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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

28. Januar 2024

Mittwoch, 28.01.2004 – Frau Bärenfeld

Filed under: Japan,My Life,Uni — 42317 @ 7:00

Es schneit wieder. Nicht in rauen Mengen wie gestern, aber auffällig.

Im Unterricht von Ogasawara-sensei behandeln wir zum wiederholten Male Vokabular, wie man es beim Arzt brauchen kann. Die anwesenden Chinesen begründen die „ruppige“ Art und Weise chinesischer Ärzte und Schwestern übrigens mit den niedrigen Gehältern, die man diesen Leuten in China zahle. Natürlich drücke das aufs Gemüt der betreffenden Personen.

Danach folgt die wohl letzte Stunde zum Thema „Moderne japanische Novellen in englischer Übersetzung“. Thema ist Murakami Haruki, „The Second Bakery Attack“. Ich kenne den deutschen Titel nicht, aber die Geschichte soll sich in der Sammlung „Der Elefant verschwindet“ befinden. Wenn man sich leichte literarische Kost zu Gemüt führen möchte (bei Murakami eher ungewöhnlich), dann, glaube ich, ist das hier genau richtig.

Bis 14:20 habe ich dann noch etwas Zeit, aber ich folge einer Laune und gehe bereits in der Mittagspause in die Halle, um zu sehen, ob Mei, BiRei oder XiangHua vielleicht dort anzutreffen sind. Ich gehe ausnahmsweise eine andere Route dorthin, durch den zweiten Stock, anstatt durch den ersten. Ich komme an einem Hörsaal vorbei, aus dem ich eine mir bekannte „TV-Stimme“ hören kann. Deutsche Sprache, bekannter Stil… ich muss nicht viel vom Inhalt hören, um nach fünf Sekunden zu wissen, dass hier das „Fest der Völker“ von Leni Riefenstahl gezeigt wird. Ich bin neugierig und stehle mich in den Saal. Deutsche Originalfassung mit japanischen Untertiteln. Hier sitzen ein halbes Dutzend japanischer Studenten und eine Dozentin mit Namen Kumano. Es handelt sich um einen Kurs der Medienwissenschaft, sagt sie. Sie erlaubt mir zu bleiben und ich nehme Platz. Noch zwanzig Minuten sind übrig. Ich hatte schon ganz vergessen, wie militant die Sprache dieses Films ist! Der Reporter redet hier nicht von „Sportlern“ oder „Teams“, sondern oft genug von „Streitkräften“.

Leider gibt es keine Abschlussdiskussion, wie ich es mir erhofft hatte. Der Unterricht ist wegen des Umfangs des Films bereits um 20 Minuten überzogen worden. Dabei hätte mich die Meinung der Zuschauer wirklich interessiert. Das sei aber kein Problem, sagt Kumano-sensei. Ich solle mich per E-Mail melden, und früher oder später werde der Kurs sich zu einem abschließenden Umtrunk treffen (als ob es die normalste Sache der Welt wäre, dass man am Ende des Semesters zusammen einen heben geht – ach, ich bin ja in Japan…). Da könne man das nachholen, sagt sie. Aber so groß ist mein Interesse dann auch nicht, dass ich den Kurs ausgerechnet bei der Abschlussfeier stören möchte.

Wir gehen noch in ihr Büro und unterhalten uns ein bisschen über verschiedene Dinge. Sie hat eigentlich frz. Literatur studiert, und man sieht das auch an der Ausstattung ihres Büros. Viele frz. Bücher stehen in den Regalen rum. Sie sei dann über Literaturverfilmungen und Kino zur Medienwissenschaft gekommen.

Ihr wichtigster Punkt im Laufe des knapp einstündigen Gesprächs ist allerdings das Nachlassen der allgemeinen Höflichkeit in Japan. Oha! Ich sperre die Ohren auf. Nach ihrer Meinung greift der Egoismus immer mehr um sich und färbt auf die Umgangsformen ab. Mehr und mehr (jungen) Leuten ginge die Fähigkeit, die Bedürfnisse und Meinungen anderer in das eigene Denken mit einzubeziehen, verloren. Ich wage schließlich den Vergleich mit Deutschland – der durchschnittliche Deutsche ist international nicht für seine höflichen Umgangsformen und bedachten Ausdrucksweisen bekannt.

Ich interpretiere, dass Japan eine sehr hohe Stufe an (zur Schau getragener) Höflichkeit besitzt, was sich vor allem in der Sprache niederschlägt, dass sich hinter dieser Fassade jedoch ein relativ hohler Körper befindet. In Deutschland dagegen scheint mir eine allgemein zwar niedrige, aber dafür stabile Höflichkeit vorzuherrschen. Deutsche Umgangsformen scheinen rau und abweisend zu sein, aber bis zum Kern der Person ist es, anders als in Japan, nicht weit und man findet sehr herzliche Menschen vor. Man kann in Japan schnell oberflächliche Bekanntschaften schließen, aber die Distanziertheit der Japaner ist größer als die von Deutschen. Man muss recht weit gehen, um hinter die Fassade blicken zu können. Deutsche haben kaum Fassade. Sie reden frei heraus und treten dabei schon mal jemandem auf die Füße. Aber ich bin kein Sozialwissenschaftler und habe nichts zu dem Thema gelesen, also kann ich nur von meiner persönlichen Wahrnehmung sprechen.

Schließlich ist es an der Zeit, in die Halle zu gehen, um Mei zu treffen, und auch Kumano-sensei möchte was essen. Ich verabschiede mich also. Ich bin ein paar Minuten zu früh in der Halle, also mache ich ein paar Hausaufgaben. Um 14:30 bin ich bereits ziemlich sicher, dass sie nicht mehr auftauchen wird, aber ich mache mit den Hausaufgaben weiter und verlasse die Halle erst um 15:30 wieder. Ich habe das Gefühl, dass meine Keigo Klausur (über japanische Höflichkeitssprache) voll in die Hosen gehen wird.

Ich gehe Richtung Bibliothek und nehme dabei bewusst den Umweg durch ein paar Lehrsäle. Und der Expedition ist Erfolg beschieden: Pünktlich zum Versiegen meines alten finde ich einen neuen Kugelschreiber, mit 75 % Füllung in der Mine. Und nicht nur das. Das Radiergummi kann ich auch brauchen, nachdem mein altes verschwunden ist, das Mathe- und das Biologiebuch lege ich auf das Pult, damit man sie sofort findet, das private Notizbuch und die Handschuhe nehme ich mit, um sie im Fundbüro abzugeben. Aber mein Gedächtnis ist kurz und ich habe den Krempel immer noch in meinem Rucksack, als ich schließlich nach Hause gehe…

In der Bibliothek schreibe ich dann noch ein Stück Text zum 31.Dezember und verfasse außerdem sechs Seiten meiner Hausarbeit. Das ist bereits doppelt so viel wie maximal verlangt, aber leider bin ich mit meinen Darlegungen noch nicht ganz fertig. Vor allem fehlt der Schluss ja noch.

Hausaufgaben und Tagebuch halten mich bis 01:00 wach. Und in fünf Stunden und dreißig Minuten darf ich schon wieder aufstehen. Ich glaube, Tagebücher sind nur für Workaholics. Und eigentlich bin ich gar keiner.

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