren also keine Arbeitsuchenden, sondern Mitarbeiter auf Fortbildung. Am Timmendorfer Strand – nicht schlecht, Herr Specht. Ich schilderte den Damen meine Lage und sie erklärten sich bereit, mich auf der Couch im Eingangsbereich sitzen zu lassen.
Ich versuchte, die Wartezeit mit dem Gameboy zu verkürzen, aber meine Konzentration ließ ein erfolgreiches Spiel nicht zu. Ich stellte mein Handy auf 14:15 Uhr und schlief bald danach ein.
Um 13:45 Uhr klingelte mein Handy.
“Wo bleiben Sie denn? Sie sind schon eine Viertelstunde zu spät!”
Der örtliche Bestatter hatte meine Telefonnummer über den Kollegen in St. Ingbert herausgefunden. Ich sah noch halb benebelt auf die Uhr: verdammt. “14:30 Uhr” mit “halb Zwei” verwechselt, grandios. Ich bedankte mich bei den Empfangsdamen und flitzte los. Dann eben ohne Umziehen. Ich kam ziemlich außer Puste am Kai an, wo die Kapitänin mich erwartete und wir tuckerten auch sofort los.
Da war die Urne im vorderen Teil der einzigen Kabine aufgebahrt, während es gegenüber im hinteren Teil einen kleinen Tisch und drumherum Sitzgelegenheiten für sechs bis acht Passagiere gab (wir reden von insgesamt etwa 2×3 Metern). Aber ich war ja der einzige.
Man kann nicht sagen, dass sich Bestatter keine Mühe dabei geben würden, eine gute Dienstleistung für die wenigen Tausend Euro Gesamtkosten zu erbringen. Die Dame war ein wenig erstaunt, als ich ihr erzählte, dass mein Großvater nie etwas mit dem Meer zu tun gehabt habe und er eigentlich eher ein Berge-Typ gewesen sei, spielte aber dennoch in Abwesenheit eines klassischen Volksmusikstücks, die er ja alle geliebt und auswendig gekannt hatte, ein altes Seemannslied und verlas ein recht schönes Gedicht, ebenfalls mit maritimem Bezug, das Tod und Abschied mit der Metapher einer Reise über ein Meer beschrieb.
Als wir über dem festgelegten Seebestattungsfeld angekommen waren, wurde die Urne von der Kapitänin feierlich zu Wasser gelassen, mit dem Hinweis, dass sich die Urne im Wasser auflöse und keinerlei Abfall zurückbleibe. Den Aludeckel der Urne nahm ich dagegen als Erinnerungsstück an mich. Dann ließ sie mich allein an Deck zurück, während sie die Rückfahrt vorbereitete, und ich nahm mir die paar Minuten, um Abschied zu nehmen und unser Zusammenleben Revue passieren zu lassen. Es war ein melancholischer Moment, aber ich spürte keine Trauer. Ich hatte mich seit zehn Jahren seelisch und moralisch auf diesen Moment, der kommen musste, vorbereitet.
Interessanterweise wurde während dieser kurzen Seereise das Wetter besser und ein paar vereinzelte Sonnenstrahlen fanden den Weg hinunter zur Wasseroberfläche. Es wirkte fast ein bisschen versöhnlich.
Zurück an Land, ein Blick auf die Uhr: Ich hatte noch Zeit, bis der Zug nach Hamburg kam. Angesichts des besseren Wetters ging ich zu Fuß zum Bahnhof und kam letzten Endes genauso reibungslos zurück nach Hause, wie ich in den Norden gekommen war. Mein Lob also an die Deutsche Bahn. Hätte ich nur einen Anschluss an dem Tag verpasst, hätte ich Probleme gehabt, vom Bahnhof nach Hause zu kommen.