Das Jahr des Affen hat also heute offiziell begonnen und Melanie fühlt sich so lebendig, dass sie für heute eine Tour vorbei an mehreren Schreinen der Stadt geplant hat. Die Straßen sind frei, also kann man bedenkenlos mit den Rad fahren. Zunächst ist der Himmel allerdings bewölkt. Zehn Minuten nach Abfahrt scheint dann aber die Sonne trübe durch die Wolkendecke, nur um fünf Minuten darauf wieder zu verschwinden, um einer eiskalten Portion Schneeregen Platz zu machen. Ich freue mich tierisch über diese Entwicklung. Hoffentlich bleibt das Wetter nicht so, sonst passiert es noch, dass ich die Schreintour äußerst unangenehm in Erinnerung behalten werde.
Wir kommen an der Hauptpost vorbei, und dort offenbart sich uns ein besonderes Phänomen japanischer Dienstleistungen, und ich brauche ein paar Minuten, bis ich begriffen habe, was ich da eigentlich sehe. Da stehen zwei Herren im Dienstanzug am Straßenrand, bewaffnet mit einer großen Plastikkiste und einem noch größeren Postsack. Alle paar Sekunden hält ein Wagen, das Beifahrerfenster wird geöffnet und die Person in dem Auto übergibt ein dickes Bündel von Briefen oder Postkarten, die sofort in dem Postsack verschwinden. Dann fährt das Auto weiter, um dem nächsten Platz zu machen. Alle paar Sekunden hält ein Fahrer am Straßenrand, um Post loszuwerden.
Natürlich wird hier keine gewöhnliche Post weitergereicht. Ein „Post Drive-In“ wäre zwar ein interessantes Konzept, aber ein bisschen extravagant, denke ich. Nein, hier geht es um Grußkarten zu Neujahr. Japaner versenden unglaubliche Mengen an Neujahrsgrüßen, und ich nehme an, dass es den Rahmen der Postämter sprengen würde, wenn jeder, der Karten verschicken will, versucht, in der Nähe des Schaltergebäudes einen Parkplatz zu finden. Und wie es hier zugeht, würde es zu ernsthaften Staus im Stadtgebiet kommen, wenn jeder Absender anhalten und aussteigen müsste, um den Briefkasten aufzusuchen. Also ist diese Sammelaktion eine wirklich gute Idee. Und das Interesse ist groß. In Deutschland reicht noch nicht einmal die Weihnachtspost aus, um eine solche Dienstleistungsmaßnahme zu rechtfertigen.
Während wir noch staunend an der Straßenecke stehen und entsprechende Fotos machen, hört auch der Schneeregen wieder auf. Das beruhigt meine Nerven doch sehr. Die Sonne setzt sich wieder durch. Wir fahren die Hauptstraße in Richtung Norden entlang, ein Stück zu weit, wie wir bald feststellen, aber das tut unserer Sache keinen Abbruch, weil auf Melanies Plan so ziemlich alle Schreine im Nordosten Hirosakis stehen, also biegen wir die nächste Straße ein und fangen beim Hachiman-Schrein an, nach dem auch gleich das Stadtviertel benannt wurde. Für hiesige (= ländliche) Verhältnisse ist am Schrein die Hölle los, wenn ich mir diesen paradoxen Vergleich erlauben darf. Hier sieht es nicht anders aus als vor dem Tempel und dem Schrein gestern Nacht. Da steht eine Schlange von mehr als 50 Metern Länge und etwas mehr als zwei Metern Breite, und alle diese Leute warten darauf, ihr erstes Gebet des neuen Jahres sprechen zu können.
Jetzt muss man natürlich nicht annehmen, dass Japaner unheimlich religiös seien. Ich wage zu behaupten, dass Religion, sei es Shintô oder Buddhismus, zwar tief in der Kultur verwurzelt ist, aber in dem Bewusstsein der Menschen nur sehr oberflächlich vorhanden ist. Ich behaupte, die sind alle eher deshalb hier, „weil man das an Neujahr halt so macht.“ Die Schlange ist, verglichen mit dem Weg, schmal genug, um bequem daran vorbeigehen zu können, wenn man, wie wir beide, einfach nur mal schauen will, was hier so abgeht.
Wie jeder andere japanische Schrein verkauft auch dieser hier eine größere Anzahl von Talismanen für verschiedene Angelegenheiten; in erster Linie, wie schon der Meji-Schrein, für Gesundheit, Liebe, Reisen und natürlich Prüfungen jeder Art. Und wo ich schon von verkaufen, bzw. Verkäuferinnen spreche: hübsche junge Damen in rotweißer Tracht! Seien es nun „echte“ Tempeldienerinnen („Miko“) oder Schülerinnen/Studentinnen, die hier nebenher jobben – ich glaube, ich komme im Sommer noch mal her. Ich kann doch nicht nach Japan kommen, ohne ein Bild von einer Miko zu machen…
Wir wollen auch noch andere Schreine abklappern, und auf dem Weg zu den Fahrrädern kaufen wir „Yaki-imo“ = geröstete Süßkartoffeln. Und solch seltsame Kartoffeln habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gegessen. Die schmecken gar nicht nach Kartoffeln, und eigentlich habe ich den Verdacht, dass man diese länglichen Kartoffeln eine Woche lang in Zuckerwasser oder Honig einlegt, bevor man sie röstet. Aber die Dinger schmecken wohl tatsächlich so… gar nicht schlecht.[1] Ansonsten gibt es auch hier glasierte Bananen; und große Fleischspieße – für 400 Yen? Ich bin doch nicht meschugge… an den Dingern ist vielleicht so viel Fleisch dran, wie an zwei „normalen“ Spießen, und zwei Spieße kosten mich an der Bratbude auf dem Nachhauseweg gerade mal 140 Yen. Nee, Ihr dürft die hier ruhig behalten.
An den anderen Schreinen ist bedeutend weniger los. Weniger Leute bedeuten niedrigere Preise. Und natürlich wird der Tag nicht jünger, die meisten Leute dürften also bereits fertig sein mit ihrem Neujahrsritual. Und man merkt, dass bald die Dunkelheit hereinbrechen wird. Ich bin auch ganz froh, irgendwann wieder zuhause zu sein. Es ist mir doch zu kühl, um stundenlang mit dem Rad in der Gegend rumzugondeln, vor allem wenn ich wegen Melanie so langsam fahren muss, dass mir davon nicht warm wird.
Wir sehen uns am Abend dann eine Art Sportsendung an. „Wer ist der stärkste Mann?“ heißt die. Eine Reihe von Freizeit- und Profisportlern – und wohl auch „Profikörperkultisten“, so möchte ich sie mal nennen – treten gegeneinander in verschiedenen Disziplinen an. Die Disziplinen sind recht ausgewogen, es geht mal um Kraft, mal Technik, Ausdauer oder Geschicklichkeit. Wie es scheint, handelt es sich bei allen Teilnehmern um bekannte Gesichter aus der japanischen Sportpresse, und zum Teil auch aus dem Werbefernsehen, wie zum Beispiel ein gewisser Kane (engl. Lesung wie „Cain“) Kosugi, der hier in der Show einen weitaus weniger sympathischen Eindruck macht als in der lustigen Currywerbung, in der er auftritt. Ansonsten sind da ein Turner, ein Rugbyspieler, zwei Footballspieler, ein Baseballspieler (alle diese Leute sind Japaner), und als besondere Gäste sind unter anderem der amerikanische Kraftsportler Bob Sapp und der japanische Yokozuna Akebono Tarô dabei, der mit seinem Bart um den Mund und dem Ring am Öhrläppchen so richtig normal aussieht. Abgesehen davon, dass er 203 cm groß ist und 200 kg wiegt. Man sieht ihm die Größe wegen seiner Breite nur nicht so an. Von Bob Sapp hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie gehört, bevor ich nach Japan gekommen bin. Hier ist er im öffentlichen Bewusstsein allgegenwärtig, als Werbeträger auf Plakaten, im Fernsehen, in den Kaufhäusern und so weiter. Es handelt sich dabei um einen riesigen Afroamerikaner von zwei Metern Größe und 170 kg reiner Muskelmasse.
Zu den Disziplinen: Da wäre zum Beispiel eine Disziplin mit der Bezeichnung „Gallon Throw“. Wer an der Reihe ist, nimmt ein mit Haltegriffen versehenes kleines Fass von 10 kg Masse aus der Halterung und nimmt Ausgangsposition ein, mit dem Rücken zu einer aufgestellten Wand. Ziel des Spiels ist, das Fass mit beiden Händen über den Kopf hinweg über diese Wand hinter sich zu schleudern. Das Spiel beginnt bei fünf Metern und die Höhe steigert sich in jedem Durchgang um 25 cm. Der Rugbyspieler gewinnt schließlich mit einer Wurfhöhe von 5,75 Metern. Akebono nimmt ebenfalls daran teil. Bob Sapp scheint sich hier zurückzuhalten.[2]
Als kleines Intermezzo werfen auch ein paar andere Gäste. Es handelt sich bei diesen um eine Handvoll Sportler, die offenbar alle irgendwann eine Goldmedaille im Hammerwerfen gewonnen haben. Es treten an (ich habe die Namen nicht alle notiert) ein Amerikaner, ein Weißrusse, ein Slowene, ein Ungar, ein Japaner und ein Russe namens Ilya Konowarow (das zumindest entnehme ich der jap. Schreibung seines Namens auf dem Bildschirm), der aussieht wie eine „Power-Version“ von Volker Greimann – in erster Linie wegen der Frisur und der Brille, aber auch die Gesichtskonturen finde ich sehr ähnlich. Leider sehe ich mich nicht in der Lage, ein Bild aufzutreiben, das diese Aussage auch untermauern könnte. Aber gut – die Jungs hier fangen bei sechs Metern Höhe überhaupt erst an und steigern in Schritten von 50 cm.
Der Japaner gewinnt den Durchgang mit 7,50 m, aber er will den Vorjahresrekord des Amerikaners (7,75 cm) schlagen und lässt 7,80 m einstellen. Er schafft sie und steigert auf acht Meter. Auch die schafft er. Und er ist klug genug, an dieser Stelle aufzuhören.
Bob Sapp nimmt an einer Disziplin teil, die „Spin Off“ heißt. Das Spielfeld ist etwa 5 x 5 Meter groß und in zwei Dreiecke aufgeteilt, eine rote und eine blaue Hälfte. In der Mitte liegt eine Kugel von 1,50 Meter Durchmesser, aus einer Art Plastik, mit einem Gewicht von einem Zentner. Aufgabe ist nun, die Kugel aus der Spielfeldhälfte des Gegners herauszurollen, also von der Matte herunter. Das Los entscheidet, wer gegen wen antritt, und es stellt sich heraus, dass „sugoi“ („super“, „toll“) offenbar das einzige Wort ist, das der gute Bob auf Japanisch beherrscht. Er zieht die Nummer „9“ und eine Stimme hinter der Kamera sagt „kyû“, was er dann wiederholt.
Wie ich bereits sagte, ist Bob Sapp ein reiner Muskelberg von zwei Metern Höhe und einem Kampfgewicht von 170 kg. Ein ehemaliger Footballspieler, wie er angibt. Der ihm zugeteilte Gegner ist, äh, 165 cm groß und 68 kg schwer. Es ist nicht schwer zu raten, wer diesen Zweikampf gewinnt… Sapp gewinnt überdies die Disziplin als Ganzes, und nur der schmale, aber blitzschnelle Turner hätte ihn beinahe den Sieg gekostet.
Ansonsten gibt es u.a. Bockspringen, ab 150 cm bis auf drei Meter Höhe, was natürlich allein der leichte Turner schafft, während sich die Footballspieler als zu schwer erweisen, um sich in solche Höhen zu schwingen.
Das LKW-Ziehen gewinnt der Footballspieler Kawaguchi, der ein bisschen aussieht, als sei er der ältere Bruder des Autors Mishima Yukio. Der zweite Footballspieler unter den Teilnehmern, Satomi Kôhei, kommt übrigens aus dem gleichen Team wie Kawaguchi, ist aber ein oder zwei Jahre jünger. Kôhei ist also ein Kôhai. Das kann als „Japanologenwitz“ durchgehen.
Der jüngere Footballspieler ist dann derjenige, der den „Flag Catcher“ Wettbewerb gewinnt. Man legt sich flach bäuchlings auf den Boden, Blick weg vom Ziel, springt auf Signal auf, sprintet zehn Meter, stürzt sich in eine Grube voll mit Styroporflocken und „reißt“ eine der angebrachten Fahnen an sich. Es ist immer eine Flagge weniger als Sportler vorhanden sind, bis nur noch einer übrigbleibt. Wieder scheitert der Turner erst in einer Finalausscheidung.
Satomi gewinnt auch den „Gunshot Drop“. Der Bewerber rennt los, etwa zwei Meter weiter befindet sich am Rand der Sprintstrecke eine Apparatur, wo man im Vorbeirennen auf einen Schalter schlagen muss. Dieser Schalter löst einen Mechanismus an der Decke der Halle aus, der einen Ball senkrecht nach unten fallen lässt und Ziel der Sache ist es, den Ball zu berühren, bevor er auf die Matte aufschlägt. Start ist bei einer Strecke von zwölf Metern, und bei 13 m bleibt nur noch Satomi übrig – was mich ein wenig wundert, weil er ja ein recht massiger Footballspieler ist. Hier hätte ich erwartet, dass der windschnittige Turner gewinnt.
Interessant ist auch der Wettkampf, in dem zwei der Sportler, deren Gewicht möglichst übereinstimmen muss, mit einem flexiblen Seil verbunden sind und in entgegengesetzten Richtungen loslaufen, um am Ende ihrer Laufmatten den „Siegerschalter“ zu drücken. Die maximale Dehnbarkeit des Seils ist natürlich an einem Punkt erschöpft, wo man mit ausgestrecktem Arm noch etwa 50 cm bis zum Schalter hat. Man muss also schnell laufen und sich im richtigen Moment hinwerfen, um Halt auf der Matte zu erhalten, sonst wird man vom Gegner umgerissen und verliert. Landen beide gleichzeitig, kommt es darauf an, wer mehr Ausdauer dafür aufbringt, sich langsam vorwärts zu arbeiten und den entsprechenden Versuchen des Gegners entgegenzuwirken. Wenn man den Arm zu kühn ausstreckt, kann es ebenfalls sein, dass man vom Gegner umgerissen wird. Hier gewinnt Kawaguchi. Zum ersten Mal in der Geschichte dieser Sendung, wie es heißt, an der er offenbar schon mehrfach teilgenommen hat.
Sehr interessant eigentlich. Es würde mir durchaus Spaß machen, die eine oder andere Disziplin selbst einmal auszuprobieren.
[1] Kartoffeln („Solanum tuberosum“) und so genannte Süßkartoffeln („Ipomoea batatas“) sind auch nur entfernt verwandte Gewächse, aus der Ordnung der Nachtschattenartigen.
[2] In einer kurzen Einblendung zu Beginn einer Werbepause sieht man Bob Sapp das Fass werfen: Es fliegt auf auf und davon, weit über das Gestell hinaus. Vielleicht hat man Bob nicht teilnehmen lassen, um für mehr Spannung zu sorgen.