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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

1. Dezember 2023

Montag, 01.12.2003 – Fliegengewicht

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 7:00

Der erste Dezember. In drei Wochen ist also Weihnachten. Die Vorfreude droht mich zu zerreißen.
Sonne am Morgen, Wolken ab Mittag, also auch da nichts Neues. Ich arbeite in der Bibliothek und höre Musik. Dem Japaner neben mir ist sie zu laut, offenbar habe ich mit „SnakeMetal Radio“ ein wenig übertrieben. Er zupft mich am Ärmel und weist auf seinen Bildschirm, wo er ein neues Dokument geöffnet hat:
This is a library“ schreibt er (weil er sich das Sprechen nicht zutraut, möchte ich annehmen), „please turn up the volume.“ Was bitte? Ach so, ja, klar. Der Kontext macht seine Absicht deutlich. Ich sage ihm, dass ich verstanden habe und weise ihn darauf hin, dass „up“ eigentlich das Gegenteil von dem ist, was er mir mitteilen will. „Rock the Lib!“ wäre aber vielleicht ein durchaus interessantes Konzertprojekt.

Yamazaki-sensei behandelt heute einen Text, in dem es um Landkarten geht. Und den verstehe ich auf Anhieb – die unbekannten Vokabeln sind ja immer angegeben, aber diesmal ist keine Satzstruktur dabei, die ich erst in meinem Grammatikkompendium würde nachschlagen müssen. Dass ich das auf meine alten Tage noch erleben darf! Und vor Unterrichtsende gibt er uns die Hausaufgaben zurück, die wir das letzte Mal haben abgeben müssen. Es ging darum, einen Text zu schreiben. Egal über was. Wir sollten nur die Formalitäten beachten, also unter welchen Umständen man Satzzeichen setzt, wo man eine Freistelle lässt und wo nicht, und das über 200 Zeichen. Das ist etwa eine halbe Seite. Ich habe drei Formfehler gemacht und ein Kanji falsch geschrieben (den letzten Strich von „toki“ = „Zeit“, vergessen). Verbesserungsbedürftig, aber generell in Ordnung. Nur habe er den Text überhaupt nicht verstanden. Wirklich verübeln kann ich ihm das nicht… wer meine japanischen Vorträge in den Kursen von Katsuki-sensei gehört hat, weiß, dass meine Thematik recht einseitig und meine Struktur etwas irre ist. Wenn eine Textstruktur vorhanden ist. Ah ja, und die wenigen hier, die meine Texte aus dem Unterricht in der Unterstufe bei Frau Bamberg kennen, können noch weit besser nachempfinden, wie sich Yamazaki-sensei bei der Lektüre meines Werkes wohl gefühlt haben mag. Die Überschrift lautet „Gefahr“. Im Grunde genommen handelt es sich um eine Aneinanderreihung der Sammlung militärischer Vokabeln, die ich wegen meines Forschungsthemas angelegt habe. Da steht in etwa:

Beim Militär ist es gefährlich! Es war, es ist und es bleibt gefährlich! Antreten, Helme auf, Kampfflugzeuge, Panzer, Raketen, Handgranaten, Sturmgewehre, Pistolen, Geschütze. Und es ist kalt auf dem Übungsplatz! Und nachher, zurück in der Kaserne, saufen wir uns um den Verstand! Da kann man eine Alkoholvergiftung bekommen – und das ist auch gefährlich! Am besten geht man nicht zum Militär!“

Da der Mann wahrscheinlich nie bei der Armee war, kann er diese „Zusammenfassung“ natürlich nicht sonderlich gut verstehen. Aber es hat Spaß gemacht, den Text zu schreiben.

Zurück im Center lasse ich mir von Mélanie die französischen Textstellen in dem „Noir“ Artbook übersetzen. Sie sagt, die Sätze seien zwar richtig, aber für einen Muttersprachler hörten sie sich dennoch seltsam an, auch, wenn man den unbekannten Kontext außer Acht lasse. Wahrscheinlich muss man die Serie sehen, um herausfinden zu können, was „Die schwarzen Hände beschützen den Frieden der Neugeborenen“ bedeutet. Oder war es „Die schwarzen Hände schützen die Neugeborenen vor dem Frieden?
Mit „Weißkreuz“ geht es mir als deutschem Muttersprachler ja nicht besser, wo auf einem Poster in deutscher Sprache zu lesen ist: „Sie kämpfen statt des Gesetzes… für das ‚Weiß’, das in unserer Zeit noch erhalten ist…“ Ich habe es erst letztlich im „Animedia“ Laden gesehen (wo ich das Weihnachtsgeschenk für meine Freundin kaufen will). Die Rhetorik ist eigentlich die gleiche, aber es geht bei „Weißkreuz“ a) um männliche Exterminatoren und b) steht da die Farbe Weiß im Vordergrund, und nicht Noir, also Schwarz. Das macht mir „Noir“ gleich viel sympathischer. Ganz zu schweigen vom Charakterdesign und den Stimmen der Hauptrollen – Mitsuishi Kotono spricht Mireille Bouquet, wenn ich mich recht erinnere.

Im Animedia erfuhr ich übrigens etwas sehr interessantes. „Dating Games“ sind ja ein sehr verbreitetes Phänomen, wie einige Leute sicher wissen. Dabei geht es normalerweise um einen männlichen Protagonisten, meist im Highschool-Milieu, also 16 bis 18 Jahre alt, der unter einer mehr oder weniger großen Auswahl von Frauen und Mädchen seine Herzensdame aussuchen soll. Mal mit mehr, mal mit weniger rollenspielähnlichen Anteilen, und mal mit mehr und mal mit weniger Sex. Bisher! Ich habe im Animedia eine Werbebroschüre von Konami gesehen, die da aussagt, dass es von „Tokimeki Memorial“ eine Ausgabe für Mädchen gibt! Eine weibliche Heldin, höchstwahrscheinlich an einer Highschool, an der es von Bishônen (hübschen Jungs) nur so wimmelt. Und es gibt bereits Merchandising, wie z.B. Karten zum Sammeln und Tauschen („Trading Cards“) mit den männlichen Charakteren. Natürlich mag es das Spiel schon länger geben – ich habe auf das Ausgabedatum nicht geachtet – aber ich habe nichts davon gewusst. Und ich finde die Idee, bei dem Spielkonzept die Geschlechterrollen zu vertauschen, sehr interessant. Und vor allem war das schon lange notwendig. Jetzt würde mich natürlich interessieren, wie weit die „weibliche“ Version des Spiels geht. Die „Tokimeki“ Spielserie hat meines Wissens nach keinen Ruf als pornografisches Medium. Und ausgerechnet die „Tokimeki“ Serie habe ich noch nicht gespielt.

Nach der Unterhaltung mit Mélanie gehe ich in die Bibliothek zurück, um Berichte zu schreiben. Ich treffe Mei dort an, die sich an den Rechner neben mir setzt. Ich grüße sie und schreibe weiter. Dann klopft sie mit dem Finger auf meinen Tisch, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich setze die Kopfhörer ab und frage, was ich für sie tun könne. Ob ich wisse, wie man den Stuhl nach unten verstellt. Ja, sicher. Bitte setzen. Rechts hinten am Stuhl befindet sich ein Klapphebel. Wenn man daran zieht, während man auf dem Stuhl sitzt, dann sinkt die Sitzfläche nach unten. Ich wundere mich noch, warum sie das nicht weiß – China schießt Astronauten ins All, also werden die wohl Bürostühle mit Höhenverstellung kennen. Sie zieht an dem Hebel – aber nichts passiert. Der Stuhl sei offenbar kaputt. Ich lache darüber – ich winke sie von dem Stuhl herunter, und setze mich selbst darauf. Und der Stuhl funktioniert einwandfrei. Sie ist zu leicht, um den Stuhl nach unten zu drücken!