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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

2. Dezember 2023

Dienstag, 02.12.2003 – „In deinem Nichts hoff ich, das All zu finden.“

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 7:00

Sonnenschein am Morgen. Wie üblich. Es ist im Freien weit weniger kühl als im Treppenhaus, also ziehe ich die Handschuhe wieder aus und fahre ohne zur Universität. Nach dem Unterricht bei Yamazaki-sensei fahre ich zur Post, um meine Stromrechnung zu bezahlen, und anschließend nach Hause. Dort nehme ich meinen leeren Kerosinkanister und besorge mir eine neue Füllung für 850 Yen. Dann fahre ich zur Uni zurück. Bis zum nachfolgenden Unterricht ist noch genug Zeit, um mein Postfach zu überprüfen und ein paar kurze Antworten zu verfassen.

Die Einführung in das Studium des Buddhismus bringt mich indes dem Verständnis dieser Lehre (Leere!) keinen Schritt näher. „Nirvana“ ist offenbar eine Art Zustand, den man als Lebender erreicht – Nirvana ist keineswegs eine Art „Himmel“, in den man einzieht, sobald man als Erleuchteter den Weg alles Irdischen gegangen ist. Nein, nein, der Buddha erlangt Erleuchtung, und das ist Nirvana, und lebt dann ein Leben frei von allem Leiden. Und dann stirbt er. Und wird nicht wiedergeboren – ein Buddha zu werden, bedeutet, das letzte Leben erreicht zu haben.
Ja, Moment mal – und was ist danach?
Was bleibt von einer Flamme, nachdem man die Kerze ausgepustet hat?
Nichts… Nichts?!? Was soll das heißen: ‚Nichts’?
Nichts heißt ‚Ende, Aus, Vorbei’. Nach diesem letzten Leben kommt eben nichts mehr. Das ganze Leben ist doch eh nur eine Illusion. Und nur Nichts ist frei von Leiden.

Das heißt, ich lebe Hunderttausende Jahre, Hunderttausende Leben lang, im wahrsten Sinne des Wortes wie ein Mönch, um ein lächerliches halbes Leben lang (bewusst) frei von Leiden zu sein? Das ist doch völlig sinnfrei! Als Christ muss man sich „nur“ ein Leben lang darum bemühen, anderen Leuten lediglich nichts Böses anzutun, um in den Himmel zu kommen. Darauf arbeiten alle wahren Christen hin – wo ist die Motivation für wahre Buddhisten? All der Verzicht… für nichts? Dann verzichte ich doch lieber auf das Nirvana, nehme Schmerz und Leid in Kauf und bekomme dafür Freude, Spaß, Liebe, Wollust und (ab und zu ein bisschen) Alkohol. Das ist mir zu verrückt. Oder zu hoch. Ich bin mir nicht sicher. Aber für die Klausuren müssen wir auch nichts verstehen, sondern nur die theoretischen Fakten kennen.

Für mich gibt es also kein Nirvana. Aber das wird in diesem Weltzyklus sowieso nicht mehr gehen. Man muss entweder selbst ein Buddha werden oder von einem unterrichtet werden, um Nirvana zu erlangen. Und der nächste Buddha (Maitreya Buddha) wird erst auf der Bühne der Welt erscheinen, sobald die Lehren des letzten Buddha (Gauthama Buddha) und der ganze Buddhismus völlig vergessen worden sind und die Welt von der Apokalypse dahingerafft worden ist, worauf sie neu entsteht und dem nächsten Buddha eine Heimstatt bietet. Diese Weltzyklen sind übrigens die längsten der Menschheit bekannten Zeiträume. Philips sagt, der buddhistische Weltenzyklus stehe im Guinness Buch der Rekorde. Ich habe die Zahl nicht mehr im Kopf, möglicherweise hat Philips auch keinen konkreten Zeitraum genannt, aber es gibt eine Art Gleichnis, das ein klassisches Beispiel für die Superlative indischer Mythologien ist: Man stelle sich einen typischen Berg vor, sagen wir den Berg Fuji, den Watzmann, das Matterhorn oder von mir aus den Großglockner. Zumindest einer davon sollte jemandem ein optischer Begriff sein. So, jetzt geht alle 100 Jahre ein Mensch zu diesem Berg und reibt ein Seidentüchlein an dem Felsgestein – der Berg wird abgetragen sein, bevor der Zyklus vorüber ist. Ist das nicht irre?

Im Anschluss gehe ich in die Bibliothek, um den Bericht vom 21.11.2003 fertig zu schreiben und mit dem 22.11. zumindest zu beginnen. Schließlich war da auch einiges los und die Post wird bestimmt ebenfalls ein Zweiteiler…
Beethoven Radio“ zu hören lohnt sich heute besonders. Ich höre die Ouvertüre von „Willhelm Tell“ und Teile von Beethovens Fünfter Symphonie. Seltsamerweise spielen sie auch den Soundtrack von „Indiana Jones and the Temple of Doom“ und „Raiders of the Lost Arc“. Ich bin nicht sicher, was diese Stücke hier zu suchen haben, aber ich freue mich, dass sie laufen.

Zwischendurch kommt SangSu zu mir herüber und teilt mir mit, dass Jû morgen wegen der Hochzeit seiner älteren Schwester nach Korea zurückfliegen werde. Aus diesem Anlass finde am heutigen Abend ein Essen statt und wir seien eingeladen, um 20:00 vorbeizukommen. Um kurz vor sieben verlasse ich die Bibliothek und werde von Regen begrüßt. Keine dicken Tropfen, aber viele, viele kleine. Das freut mich wenig, ganz ohne Schirm und Schutzblech. Aber es wird weniger, und als ich zuhause ankomme, hat es bereits aufgehört. Aber ich muss ja erst noch zum Beny Mart. Dort stelle ich fest, dass das komplette Sushi-Angebot um 50 % reduziert ist. Ich lasse mich nicht zweimal bitten und nehme vier Pakete mit. Ich treffe Melanie am Getränkeregal. Also deswegen brannte oben kein Licht in der Wohnung. Sie weiß bereits von der Einladung und sagt, dass die „Party“ angeblich bei SangSu stattfinde. In SangSus Höhle? Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Keine Frau würde sein Apartment freiwillig ohne Schusswaffe betreten, um sich all dessen erwehren zu können, was sie aus den Regalen, dem Abfluss und aus dem Kühlschrank anspringen könnte…

In der Tat findet das Essen bei SongMin statt. Anwesend sind nur Melanie und ich, SongMin, SangSu, Jû und eine weitere Studentin aus Korea mit dem Namen SungYi. Wir haben Sushi und ein paar Süßigkeiten mitgebracht. Das vorhandene Essen besteht aus einer Reisbeilage (was sonst), und dazu zwei zumindest optisch identische koreanische Suppen. Von der linken heißt es, sie sei scharf, die rechte sei süßlich. Aha. Nun ja, in meinem Hinterkopf steht die Meinung (oder das Wissen), dass koreanisches Essen mitunter sehr feurig sein kann, also mache ich mich auf einiges gefasst. Alternativ gibt es zum Reis auch etwas, das aussieht, wie gebratene Paketschnur. Was das denn sei, möchte ich wissen. Aber das japanische Wort sagt mir nichts, und ein englisches gibt es dafür in dem Kanjitank nicht. „Sakana no tomodachi“, sagt SangSu, „ein Freund vom Fisch“. Er ist der Meister der kindgerechten Umschreibung. Ich runzele belustigt die Stirn, Jû lacht. Okay, ich gehe also davon aus, dass es im Meer gelebt hat, bevor es auf dem Teller hier gelandet ist. Es handelt sich wohl um ein zerkleinertes Tier, dass man durch eine Presse gedreht hat.

Ich bekomme eine Schüssel Reis und möchte etwas von der scharfen Suppe. Jû sagt, sie könne für Europäer ein wenig zu scharf sein. Melanie sagt, sie sei wirklich scharf. Allerdings muss das nichts heißen, wenn Melanie das sagt. Ich nehme ebenfalls etwas davon. Ja, sie ist scharf, es entfaltet sich ein Brennen im Mundraum. Aber wenn man zwei bis drei Bissen davon gegessen hat, verschwindet das Brennen weitgehend und macht einem sehr angenehmen Essgefühl Platz. Zumindest bei mir. Ich will in dieser Angelegenheit nicht für Melanie sprechen. ?

Also, das kann ja wohl nicht alles sein. Ich verlange eine von den grünen Chilis in dem Suppentopf. Die versammelten Koreaner halten das für mutig. Diese Schoten seien sogar für Koreaner scharf, sagen sie. Schön, dann nur her damit. Die erste esse ich mit Reis, zur Sicherheit. Hm… habe ich da gerade eben wirklich eine Chilischote gegessen? Ich bitte um eine weitere. Die zweite esse ich ohne „Verdünnung“. Mein Publikum traut seinen Augen nicht. Ja? Hallo? Zunge an Chili: Wo bleibt die Schockwelle? Also, die Peperoni in Berfins Bistro in Blieskastel sind genauso scharf, und haben mehr Eigengeschmack. Ich bin von der Schärfe der Suppe hier nicht beeindruckt. Und werde für meinen Todesmut bewundert. Die Suppe der Thailänder auf der Internationalen Party – die war beeindruckend scharf!

Die Suppen machen sich aber geschmacklich sehr gut am Reis und ich lobe auch die Suppe, die SangSu gemacht hat. Um ihn ein wenig dafür zu entschädigen, dass SongMin ihm unterstellt, er könne bestenfalls Instant-Ramen aufwärmen und dass Jû scherzhaft sagt, die Suppe habe bestimmt keinen Geschmack. Sie ist nicht das, was ich süß-scharf nennen würde, es handelt sich lediglich um eine „zahme“ Version der scharfen Suppe daneben. Aber sie schmeckt sehr gut ich bin sehr dankbar, dass ich davon essen darf.

Der Nachtisch ist ein Salat. Der Salat sieht aus wie ein Obstsalat mit Joghurt. Ist es aber nicht. In der Schüssel befinden sich Bananen- und Äpfelstücke, sowie kleingehackte Shrimps, das Ganze wird gezuckert und mit… mit Mayonnaise verrührt. So was Verrücktes hat man mir ja lange nicht vorgesetzt! Aber verrückte Kreationen haben mich noch nie abgeschreckt und der Geschmack ist sehr überzeugend. Mayu!1Die andere Hälfte der Bananen und Äpfel wird als Häppchen auf den Tisch gestellt, ohne weitere Zusätze.
Während des Essens stellt sich heraus, dass SongMin Süßigkeiten nicht sehr mag, und auch auf Sushi gut verzichten kann. Dann weiß ich ja, was wir beim nächsten Mal nicht mehr mitbringen. SangSu erzählt, dass er mich beneide, weil ich eine Freundin habe und auch noch mit ihr zusammenwohne. Er dagegen sei ganz einsam. An manchen Tagen ziehe er sich die Decke über den Kopf und weine vor sich hin. Ich bin allerdings jetzt nicht in der Stimmung, das ernst zu nehmen, und empfehle ihm, sich doch eine hübsche Japanerin zu suchen. Ja, wenn er nach Tokyo fahre, werde er das in Angriff nehmen, sagt er. Ich glaube, das ist eine Aussage, die ich unverifiziert an mir vorübergehen lassen kann.

Als wir gehen, kündige ich noch an, dass ich die Ferien im Frühjahr dazu nutzen möchte, Videos anzusehen, unter anderem auch die „Tom & Jerry“ Sammlung, die man in der Videothek ausleihen kann. SongMin und SungYi sind zumindest nicht abgeneigt, habe ich den Eindruck. Dann bin ich mit meinem Plan hoffentlich nicht allein. Erstens reduziert das die Kosten und mit mehreren Leuten macht es auch gleich mehr Spaß. Und Tom & Jerry haben den Vorteil, dass man keine Sprache der Welt beherrschen muss, um der Handlung folgen zu können – no speech, just action, zusehen und lachen! Zumindest hoffe ich, dass niemand in Japan auf die Idee gekommen ist, den beiden einen Hintergrunderzähler zu verpassen, wie das in Deutschland der Fall war.

Ich könnte den deutschen Erzähler die meiste Zeit erwürgen, weil die Regie krampfhaft den Versuch macht, Tom zu dem „Bösen“ und Jerry zu dem „Guten“ zu machen, der mit seiner Klugheit und seinem Witz über der Einfalt und dem Geltungswahn des anderen steht. Dagegen offenbart sich dem aufmerksamen Zuschauer, dass beide, Kater wie Maus, ihre Marotten haben und keine Gelegenheit auslassen, dem anderen eins auszuwischen. Bei den beiden gibt es keine Schwarzweiß-Malerei. Schlimmer wäre nur noch gewesen, wenn sie den beiden Dialoge gegeben hätten… dann müsste ich bittere Tränen weinen!

Bevor ich mich schlafen lege, lese ich „Kata Ude“ noch einmal. Aber der Text sagt mir ebenso viel wie letzte Woche. Und die Vokabeln für den nächsten Kanjitest sollte ich auch noch einmal durcharbeiten.

1 Aus Gansô Debuya. Das rufen die kulinarisch Reisenden, wenn es ihnen schmeckt, also quasi andauernd.