Code Alpha

Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

13. Dezember 2023

Samstag, 13.12.2003 – Der begehrteste Mann im Kindergarten

Filed under: Japan,My Life,Spiele,Sport — 42317 @ 7:00

Auf dem Weg in die Bibliothek pumpe ich endlich mal wieder etwas Luft in die Reifen meines Fahrrades. Danach werden Mails geschrieben, ohne, dass etwas Dramatisches dabei vor sich geht. Um 16:00 brechen Melanie und ich auf, um der Einladung des „Hippo Family Clubs“ zu folgen, den ich für gewöhnlich „Happy Hippo Club“ nenne, weil es leichter von der Zunge geht. Verdammtes Werbefernsehen!

Wir fahren auf der Straße Richtung Daiei, kommen an die Eneos Tankstelle, und gegenüber wartet auch schon ein bekanntes Gesicht. Es ist der Mann, der mich darauf aufmerksam gemacht hat, dass Vogelweide wahrscheinlich nicht im 1200. Jahrhundert geboren worden ist. Er ist erkältet, wie mir scheint. Sushanan und Yong treffen zur gleichen Zeit ein.

Wie ich mir bereits dachte, handelt es sich auch hierbei um eine durchorganisierte Party mit festem Zeitplan. Ab 16:30 beginnt die „Endphase“ des Aufbaus. Ein hellblauer Teppich und drei Tatamimatten wurden bereits auf dem Boden platziert, damit die Füße nicht zu kalt werden. Es kommen mehr und mehr Leute und schließlich trifft auch die Stereoanlage ein. Maeda-san nutzt sie, um ihre Stimme mit dem angeschlossenen Mikrofon verstärken zu können, obwohl der Raum bestenfalls 35 qm groß ist. Aber wir brauchen die Anlage natürlich noch für was anderes…

Letztendlich anwesend sind die Gastfamilien und die ihnen zugeteilten Studenten, niemand sonst. Eine überschaubare Gruppe. Um 17:00 habe ich bereits die ersten Abenteuer hinter mir, nachdem die (vornehmlich weiblichen) Kinder mich wiedererkannt haben und mit dem „Kinnikuman“ spielen wollen. Weil ich nicht auf dem Boden Platz nehmen will, so lange es sich vermeiden lässt, und auch nicht stehen will, setze ich mich auf die Fensterbank. Neben mir ein halbes Dutzend Mädchen – wie bereits früher erwähnt – im Alter von vier bis elf Jahren. Sie verstecken sich (uns), indem sie die Jalousie des Fensters herunterlassen, und ich werde unfreiwillig Teil dieses Spiels, das ihnen auch nach mehreren Minuten und mehrmaligem Hochziehen und Herunterlassen der Jalousie nicht langweilig werden will.
Dann zieht mich eine davon an der linken Wange, wie das Melanie normalerweise zu tun pflegt, und ruft:
Der hat ja Barthaare im Gesicht!“ und findet das ungeheuer lustig.
Natürlich, das ist männlich!“ („Mochiron, otokorashii da zo!“) sage ich dazu, und alle lachen sich halbtot – weshalb auch immer. Ich wollte natürlich einen Scherz machen, aber dass er eine solche Wirkung haben würde, habe ich nicht erwartet. Und es wird noch toller. Minato, die Kleinste aus der Gruppe kommt im Anschluss noch öfter zu mir und bittet mich, „otokorashii“ zu sagen (und nichts weiteres). Ich tue es ein paar Male und jedes Mal kugelt sie sich auf dem Boden und quietscht vergnügt. Ich wusste nicht, dass das Wort so lustig ist. Auch wenn man es mit verschiedenen Betonungen sagt… aber vielleicht sehe ich das zu rational. Ihr zur Freude mache ich den Spaß eine Weile mit, aber irgendwann wird es mir doch eine Spur zu kindisch, und ich bitte sie freundlich, damit aufzuhören. Sie tut es, ohne sich zu beschweren, aber…

Wir haben ja alle Namensschilder bekommen, selbstklebende Papierstreifen, die wir selbst beschriften. Und als nächstes malen die Mädchen gleich zwei Schilder, auf denen „otokorashii“ zu lesen ist und kleben sie mir auf die Brust. Sie bekommen später einen Platz im „Manuskript“ meines Tagebuchs. Dann gehen sie dazu über, meine Arme und Beine zu befühlen, weil sie die Muskeln so toll finden. Ich finde das ein bisschen peinlich, aber ich will auch kein Spaßverderber sein. Als seltene Attraktion kommt auch einer der Jungs zu mir, etwa sieben Jahre alt, greift nach meinem Oberarm und meint „Das ist doch bestimmt nur Fett!“ Leider muss ich ihn in diesem Punkt enttäuschen, nachdem er sich empirisch überzeugt hat. Er läuft rot an und verschwindet wieder zu seinen Freunden, die an einer Tafel in der Ecke Baseball-Spielzüge durchgehen oder „Vier gewinnt“ spielen. Die Mädchen gehen derweil dazu über, mich mit einer Tür zu verwechseln und klopfen auf meinem Oberkörper herum. „Katai!“ („Hart!“) sagen sie. Hoffentlich wechsele ich nicht ebenfalls zu auffällig die Gesichtsfarbe. Ich habe wie üblich keine Ahnung, wie ich mit diesem ungebremsten Sturm der Begeisterung umgehen soll. Also „Helm auf und Glück ab!“, wie ein Freund letztlich sagte.

Das allein waren die „Abenteuer“ bis um fünf Uhr. Dann beginnt der offizielle Teil. Ich muss endgültig auf den Boden umziehen, das Mikrofon wandert reihum und jeder stellt sich kurz vor, beginnend bei SangSu. Das Procedere „Ich bin… und ich komme aus…“ wird spätestens beim vierten Mal langweilig.
Ich nehme das Mikrofon. „Ja, wer bin ich eigentlich?“ frage ich.
Leises Lachen im „Zuschauerraum“.
Der männliche Dominik!“ („Otokorashii Dominiku!“) rufen die Mädchen, als hätte ich sie dazu aufgefordert.
Amüsiertes Lachen unter den Erwachsenen.
Sehr gut! Gibt es jemanden, der mich noch nicht kennt? Nein? Wie es scheint, bin ich berühmt…
Ich spüre deutlich die pfeilspitzen Blicke von Melanie. Ich gebe das Mikrofon also lieber weiter.

Auch Familie Jin ist mittlerweile eingetroffen und hat sich in meine Nähe gesetzt. Mutter Eiko stellt sich vor. Uh, Keigo = feinstes Japanisch. Vater Yûtaka macht das ganze weniger förmlich. „Oosu!“ ruft er zur Einleitung. Eine Art Schlachtruf von Sportmannschaften. Wieder habe ich das Gefühl, in der irrsten Familie von dem ganzen Haufen gelandet zu sein… ohne das jetzt irgendwie negativ zu meinen.
Das Ehepaar Jin trägt T-Shirts mit aufgedruckten Familienfotos. Sie trägt eines, das sie zusammen mit ihrer Tochter zeigt. Offenbar recht aktuell. Sein T-Shirt zeigt ein Foto, das 1950 aufgenommen wurde. Er sagt, eigentlich habe er das Hemd seiner Mutter geschenkt, aber sie wolle es aus Gründen des Aberglaubens oder der Pietät, je nachdem, wie man es betrachtet, nicht tragen. Er hält die rechte Seite des Fotos zu. „Die sind bereits alle gestorben“, sagt er. Die Mutter wolle die Geister der Toten nicht beleidigen. Da er selbst nicht an solche Geister glaube, habe er kein Problem damit, das T-Shirt zu tragen. Ich frage ihn, wo man solche T-Shirts machen lassen könne. Er habe es in Tokyo gekauft, sagt er. In Hirosaki gebe es einen solchen Laden wahrscheinlich nicht. Ist eigentlich auch egal. Derzeit habe ich kein Motiv, das ich unbedingt auf einem T-Shirt sehen wollte.

Dann stellen sich die Studenten in einer Reihe auf, mit Ausnahme von Melanie, die ja „nur“ ein Gast ist, ohne Gastfamilie. Wir erhalten Geschenke – die Kinder der jeweiligen Familie haben je ein Porträt von uns gemalt, auf ein Blatt Papier, A4 Format, auf Pappe aufgeklebt, mit einem Band zum Umhängen. Yûmiko hat mich gemalt. Idealisiert, ohne Brille und etwas zu blond, aber es ist das schönste Bild von allen. Aller Subjektivität zum Trotz. Yûtarô hängt mir meines um, Yûmiko gibt Sushanan ihres. Yûtarô legt mir gegenüber immer noch eine gewisse Unsicherheit an den Tag. Also muss ich ihn noch ein bisschen auftauen. Sobald ich herausgefunden habe, wie ich es anpacken kann. Natürlich werden Fotos gemacht, wir mit unseren Porträts.

Dann beginnen die obligatorischen Spiele. Zum Aufwärmen der „L-O-V-E“ Song. Ich kriege die Fingerbewegungen nicht koordiniert. Auch das Spiel, wo jemand eine Zahl sagt und sich dann entsprechend große Gruppen bilden müssen, wird noch einmal durchexerziert. Aber diesmal bin ich darauf gefasst und kann unverkrampfter an die Sache herangehen. Danach stellen sich zehn Freiwillige in die Mitte des Raumes, die übrigen bilden einen Kreis um sie herum. Dann wird eine Musik gespielt, der äußere Kreis bewegt sich im Takt der Musik auf die Mitte zu und jeder tritt irgendjemandem (sanft) ans Bein. Ich sehe davon ab, jemanden zu treten. Ich habe keine Ahnung, was das hier bedeutet, aber die Gesetzmäßigkeiten erschließen sich schnell. Der Tritt ans Bein ist gewissermaßen eine Herausforderung zum Jan-Ken-Pon. Okay, alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei. Die Melodie hört auf zu spielen und die Getretenen gehen zum jeweiligen Herausforderer und spielen mit ihm/ihr Jan-Ken-Pon. Wer verliert, muss in die Mitte, bzw. in der Mitte bleiben. Man hat zehn Sekunden Zeit, mit Leuten Jan-Ken-Pon zu spielen, um aus dem Kreis herauszukommen, bevor die Musik wieder zu spielen und der Tanz von vorne beginnt. Da die Vierjährige offenbar einen Narren an mir gefressen hat, sehe ich mich die ganze Zeit über ihren „Attacken“ ausgesetzt, und sie hat ein diebisches Vergnügen daran, mich so kräftig zu treten, wie sie nur kann – aber da sie bestenfalls 20 Kilo wiegt, ist das nicht viel. Jin Eiko bedient die Stereoanlage, da sie mit ihrem gerade wieder halbwegs brauchbaren und noch immer bandagierten Fuß nicht mitspielen kann. Ich hoffe, sie langweilt sich nicht allzu sehr.

Nachdem ich dann alle Spiele ohne bleibende Schäden überstanden habe, gibt es was zu Essen. Und davon nicht zu wenig. Die Familien haben es zubereitet. Da steht eine Art Rahmkuchen, der eher wie ein großes Omelett aussieht, Obstsalat, Onigiri (Reisbällchen) verschiedener Art, gekochte Hühner(-unter-)schenkel, Spaghetti mit mehreren Sorten Soße, darunter Hackfleischsoße, eine scharfe Tomatensoße und sogar Pesto, eine Art Kuchen, dessen einzelne Stücke man andernorts als „Brownies“ bezeichnen würde, kleine Cupcakes, Reis mit Gemüse, Nudeln mit Fleisch und Soße, frittiertes Schweinefleisch, frittierte Teigstückchen, frittierter Teig mit Fleischstückchen, natürlich Sushi, und etwas, das man in Deutschland als „Schweinebraten mit dunkler Soße“ bezeichnen würde. Fast das gleiche wie zuhause, nur der Daikon-Rettich und das Gemüse in der Soße wirken daran japanisch. Und das Fleisch wurde bereits mundgerecht geschnitten, damit man es ohne Messer und Gabel mit Stäbchen essen kann. Nachdem ich von allem eine Portion gegessen habe, bin ich natürlich satt, aber ich nehme noch ein paar Happen von den Sachen, die besonders gut waren. Jetzt bin ich kurz vor „überfressen“.

Übrigens ist auch die Chinesin, die so schön getanzt hat, hier. Mit der offenen Frisur habe ich sie nicht sofort erkannt. Erst das Bild, das man ihr geschenkt hat, brachte mich in die richtige Richtung, weil sie darauf in dem entsprechenden Kostüm dargestellt ist. In japanischer Transkription heißt sie „FanFan“. Die chinesische Originallesung kann ich nicht aussprechen; sie überträgt sich u.a. etwa als „KanKan“ ins Japanische, aber das klingt ja furchtbar…. Das Original jedenfalls kann ich mir nicht merken und… na ja, dann lieber „FanFan“. Meine Bitte, sie möge doch bei anderer Gelegenheit noch einmal tanzen, weist sie höflich und lächelnd zurück.

Nach dem Essen führen die Kinder ein kleines Stück auf, das offenbar aus Russland stammt – und es scheint die russische Version von der „Rübe“ zu sein. „Die Rübe“ ist ein Gedicht oder ein Lied, das sich in einem meiner Lesebücher der Grundschule befand, dritte Klasse, glaube ich, und es geht darum, dass einer aufs Feld geht und eine riesige Rübe vorfindet, die er allein nicht aus der Erde ziehen kann; also ruft er Verstärkung, und einer nach dem anderen kommt, um beim Herausziehen der Rübe zu helfen, bis schließlich alle gemeinsam anpacken und die Aufgabe bewältigen.
Die gezeigte russische Version handelt von einem Bauern, der seine Frau, seine Kinder und seine Eltern zu Hilfe ruft, und schließlich ziehen alle Bewohner des Hofes gemeinsam an der Rübe, vom Bauern bis zum Hofhund, der Katze und der Maus. Die Kinder haben hierzu entsprechende, wenn auch einfache Kostüme gebastelt. Sehr niedlich. Jin Eiko hält während der Vorführung Pappschilder in die Luft, auf denen die Szenen noch einmal in Bilderform aufgemalt sind und liest von der Rückseite den Erzähltext ab. Die Rübe, um die es letztendlich geht, ist ein Zusammenschnitt aus einem großen roten Kopfkissen und grünen Stoffstücken in Blattform.

Dann ist das Programm zu Ende und das Einpacken und Verteilen des restlichen Essens beginnt. Die Tische werden gesäubert und zusammen mit den Stühlen wieder in die jeweilige Ausgangsposition geschoben. Nach und nach verlassen die Leute das Gebäude und ich passe noch einen der Erwachsenen ab, der ein olivgrünes Hemd trägt, das vor einigen Jahren noch Eigentum der deutschen Bundesluftwaffe gewesen war, noch mit Adler an der Schulter und mit Bundesflagge Schwarz/Rot/Gold. Ich frage ihn, wo er das gekauft habe und ob man dort auch japanisches Material kaufen könne. Er habe es in Hirosaki gekauft, sagt er, aber der Laden habe inzwischen geschlossen. Und es gebe nur Material aus dem Ausland, hauptsächlich aus den USA und aus Deutschland. Japanische Uniformen habe er keine gesehen. Das finde ich zwar nicht sehr hoffnungsspendend, aber wenn es noch mehr ausländisches Material gibt, kann ich in Japan vielleicht einen russischen Tarnanzug kaufen, ohne dafür gleich nach Polen oder weiter fahren zu müssen… von Trier aus fährt ja ein Bus direkt nach Minsk. Ich werde auf jeden Fall weiter versuchen, einen Tarnanzug der Jieitai, der japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte, zu ergattern.

Um 19:30 sind wir wieder zuhause und sehen uns „30 Menschen, 31 Beine“ an. Dreißig Grundschüler bilden eine Reihe, ein Bein jeweils an das des Nachbarn gebunden. Sie laufen nacheinander eine Strecke von 50 Metern gegen die Zeit und natürlich gegen Teams aus anderen Gegenden Japans; insgesamt ein Dutzend Mannschaften, die die Vorausscheidungen gewonnen haben, um hier bei den japanischen Meisterschaften antreten zu können. Als Gast ist eine Mannschaft aus Kuba dabei. Die Kubaner scheitern im Halbfinale. Was reden die eigentlich für eine Sprache? Natürlich eine Art Spanisch, aber nach Spanisch hört sich das für mich nicht mehr an. Die ganze Angelegenheit ist sehr emotional. Bei den Verliererteams bricht sich die Anspannung in Form von Tränen feuchte Bahnen. Die begleitenden Lehrer gleich mit. Man hat den Eindruck, die Jungs und Mädchen seien der Meinung, man würde ihre Eltern auf Nimmerwiedersehen nach Sibirien deportieren, sollten sie nicht gewinnen. Aber man sagt mir auch nach, ich sei emotional halbtot. Ich sehe mir die Sendung nicht ganz bis zum Ende an. Nach dem Ausscheiden der Kubaner gehe ich schlafen. Und während ich schlafe… aber das erzählt mir Melanie erst später.

Schreibe einen Kommentar