Code Alpha

Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

19. Dezember 2023

Freitag, 19.12.2003 – Heimatland, schönes Land?

Filed under: Japan,My Life,Uni — 42317 @ 7:00

Als ich nach dem Aufstehen den Wasserhahn aufdrehe, kommt nichts raus. Aha. Dann haben sie in der Parallelstraße wahrscheinlich wieder die Wasserleitung in Arbeit. Dann schreibe ich den Hausaufgabentext eben vor dem Duschen, so das Wasser zurückkehren sollte, bevor ich zur Uni muss. Ich drücke mich heute wirklich seltsam aus. Oder kommt mir das nur so vor? Was ist los? Ich weiß es nicht… ich muss immer so schreiben, wie es mir in den Sinn kommt, alles andere gefällt mir tags darauf (da! Schon wieder so ein Begriff!) schon nicht mehr.

Ja, das Wasser. Nein, eben nicht das Wasser, sondern der Fisch…, nein, mein Text. (Eine Stunde nach dem ersten Versuch haben wir wieder Wasser.) Ich muss also noch einen Text (für den Kurs von Ogasawara-sensei) entwerfen… zu lange aufgeschoben habe ich das ganze schon. Und schreiben tue ich schon wie Yoda. Sei’s drum. Auf jeden Fall stehe ich rechtzeitig auf, um noch meinen Text schreiben zu können. Wir sollen einen kurzen Vortrag halten, und zwar über unsere Heimatstädte, im Unterricht von Ogasawara-sensei. Genau. Ja, das wäre bei mir dann wohl Gersheim. Aber über Gersheim gibt es auf den ersten Blick zumindest nicht sehr viel zu erzählen. Da muss ich ein paar Minuten nachdenken… ich greife ausweichend zu meinem Stück Leinen, auf das ja noch etwas eingestickt werden soll, oder besser: es fehlen noch zwei Drittel von dem Werk. Ich sticke also weiter drauflos, um mich von meinem Gersheim-Vortrag abzulenken.

Ich stelle dabei fest, dass es gar nicht so schrecklich einfach ist, auf einem quadratischen Grundmuster einen runden Buchstaben hinzubekommen… aber für jemanden, der das noch nie in seinem Leben gemacht hat und zwei Minuten braucht, bis der vermaledeite Faden endlich in dem Öhr ist, habe ich meine Aufgabe gar nicht schlecht gemacht. Ein paar Koordinationsfehler sind leider sehr offensichtlich, aber ich bin im Großen und Ganzen zufrieden damit. Das wird mein „Bild des Tages“ am Tag des Abgabetermins. Und der ist, wenn ich mich recht erinnere, am 15. Januar.

Aber dann hat mich mein Text wieder. Ich mache eine Stichwortsammlung, und hoffe, dass ich alle Vokabeln noch auftreiben kann. Damit die Angelegenheit nicht zu kurz wird, integriere ich noch ein paar Dinge, die nicht direkt im Ort sind, sondern auch ein Stück weg, sofern zu Fuß erreichbar. Was haben wir denn… ich stelle fest: ich weiß noch nicht mal, wie alt der Ort ist. Ich sage einfach mal 800 Jahre.1 Erstens wird das keiner in der Klasse überprüfen und nach dem Unterricht haben es alle wieder vergessen. Als nächstes gibt es Orchideen bei uns. Ja, das wird gut ankommen. Wir haben ein Kalkwerk, und man findet versteinerte Fossilien auf dem Feld. Hui, die Vokabel ist vielleicht zu bissig… das lasse ich unter den Tisch fallen. Die Vokabel für „Naturschutzgebiet“ reicht mir schon zu Genüge. In weiterer Entfernung haben wir die römische Villa bei Reinheim (ich schließe das großzügig in Gersheim mit ein), das Keltengrab an gleicher Stelle, und natürlich muss ich den kurzen Fußweg bis nach Frankreich ansprechen – da staunen nämlich die Asiaten immer alle und finden das ganz toll, dass ich zu Fuß und ohne Grenzkontrollen nach Frankreich gehen und dort frz. Waren kaufen kann, einfach so, mal schnell vor dem Frühstück und eigentlich immer, wann mir danach ist. Dass mir eigentlich noch nie danach gewesen ist und ich die nahe frz. Grenze als etwas Alltägliches und etwas wenig aufregendes betrachte, wollen Menschen aus Asien nicht recht verstehen.
Ja, aber ihr Chinesen, ihr habt die Große Mauer – und ihr Japaner, ihr habt den Ise-Schrein!
Ach so, ja, das…
Scheinbar ist die Indifferenz gegenüber kulturellen Gegebenheiten nur eine Frage der Gewohnheit.

Wenn ich in Deutschland von zuhause aus ein paar Kilometer weit gehe oder fahre, gehe ich an Jahrhunderten von Geschichte vorbei, ohne, dass es mir sonderlich auffallen würde. Kirchen! Was sind denn schon Kirchen? Wer braucht Kirchen, mein Gott… (ja, genau der braucht die!), aber wenn ich in Hirosaki durch die Stadt gehe, fällt mir jeder Schrein ins Auge, als habe er eine Neonreklame ausgehängt. Das heißt, es sind wohl die markanten roten Tore, die mich optisch anspringen. Um Himmels Willen, ein kultureller Monolog entfaltet sich. Nicht heute.

Der Vortrag wird auch gar nicht schlecht. Es ist der einzige, der von Fragen seitens der Zuhörer, und nicht von Vokabelkorrekturen seitens der Lehrerin beendet wird. Manzoku da ne.

Danach gehe ich in die Bibliothek und schreibe meine Post. Und ich stelle erst jetzt fest, dass ich meine beiden Uhren zuhause vergessen habe. Also muss ich die Zeit abschätzen. Nicht, dass ich auch jemanden hätte fragen können… auf jeden Fall sorgt das Missgeschick vom Morgen dafür, dass ich eine Stunde zu früh zuhause bin. Schon um halb sieben. Macht nichts, dann kann ich ja den „Doraemon“ Film ansehen, der für heute im Programm steht. Inklusive Werbung dauert der Film zwei Stunden, und dann habe ich immer noch bequem Zeit zum Einkaufen, da mein Supermarkt ja jeden Tag bis um 21:45 geöffnet hat. Das wird mir in Deutschland fehlen.

1 Erste urkundliche Erwähnung findet der Ort um 1150 als „Geroldesheim“.

Schreibe einen Kommentar