Gaytal Kamikaze (Teil 4)
Weitere personelle Veränderung: Der Bergmoll (Name geändert) geht ebenfalls nach Koblenz, womit nur noch Konrad am Band älter sein wird, als ich (die LKW-Fahrer rechne ich nicht zu den Leuten am Band, da sie eine andere Klasse von Kollegen darstellen, aber das ist eine rein subjektive Kategorisierung). Den Bergmoll werde ich schon vermissen. Klar, er ist ein Prolet, der sich gern mal aufregt und allgemein ein bisschen ungehobelt daherkommt, aber er ist allgemein ein guter Kamerad.
Dazu muss ich einschieben, dass ich einer japanischen Freundin letztlich beim Umzug geholfen habe und sie drückte mir ein Paar Arbeitshandschuhe mit gummierten Handflächen in die Hand. Das machte die Arbeit irgendwie effizienter und ich dachte mir noch, dass ich sowas eigentlich selbst gebrauchen könnte.
Just am Montag danach machte der Bergmoll die Runde und fragte, wer denn Interesse an eben solchen Handschuhen habe, er könne das Paar für einen Fünfer besorgen. Super Timing, ich gab ihm einen Fünfer und bekam gummierte Handschuhe, und die sind echt praktisch. Allerdings sind sie auch nicht sehr robust, da sich nach zwei Wochen die Gummierung an den Zeige- und Mittelfingern bereits abgerieben hatte und darüber hinaus bereits an einer Fingerspitze ein kleines Loch entstanden war.
Anfang der zweiten Oktoberwoche nun gab mir Mike eine Liste, auf der ich festhalten sollte, wer was für Arbeitskleidung braucht, um sich winterfest zu machen, da machte ich dann die Runde und der Bergmoll teilte mir bei der Gelegenheit mit, dass er nach Koblenz wechsele und er daher nicht mit auf die Liste komme. Der fröhliche Winzer war da nicht weit und fragte ihn grinsend: “Na, wirste uns vermissen?”
Ich hätte nun mit einem entsprechenden Spruch gerechnet, aber mit einem Gesichtsausdruck und einer Stimme, die völlige Aufrichtigkeit vermittelten, sagte er: “Das werd ich ganz bestimmt.” Ich war geradezu verblüfft.
Wie sei das denn eigentlich in Koblenz, fragte ich ihn.
Na ja, gab er zurück, die Arbeitsbedingungen seien schon irgendwie besser, man habe in der größeren Halle viel mehr Platz, aber hier in Trier sei die Stimmung einfach viel besser und der Umgang miteinander, sowohl unter Fahrern als auch und vor allem mit dem Büropersonal, sei wesentlich entspannter und freundlicher.
Der Bergmoll geht also und der Kurde wird “z.b.V.” für Gefahrgut und Frühdienste (also Acht-Uhr- und Zehn-Uhr-Expresse) und als “Springer” eingesetzt (als Ersatz, falls unerwartet einer ausfällt), und das bedeutet, dass neue Fahrer hermussten.
Das ist zum einen Knut (Name geändert) und zum anderen Bert (Name geändert). Knut, ich gehe davon aus, dass er Mitte 20 ist, scheint in Ordnung und irgendwie farblos, eine unauffällige Persönlichkeit, aber das kann ich nicht wirklich auf die Entfernung beurteilen, da er zu viele Leute weit bandabwärts und damit außer Kommunikationsreichweite steht. Bert dagegen übernimmt Bitburg, steht also direkt neben mir. Er stammt aus Nigeria, wanderte mit seinen Eltern nach England aus, von wo aus sein Bruder in die USA und er nach Deutschland ging. Bert ist 31 und hat eine kleine Tochter in der Grundschule.
Das heißt, dass er im Unterschied zu den allermeisten anderen Kollegen Englisch spricht und Mike machte bereits Witze, dass wir uns ja nun auf Englisch unterhalten könnten und keiner werde uns verstehen.
Bert hat früher beim DPD gearbeitet und noch nie vorbeirollende Pakete nach Postleitzahlen abgesucht, beim DPD macht man das scheinbar irgendwie anders. Er sieht jedenfalls nach den Ortsnamen und das kostet mehr Aufwand und Zeit, weswegen ich ihm rate, lieber die Zahlen im Auge zu behalten, was trotz unterschiedlicher Schriftgrößen auf verschiedenen Paketen einfacher ist. Dabei hat er doch nicht viele Zahlen, die er sich merken muss: 636 (Rittersdorf), 634 (Bitburg), 306 (Kordel), 655 (Kyllburg), 526 (Landscheid) und 529 (Spangdahlem).
Nach einer knappen Woche schien es mir allerdings, als kenne er meine Postleitzahlen (313, 298, 662, 666, 668, 669, 673, 675, 689, 649) bereits besser als seine eigenen, denn andauernd gibt er mir eines meiner Pakete in die Hand. Das muss ich ihm noch abgewöhnen, denn während seine Absichten natürlich gut und ehrbar sind, lenkt er mich damit mehr ab, als er mir nutzt. Wenn ich meine Augen mal nicht am Band habe, weil ich ein Paket nachscanne oder etwas Ordnung in meine Paketsammlung bringe, ist der Hinweis auf eines meiner Pakete wesentlich sinnvoller. Wenn ich sowieso am Band stehe, stört es mehr, als es nützt.
Um zu erfahren, mit wem ich es zu tun habe, unterhielt ich mich ein wenig mit ihm.
“Wo hast Du eigentlich diesen deutschen Namen her?”
“Das ist ein englischer Name, die gibt es in Nigeria.”
“Du stammst aus Nigeria? Aus dem Norden oder aus dem Süden?”
(Die Frage zielte indirekt darauf ab, ob er ein Moslem oder ein Christ ist, der Norden Nigerias ist moslemisch, der Süden christlich geprägt.)
“Aus dem Osten.”
“Aus dem Osten? Aus Biafra?”
Worauf er laut lachte. “Ja, aus Biafra. Woher kennst Du Biafra?”
“Vom Biafra-Krieg her. Ich hab darüber gelesen.”
Und wenn wir schon dabei waren, musste ich ihm noch die Meinung über Ken Saro-Wiwa sagen (den m.E. unsympathischsten Träger eines alternativen Nobelpreises, den man sich denken kann).
Von dem her, was ich bislang von Bert erfahren habe, würde ich sagen, dass er eine vernünftige Weltsicht und Arbeitseinstellung hat. Nur frage ich mich, was die beim DPD gewohnt sind, denn Bert erschrickt jedes Mal, wenn er 180 Pakete fahren muss, was auf der Bitburgtour nicht ungewöhnlich ist. Letztlich hatte er seine Feuertaufe mit “Wort und Bild”, was ihm über 250 Pakete bescherte. “Heute ist Katastrophe, heute ist Katastrophe…” betete er beim Laden seufzend vor sich hin – aber er schlug sich gut und brachte bei einem Feierabend um halb Acht (also nur wenig später als ich) nur vier Pakete wieder mit zurück.
Die Anzahl der Altenheime, die ich mit Material verschiedenster Art versorge, hat sich im Zuge der Gebietsumstellung auf drei erhöht: eines in Speicher, eines in Neuerburg und eines in Waxweiler, und die bieten zumindest oberflächlich einen interessanten Vergleich.
Das Altenheim in Speicher wirkt völlig langweilig auf mich. Es handelt sich um einen viereckigen Bau mit Innenhof, sodass die einzelnen Stockwerke eine Art Rundgang bilden. Aber der Gesamteindruck bleibt doch sehr eintönig, unterstützt durch die Farbgebung, die auf Schwarz und Weiß aufbaut.
Das Altenheim in Waxweiler dagegen wirkt auf mich wie ein Krankenhaus. Seine Struktur, mit einem Schwesternzimmer in jedem Stockwerk, vermittelt mir genau diesen Eindruck, nur dass die Zimmer wohnlicher aussehen, als ein in der Regel eher kahles Krankenhauszimmer. Aber es riecht darin auch wie in einem Krankenhaus, nach diesen Desinfektionsmitteln einerseits und hin und wieder nach altem Schweiß und Urin. In jedem so genannten Wohnbereich gibt es eine zentrale Räumlichkeit direkt am Treppenhaus und den Fahrstühlen, wo man gemeinsam sitzen und sich unterhalten kann, aber viele Leute wirken apathisch auf mich. Letztlich wurde dort eine Art Spiel gespielt, wobei eine Moderatorin die Leute aufforderte, gemeinsam alle Orte der Eifel zu nennen. Das kam mir vor wie ein zwanghaftes Animationsprogramm auf einer Kaffeefahrt. Und zu guter Letzt wird der Lieferanteneingang in der Regel abgeschlossen (d.h. die Türautomatik ist abgeschaltet), damit die Leute nicht unangemeldet das Haus verlassen.
Kommen wir nach Neuerburg, wo alles wieder anders ist. Der Lieferanteneingang und das Lager befinden sich an der Hausseite und ich gehe regelmäßig durch das Haus hinunter zum Büro, um mich anzumelden. Dort herrschen Erdfarben vor, es hängen Bilder in Holzrahmen an der Wand, ohne Glas und Chrom, die Unterhaltungen im Gemeinschaftsraum sind lebhafter, es riecht auch mal nach Essen ohne diese Reinigungsmittelbeimischung anderer Großküchen, und zwei Hunde gehören ebenfalls zu den Bewohnern (die dermaßen verwöhnt sind, dass sie keinerlei Interesse an gewöhnlichen Hundekuchen haben). Insgesamt könnte man meinen, man befinde sich in einer größeren WG, mit dem Unterschied, dass alle Wohnparteien Rentner sind.
Wenn ich schon mal in Neuerburg bin… ich komme dann kurz auf Stoffwechsel zu sprechen. Da ich mich nur im äußersten Notfall an den Straßenrand stelle, um meine Blase zu leeren, bin ich in erhöhtem Maße von dem Angebot zugänglicher Toiletten auf der Route abhängig. Eine befindet sich in Spangdahlem, vier in Neuerburg, und eine in Waxweiler. Man sieht, dass die Verteilung etwas ungleichmäßig ist, und gerade zwischen Spangdahlem und Neuerburg befindet sich ein Zeitraum von drei bis vier Stunden, den es zu überbrücken gilt.
Da kam ich also nach Neuerburg, lieferte im Krankenhaus etwas ab. Ich ging auf die Toilette, legte einen Riesenhaufen in die Keramik, und in dem Moment klopfte der Pförtner an die Tür und sagte, ich müsse mich beeilen, weil ein weiterer Lieferant die Rampe brauche. Ich sah also zu, dass ich fertig wurde, betätigte die Spülung – und ein besseres Rinnsal floß links und rechts an meiner Hinterlassenschaft vorbei, die sich strikt weigerte, nachzugeben. Ich schob das Gebilde mit Hilfe der Bürste in den Abfluss, spülte noch einmal, worauf alles verschwand, reinigte die Bürste, wusch meine Hände, stürmte ohne diese auch abzutrocknen nach draußen… und als ich vorbeikam, rief mir der Pförtner zu, dass sich die Sache erledigt habe. Na vielen Dank! Und dafür war ich einen Moment lang ins Schwitzen geraten!?
Was raus muss, muss raus, ganz klar, aber mich gerade in dem Moment zur Eile zu rufen, ist schlechtes Timing, zumal ich mengenmäßig immer gut dabei bin… ich habe schon im Depot bereits zweimal den Abfluss dicht gemacht, worüber sich die Putzfrau bestimmt nicht gefreut hat.
“Groß” ist auch ein Adjektiv, das auf so manchen Fernseher zutrifft und in diesem Monat stand ein Exemplar auf meiner Lieferliste, das so breit war, dass es nicht quer ins Auto passte. Ich stand also gerade ein paar Sekunden da und rätselte, wie ich das Ding transportieren sollte, denn (der Länge nach) hinlegen soll man die Dinger ja nicht, und der Länge nach hinstellen ist schwierig, weil irgendwann keine Pakete mehr da sind, um ein Umfallen in den Kurven zu verhindern. In dem Moment kam der Chef vom Depot vorbei und fragte mich “Brauchste Hilfe?”
Klar brauchte ich beim Einladen von dem Ding Hilfe, aber für einen Moment verwirrte mich die Intimität seines Angebots, denn man wird nicht einfach so vom R. geduzt (zumal ich Welten davon entfernt bin, ihm Herablasssung zu unterstellen). Er half mir also, das schwere Teil einzuladen und stellte ihn längs der Fahrtrichtung auf (eine Lösung für die Gefahr des Umfallens fand ich auch noch).
Eigentlich suchte er den Spangdahlemfahrer, und das war eben zufällig auch ich. Der Kurde vermisste ein Paket, dass er von mir bekommen haben müsste, aber ich hatte das nicht mehr. Aber ich erinnerte mich an den Empfänger und daran, wie das Paket aussah, und daraus konnte ich sicher ableiten, dass ich ihm das Paket ein oder zwei Tage zuvor auch gegeben hatte. Am Ende stellte sich heraus, dass der Kurde das Päckchen abgegeben hatte, ohne einen Kontrollscan zu machen (also beim Herausnehmen aus dem Wagen, bevor man es dem Kunden gibt), wodurch bei der Ausliefererfassung Daten gefehlt hatten, die ihm die Suche erspart hätten.
Noch kurz zu dem Riesenfernseher: Der ging nach Speicher und ich zeigte dem in diesem Moment mit einem Kunden telefonierenden Zwischenhändler den Lieferschein (ich habe schon Geräte ausgeladen und dann erfahren, dass es sich um eine irrtümliche Lieferung handelte), worauf der spontan laut lachte (und damit seinen Kunden verwirrte) und mir grinsend mit einer lässigen Handbewegung andeutete, das Ding reinzubringen, denn schließlich stand auf dem Lieferschein ja drauf, was das Ding wog. Ich setzte ein entsetztes Gesicht auf und schüttelte den Kopf. Ich trage keine 75 kg in diesem Format mal eben so durch die Gegend.
(Ist natürlich alles Schauspiel zur gegenseitigen Belustigung. Knapp 4000 E kostet so ein Ding übrigens.)
Und einen Audit hatten wir auch mal wieder, und diesmal sollte eine Fahrzeugkontrolle durchgeführt werden. Bereits im Vorfeld war darüber spekuliert worden, dass diese Teilprüfung wahrscheinlich mein Fahrzeug betreffen werde, weil ich derjenige mit der kleinsten Ladung und damit derjenige bin, bei dem die Sache am wenigsten zeitintensiv ist. Nach allgemeiner Auffassung würde also ein Fahrzeug beim Verlassen des Depots aufgehalten, auf einen leeren Stellplatz beordert und dort wieder ausgeladen, um die Ladung, also jedes Paket, einer Sicherheitsscannung zu unterziehen. Das soll scheinbar verhindern, dass Pakete an Bord sind, die da nicht hingehören, die man also der Ladung eines anderen Fahrers gestohlen haben könnte.
Und so lief es dann auch, wenn auch anders als gedacht – aber eins nach dem anderen.
Diese Audits werden interessanterweise vorher angekündigt, und der Sinn dessen entzieht sich mir, aber so ist es halt. Eine Reihe von Herren im Geschäftsanzug ging durch das Depot und sie überprüften sowohl einzelne Fahrer als auch die allgemeinen Geschäftsabläufe des Depots. Anders als vor wenigen Monaten wurden scheinbar keine Fragen zur Art und Weise des Transports bestimmter Güter gestellt, stattdessen ging es mehr um wirtschaftliche und sicherheitstechnische Dinge. Einer der Herren kam just zu mir, überzeugte sich, dass ich Arbeitskleidung inklusive der Sicherheitsschuhe trug, ließ sich Unterlagen wie Abstellgenehmigungen einerseits und Sicherheitsausrüstung wie Warnweste, Erste-Hilfe-Set, Unterlegkeil, etc. andererseits zeigen. Was ich nicht vorweisen konnte, war ein Quittungsblock: Es gibt hin und wieder Kunden, die eine Nachnahme zahlen müssen und dafür eine konkret greifbare Quittung verlangen, wenn auch selten, das kam bei mir einmal in den letzten Monaten vor. Ansonsten war in dieser Hinsicht aber alles in Ordnung.
Dem fröhlichen Winzer war der Teil mit dem Quittungsblock im Vorbeigehen aufgefallen, er ging also zu Konrads Wagen, von dem er wusste, dass da sowas drinlag, und legte ihn zu sich ins Auto. Als ihn der Prüfer also fragte, ob er einen Quittungsblock habe, sagte er: “NATÜRLICH habe ich einen Quittungsblock!” Den er danach gleich an Konrad weiterreichte… nun ja, das Depot hat uns in Folge dessen solche Blöcke zur Verfügung gestellt und nun hat tatsächlich jeder einen.
Als Anekdote kann man allerdings hinzufügen, dass diese Entwicklung prompt von einem meiner Kunden überholt wurde: Der wollte nämlich nicht nur eine Quittung, sondern auch einen Firmenstempel – und damit kann ich nicht dienen, von daher musste es meine Unterschrift mit dem Zusatz “für Transoflex” tun.
So, nun kam also der Moment der Fahrzeugkontrolle. Sie betraf in der Tat mein Fahrzeug, aber letztendlich war das eine völlig überflüssige Aktion. Die Auditoren machten nämlich Pause, sodass Laubschi vor meiner Abfahrt, aber nach meinem Einladen, zu mir kam und an meinem Stellplatz die Überprüfung durchführte – ich hätte mir also zweifaches Einladen sparen können, wenn ich gewusst hätte, dass die Prüfer sich nicht selbst an der Fahrzeugkontrolle beteiligen würden und diese nicht mal eines Blickes würdigten.
Nun ja, die Prüfung verlief insgesamt zur Zufriedenheit des Mutterkonzerns und das Depot wurde zu keiner Strafe verdonnert. In Folge dessen gab der Chef tags drauf eine Runde belegte Brötchen für alle aus und es herrschte eitel Heiterkeit und Freude.