In Saarbrücken findet seit Jahrzehnten jedes Jahr eine Antiquitätenmesse statt, kurz vor Winter scheint die übliche Zeit zu sein. Für die Trierer Teppichgalerie war ich zum ersten Mal als Aufbauhelfer bei diesem Ereignis unterwegs, das kaum weniger Vorbereitungszeit in Anspruch nahm, als sein Gegenstück in Luxemburg.
Lampen putzen, Leisten streichen, schadhafte Ausrüstung reparieren oder ersetzen, Ausstellungsstücke aussuchen und in einer Liste erfassen, zusammen mit Werkzeug, Leitern, Kabel, Staubsauger, Dekorationsartikeln, wie geschnitzte (Mini-) Fensterrahmen und Buddhafiguren, grünen Stoffbahnen (als Wandverkleidung), einer blauen Folie zum Verhüllen des Stands, Tisch und Stühlen, einer schmückenden, aber praktischen Holzkiste, und allerlei Büro- und Werbematerial in das Wohnmobil packen. Die ausgesuchten Teppiche werden in einem angemieteten Anhänger verstaut, doppelt und dreifach abschließbar, Funktionen, Öl, Benzin, und Scheibenwasser überprüfen. Das nahm zwei halbe Arbeitstage in Beschlag.
Während des Einladens kam, eine Viertelstunde vor dem geplanten Feierabend, ein Mann in meinem Alter herein, dem man den Studenten noch sehr ansah. Er trug eine schwarze Umhängetasche mit dem roten Schriftzug “Mis en Place” – einem lokalen Cateringunternehmen der Mittelklasse. Würde man Fachbereiche nach der äußeren Erscheinung zuordnen können, hätte ich ihn für einen Romanisten oder Philosophen gehalten. Der interessierte sich allerdings nicht für Teppiche, sondern wollte nur um ein Taschentuch bitten. Ich gab ihm eins. Das muss diese Woche ein Hobby geworden sein: Eine junge Mutter mit Kleinkind, die die Toilette benutzen wollte, ein etwa 12jähriger, der um einen Notizettel bat, ein Mann Mitte 20, der einen Flaschenhalter kaufen wollte.
Als er das benutzte Tuch dann wegsteckte, wandte er den Kopf nach hier und da und meinte dann:
“Die sind aber teuer… wer kann sich das denn leisten? Geht man da mangels Kundschaft nicht bankrott?”
Ich lächelte darüber, sagte: “Das Geschäft existiert schon seit knapp hundert Jahren, es gibt Leute, die haben Geld zum Verbrennen,” und dachte mir, wenn Du im Robert-Schumann-Haus arbeiten würdest, und nicht bei Mis-en-Place, dann hättest Du schon solche Leute getroffen.
Die Chefin kam mit einem fragenden Gesichtsausdruck dazu und ich erklärte ihr die Situation. Die belustigte wohl auch sie, und sie sagte: “Wenn sie ein Jahresgehalt von 150.000 Euro haben, dann sind 5000 Euro für einen schönen Teppich doch ein Klacks, die zahlen Sie aus der Portokasse.” Einen 5000 Euro Teppich für unbezahlbar zu halten, kam sogar mir schon arg weltfremd vor. Bestimmt ein Geisteswissenschaftler, ich fügte “Germanist” zu meinen Mutmaßungen hinzu. Schließlich wurde er mit Hinweis auf die laufenden Messevorbereitungen hinauskomplimentiert.
Am Freitag Morgen um 0900 ging es los mit Fahrtziel Saarbrücken, Kongresshalle neben dem Arbeitsamt. Das Wohnmobil erreichte mit der ihm aufgebürdeten Last seine Leistungsgrenze und wir tuckerten so manchen Berg mit 40 km/h hinauf, der Bus vorneweg und ich in dem BMW zusammen mit der Nähmeisterin hinterher, überholt von dicken Brummis. Unser Aufbau begann dann um etwa halb Elf.
Die Größe der Ausstellungsfläche entspricht in ihrer Gesamtheit etwa der einer Schulsporthalle. Ich schätze, dass etwa ein Dutzend Aussteller am Werkeln waren, vielleicht ein paar wenige mehr. Zwischendurch klirrte es aus einer Richtung, in der sich ein Stand mit antiken, gläsernen Lampenschirmen befand.
Der Veranstalter stellte uns Verlängerungskabel zur Verfügung, und auf den Steckern befand sich die Aufschrift “CCS”. Den Werbeplakaten entnahm ich, dass dies für “Congress Centrum Saarbrücken” steht. Soll das Ausdruck von Francophilie sein? Warum schreiben die das nicht deutsch, mit… Moment mal… !? Eine Minute nach dem Erscheinen des Gedankens ist mit klar, dass die Abkürzung für die korrekte deutsche Schreibweise – Kongresszentrum Saarbrücken – sich als schlechte Publicity erweisen könnte…
Die Anbringung der Lampen stellte uns vor ein erstes Problem: In Luxemburg sind die Trennwände zwischen den Ständen 3,50 m hoch, hier sind es nur 2,20 m. In der Regel verlegen wir Balken von einer Trennwand zur anderen, befestigen Stromleisten an der Unterseite, und klemmen daran unsere Lampen fest. In diesem Fall würde das dazu führen, dass die Lampen auf Augenhöhe von Leuten meiner Statur hängen. Nicht gut. Die Lampen sind nicht nur hell, sondern auch heiß. Sie vernichten jede Frisur bei Berührung, und wenn sich der potentielle Kunde beim Verkaufsgespräch bücken muss, ist die Hälfte schon verloren.
Zuerst bringen wir die Lampen an der Oberseite der Balken an, müssen dann aber feststellen, dass sie sich nicht soweit verdrehen lassen, dass man mit ihnen die Teppiche anstrahlen kann, die natürlich unterhalb der Balkenebene hängen. Also: Leisten wieder abschrauben und an der Rückseite der Balken anbringen. Dann bekommt man erst Probleme, wenn man mindestens zwei Meter groß ist.
Positiv überrascht waren wir von der Absage zweier Aussteller, was uns insgesamt drei Stände bescherte, und das ohne Aufpreis. Zum ersten Mal seit Jahren ergab sich die Gelegenheit, die alten und edlen Saroughs und Keshans im Bereich von drei mal vier Metern vorzuführen, also hatten wir so viele mitgenommen, wie auf die zur Verfügung stehende Fläche passten.
Schon während des Aufbaus war mir klar, dass dies der entspannendste Messeaufbau war, den ich je erlebt hatte, was sich darin bemerkbar machte, dass die Chefin nicht immer wieder sagte: “Macht schneller, wir müssen um Sieben fertig sein!” Bis jetzt haben wir es jedesmal geschafft, vor der Eröffnung fertig zu werden… die sollte um sieben Uhr stattfinden, mit einer Rede des Veranstalters, einem Glas Sekt oder Bier, je nach Wunsch, und der Gräfin von Ottweiler und… irgendeinem anderen Kuhkaff.
Mittagspause war dann um etwa zwei Uhr, und wie jedes Mal hatte ich natürlich mein Mittagessen zuhause vergessen. Ich erinnerte mich allerdings, dass sich ganz in der Nähe ein chinesischer Imbiss befand, also ging ich dorthin. Ich nahm ein Nudelgericht für 2,70 E und gewann den Eindruck, dass die Dame, die den Laden mit ihrem Mann, dem Koch, führte, scheinbar gestresst oder eher gelangweilt war. Ja, wahrscheinlich gelangweilt, oder völlig gleichgültig, denn etwas anderes als Gleichgültigkeit und roboterhafte Routine konnte ich aus ihrer Stimme (“ZumMitnehmenoderhieressen?”) nicht herauslesen.
Für den gezahlten Preis bekam ich allerdings eine ordentliche Portion Nudeln mit Schweinefleisch und Gemüse, die gar nicht mal schlecht schmeckte. Ich bekam noch eine Mandarine von Nina geschenkt. Besten Dank. Satt für nicht mal drei Euro? Das klingt gut, und ich fasste den Beschluss, mich in Trier umzusehen. Halina empfiehlt mir die “Zimtblüte”, ein Stück die Paulinstraße runter. Allerdings ist meine Mittagspause wegen der mittlerweile ununterbrochenen Ladenöffnungszeiten auch in der Woche auf 30 Minuten gekürzt worden – das ist zwar gut für’s Geld, weil eine Stunde mehr als früher, aber ich habe kaum mehr Zeit, als einen Getränkepack in Ruhe leer zu trinken. Aber für heute war ich erst mal gut bedient und zufrieden.
Die Chefin schien einen guten Tag zu haben, sie plauderte viel mit den anderen Ausstellern, denn ich hatte nicht den Eindruck, dass wir effektiver arbeiteten, als an anderen Messeterminen. Ja, wir hatten oder nahmen uns sogar ungestraft die Zeit, Unsinn zu machen. Ein Möbelhändler hatte einen Hund dabei, einen Berner Sennenhund, der fröhlich in der Halle herumtrabte, und jedem seinen Tennisball zum Spielen vor die Füße legte. Wir traten also, wannimmer wir gerade die Hände frei hatten, den Ball immer wieder einmal durch die Gegend, worauf der Hund ihn verfolgte und zurückbrachte. Der Ball hinterließ beim Rollen eine feuchte Spur auf dem Boden, er wurde scheinbar bereits eine ganze Weile in dem feuchten Hundemaul herumgetragen.
Wir mussten uns auch bald die ungefährlichsten Bahnen für das Ballspiel aussuchen, denn wenn man dem Ball zu viel Pepp gab, konnte es passieren, dass er etwas wertvolles beschädigte, und schoss man ihn in die falsche Richtung, dann landete er möglicherweise in einer Ansammlung von Ausstellungsstücken, auf die der spielbegeisterte Hund natürlich keine Rücksicht nahm, außerdem unterstützte der Parkettboden nicht unbedingt die Bremseigenschaften seiner Pfoten. Am meisten spielte wohl Nina, unsere Nähmeisterin, mit dem Hund, und man könnte glauben, dass sie, immerhin um die fünfzig Jahre alt, gern Fußball spielte, so wie sie mit dem Tennisball um den gespannt auf den Schuss wartenden Hund herumdribbelte. Gleichzeitig waren wir immer darum bemüht, den haarigen und sabbernden Hund von unseren wertvollsten Teppichen fernzuhalten. Nina, deren Aufgabe nach der Verhüllung der Trennwände eigentlich erledigt war, erhielt irgendwann den Auftrag, den Hund etwas abseits zu beschäftigen.
Auch ohne antreibende Kommentare waren wir um kurz nach Sechs mit dem Aufbau fertig, alle Lampen waren ausgerichtet und funktionierten, das Pult für die Eröffnungsansprache wurde in Stellung gebracht. Mein Auftrag lautete, mit Nina im BMW zurück nach Trier zu fahren, die Chefin würde mitsamt Tochter natürlich bleiben. Halina beschwerte sich, dass sie ihr Buch zuhause vergessen habe, da sie zu lesen pflegte, wenn sie auf einer Messe nichts besseres zu tun hatte. Ich bot ihr scherzhaft die Biografie von Ernst Bloch an (Zudeick, 1987), die ich derzeit während meiner Busfahrten lese.
“Wer ist das denn?” fragte die Tochter.
“Ach Du großer Gott…” sagte die Chefin.
Es war ja auch nur ein Scherz. Ich habe selbst Probleme, dem Buch konzentriert zu folgen, denn ein Philosoph hat es über einen berühmteren Philosophen geschrieben, und derlei zum Teil sehr spezielle Darlegungen, Philosophenjargon mit a priori und eo ipso, verlangen Übung und Konzentration. An ersterem mangelt es mir, also muss ich mit dem letzteren stärker einsteigen. Kurz kann ich darüber nur sagen, dass ich durchaus einsehe, dass für den Menschen nicht nur die Bewältigung der Vergangenheit ausschlaggebend ist, sondern auch “das noch nicht Bewusste”, das sich in abstrakten Hoffnungen ausdrückt. Und ich muss mich sehr wundern, dass erst in den Fünfziger Jahren des 20. Jh. jemand – eben Bloch – formulierte, dass die fundamentalste Motivation des Menschen nicht der Sexualtrieb (Freud), nicht der Drang nach Macht (Adler), oder der “Antrieb aus archaischen Bewusstseinsresten” (Jung) ist, sondern der Überlebenstrieb. Ist darauf in 2500 Jahren europäischer Philosophie noch nie einer gekommen? Hat es nur keiner (überliefert) gesagt? Ich würde vermuten, dass sogar ein Heranwachsender über genug Weisheit und Einsicht verfügt, um das zu erkennen.
Aber egal, jetzt ist Heimreise angesagt. Der Wetterbericht der gesamten Woche hat immer wieder gesagt, dass es heute Schnee geben würde. Ich gebe zu, dass ich dem nicht recht Glauben schenken wollte – Schnee im November, ich kann mich nicht erinnern, sowas mal erlebt zu haben. Aber es schneite tatsächlich. Nicht stark, aber es schneite. Auf dem BMW waren noch die Sommerreifen. Tolle Wurst. Scheinbar hatte da jemand das angekündigte Wetterproblem verdrängt und die Gelegenheit zum Reifenwechseln verschlafen. Da dies die einzige Arbeit an den Autos ist, die ich machen könnte, mir aber nicht aufgetragen wird, habe ich nichts gesagt und mich darauf verlassen, dass sie wie üblich rechtzeitig in ihre Werkstatt fahren würde.
Jetzt war die Situation, wie sie war. Ich fuhr zur Autobahn und trat aufs Gaspedal, möglichst viel Strecke bewältigen, bevor das Wetter zu schlecht wurde. Zwischen Weiskirchen und der Hochwald Raststätte schneite es recht stark, aber es blieb nicht liegen. Das Thermometer im Wagen machte mich darauf aufmerksam, dass die Außentemperatur auf unter 4° C gefallen war, zeitweise war sie bei 0,5° C. Im Moseltal allerdings legte die Temperatur wieder auf 3,5° C zu. Kein Schneefall, lediglich nasse Straßen. Ich schickte nach meiner Ankunft einen entsprechenden Bericht an Halinas Telefon. Der Arbeitstag hatte über neun Stunden gedauert. Am Samstag würde ich dann ganz normal unter Halinas Anleitung im Laden arbeiten und am Sonntag Nachmittag mit ihr zusammen zum Abbauen nach Saarbrücken fahren.