Code Alpha

Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

30. November 2008

Engel in der Nacht

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 23:55

Wegen einer Mail von einer jungen Frau zum Thema Phonetik, deren “Wer-weiß-was” Nutzername “Misuko” ist, war ich kurz nach meiner nächtlichen Rückkehr aus Saarbrücken, bzw. Dillingen, damit beschäftigt, japanische Vornamen im Netz nachzuforschen. Dabei stieß ich auf zwei deutsche Seiten. Ich kann sie nicht nennen, weil ich mich nicht so weit darum gekümmert habe, aber immerhin haben sie mich dazu veranlasst, Kommentare zu schreiben.

Nummer 1 war da noch kurz zu fassen. Der Betreiber hatte den Namen “Nanami” mit “Sieben Meere” übersetzt (Tico lässt grüßen), die Silben aber “Na-nami” getrennt, “na” für “sieben” und “Nami” für “Meer”. Das geht natürlich nicht, also schickte ich ihm eine kurze Stellungnahme, für die er sich am Folgetag auch bedankte. Garantiert nicht bedankt hat sich “Tenshi”, die Betreiberin der zweiten gefundenen Seite. Ihr angegebener Japanbezug: Sie war als Kind mal dort gewesen und hatte (vorübergehend?) ein japanische Kindermädchen gehabt, aber ein wissenschaftlicher Bezug war nicht gegeben.

Das merkte man deutlich. Auch dort waren ein paar Patzer bei den Namen – die Bedeutung des Namens “Ami” zum Beispiel gab sie mit “Freund” an und verwechselte das Wort offensichtlich mit dem französischen Begriff. Okay, mir will es auch nicht mehr ohne größeren Konzentrationsaufwand gelingen, einen französischen Satz zu beginnen, ohne ihn japanisch zu beenden, dafür habe ich Verständnis. Aber für einen offensichtlichen Laien hatte sie neben Namenskunde auch noch eine beachtliche Reihe anderer Themen, darunter auch “Schule in Japan”. Da musste ich einfach reinschauen, ich hatte die Klickmotivation gar nicht mehr unter Kontrolle…

Was da für ein Mist drin steht.. ich will gar nicht mehr dran denken und hoffe, dass ich den Trieb unterdrücken kann, ihre Seite nach weiteren starken Stücken zu durchforsten und in der Luft zu zerreißen.

Tut mir leid, aber so viel Einseitigkeit treibt mir das Wasser in die Augen. Ich weiß ja nicht, wo ihre Informationen herkommen, aber ich erinnere mich an den Kommentar eines Bekannten aus Florida, der sich mal über Leute lustig machte, die eine Woche Urlaub in New York oder LA gemacht haben und dann der Meinung sind, sie würden die USA kennen…

Ich streite nicht ab, dass es extreme Formen der Schülerkontrolle gibt, aber sie sind nicht so allgemein verbreitet, wie man das glauben könnte, wenn man Tenshis Artikel liest. Ich habe in einer japanischen Kleinstadt gewohnt und mich währenddessen umgesehen und unter anderem mit einigen Schülern unterhalten.

– Die Tore werden nicht mit dem letzten Glockenschlag geschlossen.
– Die Schüler tragen keinen Registrierchip bei sich, der jeden, der das Tor nicht passiert, sofort als Schulschwänzer entlarvt.
– Die meisten Schüler, vor allem Mädchen, äußerten die Meinung, dass Schule Spaß macht.
– Niemand, den nicht irgendwelche Umstände dazu zwingen, geht früher als notwendig zur Schule, ich wüsste jedenfalls nichts davon, dass die Schüler brav eine halbe Stunde vorher kommen.
– Anders als in Deutschland betrachten japanische Schüler den Lehrer nicht als eine Art Feindbild. Ich habe auf Schulveranstaltungen erlebt, dass vorführende Lehrer lautstark von ihren Schülern angefeuert wurden.
– Die meisten Eltern lassen Ihre Kinder den Beruf ergreifen, den die Kinder erlernen möchten und zwingen sie nicht, auf Eliteunis zu gehen.
– “Ganztagsschule” heißt in Japan, dass man den Nachmittag mit Freunden in den Clubs verbringt, wo man Sport treibt, Musik macht, bastelt, Theater spielt, oder zusammen Geschichten schreibt.
– Clubteilnahme ist nicht zwingend
– Hikikomori sind nur EINE Form des Schulschwänzers, weil das Phänomen in allen Altersgruppoen auftreten kann. Ich würde das eher mit “Realitätsflüchter” übersetzen.
– Wenn das japanische Schulsystem so fantasiefeindlich ist, wie erklärt sie sich dann die Tatsache, dass in Japan – ganz abgesehen von der unüberschaubaren Zahl an Manga-Veröffentlichungen – mehr einheimische Literatur (nicht nur Sachbücher, sondern auch Fiction) in den Regalen der Bücherläden steht, als man das von Deutschland sagen kann?

Wenn ich japanischen Schülern (und Studenten) erzähle, was für eine Meinung der gewöhnliche Deutsche von japanischen Schulen hat, lachen die mich aus. Von daher würde ich jedem raten, die ihm über dieses Land zur Verfügung stehenden Informationen anhand sozialwissenschaftlicher Studien kritisch zu prüfen und nicht einfach aus der Presse abzuschreiben.

Je weiter ein Völkchen weg lebt, desto mehr Unsinn kann man den Leuten darüber erzählen.
Genau wie von den Eskimos. Die haben ja angeblich 300 Wörter für Schnee.

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