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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

17. Dezember 2009

Stückwerk ist unsere Erkenntnis, Stückwerk unser Tun… (2/3)

Filed under: Creative Corner,My Life — 42317 @ 23:36

Mit einem lauten, wenn auch leicht gedämpften Aufprall landete der große Wasserkocher der Station auf dem Fliesenboden in der Küche des Pflegeheims, und 20 Liter heißes Wasser verteilten sich dampfend im Raum. Der Altenpflegehelfer zog eine Augenbraue hoch und lächelte süffisant, drei Sekunden später stand der Altenpfleger in der Tür. Die betreten dreinblickende Gestalt, die verlegen das zerstörte Thermostat begutachtete und aus kniender Position zu ihm aufsah, sagte ihm alles, und selbst wenn er sich nicht sicher gewesen wäre, hätte ihm der Blick seines nächsten Untergebenen den Schuldigen des Vorfalls sofort verraten.
„Herr S.! Passen Sie doch besser auf! Jetzt muss das Wasser neu gekocht werden und das Frühstück unserer Patienten verzögert sich… hat Ihnen das Geschirr letzten Monat noch nicht gereicht? Jetzt sehen Sie mich bitte nicht so an!“
S. wusste aber nicht, wie er gerade guckte. Der Altenpfleger war wohl der Meinung, er sehe ihn komisch an, weil ihn die Standpauke nervte. Dabei war S. gerade dabei, sich selbst, im Geiste, in den Hintern zu treten, dabei machte man wohl auch so ein Gesicht. Aber nur wenige Leute hatten Verständnis dafür, dass man mit sich selbst nicht weniger kritisch umging, als mit anderen Leuten. Der Altenpfleger seufzte genervt und verschwand wieder.
„Es ist ja nichts Schlimmes passiert… der Kübel ist ersetzbar,“ sagte der Altenpflegerhelfer.
Ja, das Dumme ist aber: Ich bin es auch. Das sagte S. aber nicht. Er dachte es nur.
„Na komm, ich hol den Ersatz aus’m Lager, hol Du Lappen und Kehrblech…“ sagte der Altenpflegerhelfer und lächelte weiter, während er den Lagerschlüssel aus der Schublade nahm.
Soll er nur lächeln, dachte S., und wusste sehr gut, warum der so lächelte. Für den Fall, dass er in Ungnade fiel, würde er, S., seinen Job problemlos übernehmen können, und seinen eigenen potentiellen Nachfolger einzuweisen war wohl eine Aufgabe, die niemand mochte. Aber selbst, wenn S. den nächst höheren Job gewollt hätte, Festeinstellung hin oder her, sah er in letzter Zeit seine Chancen immer mehr schwinden, eine längere Anstellung zu erhalten. Die brauchten keine Leute, die Sachen kaputt machten, und der Personalchef machte seine Entscheidung natürlich von der Aussage des Altenpflegers abhängig, von dem S. wusste, dass er ihn nicht leiden konnte. Dass er den Bewohnern mit echter Sympathie entgegentrat, während der Altenpfleger und der Altenpflegehelfer die ihnen anvertrauten Leute wie Lagerposten verwalteten, anstatt sie als individuelle Menschen zu betrachten, spielte keine Rolle. Sie machten die von Ihnen erwartete Arbeit richtig. Technisch zumindest. Der Altenpflegehelfer beendete seine Lehrgänge sogar für gewöhnlich als Seminarsbester und würde zweifelsfrei irgendwann in eine leitende Position aufsteigen. Eine Beurteilung der Persönlichkeit war ja in keinem Test vorgesehen.

Am folgenden Morgen wachte er auf und es wurde ihm speiübel, wenn er nur daran dachte, in dieses verdammte Haus voller Arschlöcher zu gehen, um wieder zwischen Kaffeekochen, dem Wechseln genässter Bettwäsche, und Bäder putzen hin und her zu wechseln. Beim Frühstück sah er aus dem Fenster. Der ganze Sommer war völlig verregnet gewesen, aber auch auf dem Kalender ging der Sommer so langsam zu Ende. Die Bewerbungen, die er geschrieben hatte, waren zum größten Teil unbeantwortet geblieben, bei den restlichen hatte man ihm immerhin mitgeteilt, dass man ihn abgelehnt hatte. Bis auf eine. Da war er sogar bis zum Vorstellungsgespräch gekommen. Aber der Interviewer hatte kein bisschen Humor, hatte nicht einmal bei der Begrüßung gelächelt, wie man das als höflicher Mensch doch macht, und schien mehr auf unpersönliche, roboterhafte Effizienz und formale Dinge bedacht zu sein, als darauf, einen motivierten und eloquenten Mitarbeiter zu bekommen, der auch in der Lage war, gute Laune zu verbreiten. Als S. dann seine Jacke anzog, um die Wohnung zu verlassen, bekam er dermaßen heftige Kopfschmerzen, dass er sofort zum Arzt ging. Wieder wurde er eine Woche krank geschrieben.

Es kam etwa so, wie er erwartet hatte. Bereits Ende August teilte man ihm mit, dass man seinen Vertrag über Ende Oktober hinaus nicht verlängern würde. S. fühlte sich in ein Loch fallen und machte sich verbittert ein Bild von der beschönigenden Praxis der Arbeitsvermittlung. Sie geben Dir ein Praktikum, und der Arbeitgeber freut sich, denn die Kosten trägt komplett der Staat. Dann geben sie Dir einen Sechsmonatsvertrag, und der Arbeitgeber hat immer noch eine spottbillige Arbeitskraft, weil er einen Euro pro Stunde und keinerlei Sozialabgaben zahlt, und der Rest kommt immer noch vom Staat. Aber wenn es dann um Übernahme, um Festanstellung geht, also darum, dass der Arbeitgeber die Bezahlung der Arbeitskraft komplett übernehmen soll, dann wird der Vertrag nicht mehr verlängert und die Firma sucht sich lieber einen neuen Idioten, den man innerhalb von fünf Arbeitstagen locker in den vakanten Idiotenjob einarbeiten kann. Wen interessiert da die Motivation und die Befähigung dessen, über dessen Arbeitsplatz da geredet wird? Und dann reden sie groß daher, dass man die sinkende Zahl der offiziellen Wehrdienstverweigerer ausgleichen müsse, und dass eine vollständige Professionalisierung eine Preisexplosion im Pflegebereich bedeuten würde. Und davon will ja keiner reden, angesichts des steigenden Durchschnittsalters der Bevölkerung, das Problem schweigen wir lieber tot und ignorieren die Praktiken der Betriebe. Aber unmoralisches Verhalten ist ja nicht strafbar. Die Pille ist eine – vielleicht sogar die – Wurzel des Übels, dachte er abschweifend. Nein, sie ist nur eine Folgeerscheinung. Bequemlichkeit ist das Hauptübel dieser Welt, um Akif Pirinccis Kater zu zitieren. Früher verbrachte man eine Nacht zusammen, und schon war ein Kind unterwegs. Die Leute zwangen sich mit ihrer Geilheit selbst in die Verantwortung. Aber heute reden alle von individueller Freiheit, und wie toll das doch ist, ohne zu sehen, wie man damit die Fundamente der Gesellschaft untergräbt. Wer übernimmt denn freiwillig Verantwortung? Die wenigsten doch, oder? Da helfen auch finanzielle Anreize vom Staat wenig. Und gegen Leichtsinn schmeißt man mal schnell ne Pille ein – Party on, Wayne! Ergebnis: Bevölkerung rückläufig, Sozialsysteme am Arsch. S. fühlte sich flau im Magen und legte sich den Nachmittag über aufs Ohr, bevor er am Abend wieder Jobangebote im Internet aufrief und nach etwas Passendem suchte.

Wiederholte Fehlschläge ließen ihn seine Präferenzen aufweichen und er begann verstärkt, sich für alle möglichen Jobs im weitesten Bereich seiner Qualifikation und Interessen zu bewerben, aber ebenfalls ohne Erfolg. Die Arbeitsagentur ihrerseits schien dieses Jahr nicht einmal eine andere Art von Hilfsassistentenbilligjob anbieten zu können. Vielleicht betrachteten sie mich schon als hoffnungslosen Fall, dachte er bei sich. Zu lange auf der Uni, Leute, die da zu lang bleiben, gelten als faul und verantwortungsscheu, realitätsfern, Bewohner eines Wolkenkuckucksheims, wo man mindestens den halben Tag rumhängen und jedes Wochenende auf Partys gehen kann. Dabei war es doch so einfach nicht. Aber das verteidigende Argument, dass ein bedeutender Teil der Studierenden unter stressbedingten Depressionen litt, und er gehörte nun mal dazu, konnte er nicht vorbringen. Wenn Sie das bisschen Uni, die paar Jahre, nicht aushalten, wie wollen Sie sich in einem Betrieb halten, wo vierzig Stunden die Woche Leistung gefordert wird, über Jahrzehnte, würde man ihn fragen. Was sollte er auch sagen? Der Angestellte XY arbeitet wohl 40 Stunden die Woche, aber wenn er nach Hause kommt, kann er die Tür hinter sich zumachen und die Arbeit bleibt draußen, Feierabend. Der Student steht 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche in der Verantwortung. Er geht in Seminare und Tutorien und hat dort Leistung zu bringen, und mit einiger Wahrscheinlichkeit muss er mit einem Nebenjob 20 Stunden pro Woche für seinen Lebensunterhalt sorgen. Dann kommt er nach Hause und auf dem Schreibtisch liegt immer noch mehr Arbeit, Nachbereitungen und Vorbereitungen. Aber Personalchefs schienen das nicht zu wissen oder vergessen zu haben, und überhaupt waren das keine Menschen, die viel von Diskussionen hielten.

Die vielen Absagen machten ihm zu schaffen, und die vielen Male, die man sein Anschreiben ignoriert hatte, belasteten ihn noch mehr. Nach hunderten von Bewerbungsversuchen sah er sich völlig entmutigt, und im Laufe der Wochen ging die Frequenz seiner Bewerbungen immer weiter zurück, etwa im gleichen Maße, wie ihm die Ideen ausgingen, für was seine Qualifikation (und sein dehnbares Interesse) noch geeignet sein könnte. Als besonders verletzend empfand er die immer gleiche Stellenanzeige einer Firma, die ihn bereits mehrfach abgelehnt hatte, aber seit einem Jahr alle paar Wochen die gleiche Stelle ausschrieb. Man hatte ihm die Absage zwar immer höflich mitgeteilt, aber auch nie ein Wort über eine Begründung verloren, ob er denn zu alt, zu unerfahren, überqualifiziert oder unterqualifiziert oder was auch immer sei.

Er verbrachte seine Tage zunehmend auf seiner Couch und las Magazine wie GEO oder National Geographic, oder tat ähnliches im Internet, und wenn das Wetter gut war, ging er auch mal nach draußen und machte ein paar Fotos von der Landschaft. Aber im Allgemeinen war sein Leben derzeit ein zielloses Dahindämmern von einem Tag zum anderen. Er ging Abends ins Bett mit dem Bewusstsein, einen weiteren Tag seines Lebens verschwendet zu haben, und jeden Abend sagte er sich, dass er morgen wieder etwas Sinnvolles tun würde, also Webseiten mit Jobangeboten aufsuchen und Bewerbungen schreiben zum Beispiel, oder in die Stadt gehen und in Geschäften zu fragen, ob man vielleicht eine Aushilfe brauche. Aber dann stand er morgens auf, fühlte sich zu nichts motiviert, setzte sich an seinen Computer, las neue E-Mails, ging dann zu den Seiten von Spiegel und ZEIT über, las Kurzmeldungen der DPA, schaute in Blogs hinein, die er wegen ihres interessanten Inhalts gespeichert hatte.
Es funktionierte aber nicht. Er war zu intelligent, um sich auf diese Art und Weise selbst zu belügen. Gut, er wusste nicht, inwiefern seine Umwelt davon Notiz nahm, aber er war in der Lage, vor sich selbst zu analysieren, warum er den Tag über die Dinge tat, die er tat. Es hätte sein Gewissen zu sehr belastet, sich Filme anzusehen oder Spiele zu spielen. Stattdessen las er Artikel und Zeitschriften, die einen guten Ruf bei der Mehrung von Allgemeinwissen hatten. Seht, ich verschwende meine Zeit nicht, rief er damit nach außen, ich erweitere meinen Horizont, ich stürze mich nicht völlig sinnfrei in die WoW, während ihm im Innern völlig klar war, dass es sich um nichts anderes als Zeitverschwendung und Lethargie handelte. Über einen Vergleich musste er selber lachen: Würde er ein Nintendo DS besitzen, würde er zweifellos über weite Teile des Tages damit beschäftigt sein, „Dr. Kawashimas Gehirntraining“ zu spielen, die aktuell wahrscheinlich fortschrittlichste Form der Ausrede zum Spielen. Unterbrochen wurde seine tägliche Routine nur von seiner Gewohnheit, in einem stadtbekannten Chor zu singen, abgesehen von der Zeit, die er mit seiner Freundin verbrachte und den seltenen Besuchen des Brettspielclubs.

Während dieser Monate spürte er den Drang, sich kreativ schreibend zu betätigen und dachte dabei an ein parodistisches Konzept. Er würde diese Stadt, in der er so lange studiert hatte, ihre Bewohner, und Menschen, die ihm in seiner Umgebung aufgefallen waren, ein wenig auf die Schippe nehmen. Die Stadt sollte dabei ungenannt bleiben, aber Insider würden sie natürlich dennoch erkennen, und auch das sollte Teil des Konzepts sein. Aber ihm widerstrebte die altbackene Idee, ein Printmedium zu verwenden, das heißt, den Text in die Tastatur zu hämmern, ihn auszudrucken und anschließend in der Schublade vor Staub zu bewahren, also bat er einen in entsprechender Position arbeitenden Freund, ihm ein Blog einzurichten. Er würde dann die Geschichte dort Stück für Stück veröffentlichen, und dem Leser die Möglichkeit anbieten, aus zwei Alternativen eine Art von Fortsetzung zu wählen.
Er dachte über einen intelligenten und enigmatischen Titel nach. Für irgendetwas musste er ja schließlich Philosophie studiert haben. Er entschied sich zunächst für „tot“. Aber bald schien ihm das unpassend und er änderte den Titel in „Warum Schafe“. Das war immer noch enigmatisch, und vor allem weniger düster als „tot“. Die wenigsten hätten wohl den grafischen Anspruch des Titels wahrgenommen, denn es ging ja eigentlich nicht um etwas totes. Eigentlich war gedacht, dass der Schriftzug „tot“ durch eine leichte Neigung der Schrift nach „X0X“ aussehen sollte, aber die Technik wollte es anders, also änderte er es.

Leider war das Ergebnis eher mager, soweit es seine Umfrage nach der Fortsetzung betraf. Er hatte einen Termin für die Fortsetzung nach dem ersten Abschnitt gesetzt, aber zur gegebenen Zeit hatten nur zwei Leser aus seinem Freundeskreis ihre Wünsche geäußert, gegenläufige allerdings, und er wollte noch warten, ob nicht noch jemand die Waagschale in eine der angebotenen Richtungen neigen würde. Aber es geschah fünf Monate lang nichts, also entschied er sich für eine der Optionen und verfasste „Folge 2“. Er war allerdings nun völlig desillusioniert, was das Interesse der Außenwelt an seinem Schrifttum betraf (wie war er bloß auf die Idee gekommen, dass sein neues und völlig unbekanntes Blog von Anfang an, ohne populäre Inhalte, wenigstens einige Dutzend Besucher pro Woche anziehen würde?), verzichtete daher auf die ursprüngliche Idee der Interaktivität und beließ es bei einer Fortsetzung von wenigen, vielleicht fünf, Zeilen, die ihm jeweils passend erschienen. Im folgenden Monat veröffentlichte er „Folge 3“, und zwei Tage darauf „Folge 4“.

Nicht jeder in seinem Umfeld teilte seine Ansichten. Und das waren weniger die Leute im Chor und in der Spielrunde, denen er von seinen Problemen nichts erzählte, zumindest nicht genug, um mehr als Vermutungen zuzulassen jedenfalls, und spielen war er in den letzten Monaten überhaupt nur noch sehr sporadisch gegangen. Der Hauptbetroffene seiner Melancholie war seine Freundin, die immer wieder den Versuch gemacht hatte, ihn zu ermuntern und zu motivieren, aber mehr als brummig zustimmende und verlegene Kommentare – Worte – waren nicht die Folge gewesen. Mittlerweile befand sie sich selbst in den Vorbereitungen zum Abschluss ihres Studiums und hatte neben ihrem Aushilfsjob jetzt zusätzlich Literaturrecherchen, Sprechstundentermine, und Kolloquiumssitzungen, mit denen sie sich herumschlagen musste. S. spürte, dass sie sich etwas moralischen Rückhalt in dieser stressigen Phase erhoffte, aber er war von einem Gefühl der Nutzlosigkeit und Wertlosigkeit erfüllt, das ihm sagte, dass er nicht auch noch ihren Stress zu schultern in der Lage war, und so pendelte er unter dem Kopfschütteln seiner Freundin weiter zwischen Schreibtisch und Sofa hin und her. Hoffnung war ihm zu einem Fremdwort geworden.

An einem kühlen Herbstwochenende kam sie wieder zu ihm und klingelte an der Tür. Er begrüßte sie gut gelaunt, ein kurzer Kuss zur Begrüßung, dann ließ er sich wieder auf der Couch nieder, während sie Jacke und Schuhe auszog, und fragte, wie es ihr denn so ginge. Sie starrte auf ihn hinunter.
„Das müsste ich eigentlich Dich fragen.“
„Wieso denn dieses?“
„Hast Du Dich in der letzten Zeit mal irgendwo beworben?“
Er spürte den Stich in seinem Inneren.
„Ich war doch letztlich in der Stadt, um nach Aushilfsjobs zu suchen…“
„Das war vor zwei Monaten!“ Sie seufzte resignierend, konnte aber ihren Unmut nicht verbergen. „Erwartest Du, dass Dir ein Job zufliegt? Dass der Headhunter an der Tür klopft und sagt: Wir wollen Sie!? In welcher Welt lebst Du eigentlich?“
S. fühlte, dass er angegriffen wurde, und zwar an seinem verwundbarsten Punkt. Aber er wusste auch, dass ein Gegenangriff sinnfrei war. Sie hatte Recht. Ein Konter hätte nur seinen kindischen Trotz offenbart. Er setzte sich auf und starrte konzentriert auf den grauen Bodenbelag, auf dem noch ein paar Krümel seiner Pizza von gestern Abend herumlagen. Er würde es nicht schaffen, ihr in diesem Moment in die Augen zu sehen, dafür plagte ihn sein schlechtes Gewissen zu sehr.
„Ich habe es doch versucht… immer wieder und wieder… keiner will mich haben… das ist doch alles völlig sinnlos…“ sagte er leise, was er dachte.
„Und auf der Couch sitzen, im Netz surfen und philosophische Ansichten über Schafe zu schreiben, die keiner liest, ist sinnvoller?“ Er spürte den zweiten Stich, und er tat noch mehr weh, als der erste. Seine Geschichte bedeutete ihm viel. Nicht, weil er sich einen großen Erfolg davon erhoffte, sondern weil sie ihm als die letzte Art von Arbeit erschien, für die er sich selbst geeignet erschien. Jenseits dieses Strohhalms lag der Abgrund, eine schwarze Tiefe, von der er nicht wusste, ob er jemals wieder den Weg heraus finden würde.
„Was soll ich denn machen?“ fragte er.
„Du könntest aufhören, Dich selbst zu bemitleiden! Aber ich könnte ja ebenso gut mit der Wand reden… seit fast einem Jahr sage ich Dir immer wieder, was Du machen kannst, um aus der Krise raus zu kommen, aber Du kannst Dich ja zu nichts aufraffen!“ S. saß da wie ein Häufchen Elend, und wenn er nicht so sehr auf den Boden gestarrt hätte, wären ihm die Tränen aufgefallen, die ihr in den Augen standen.
„Ich… ich kann nicht mehr! Es geht so nicht weiter… ich hab doch selbst grad genug um die Ohren… was soll ich mit jemandem, der sich völlig aufgegeben hat? Ich hab nicht die Nerven für so was…“ Sie schlüpfte hastig wieder in ihre Schuhe, nahm die Jacke vom Haken und verschwand durch die Eingangstür. S. saß unverändert auf der Couch, starrte auf den Fußboden und erkannte, dass er vor lauter Klammern an seinen Strohhalm das Seil übersehen hatte, das die ganze Zeit über griffbereit an seiner Seite gewesen war. Außerdem rettete ihn der Strohhalm gar nicht vor dem Abgrund. Er lag längst drin.