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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

16. Dezember 2009

Stückwerk ist unsere Erkenntnis, Stückwerk unser Tun… (1/3)

Filed under: Creative Corner,My Life — 42317 @ 17:52

Er war auf dem Weg, und er sah nicht zurück. Es wäre auch sinnlos gewesen. Der Wind strich beschleunigt über sein Gesicht und an seinem Körper entlang und er sah die untergehende Sonne aufsteigen, immer höher, aber er fühlte Frieden in sich, mit sich und der Welt, ein Gefühl, das er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Sein Vater kam ihm in den Sinn, die Opfer, die er ihm abverlangt hatte, und seine Mutter, deren Schmerzen bei seiner Geburt er gerade entehrte. Und plötzlich Dunkelheit.

„Herr S.! Wie schön, Sie mal wieder hier bei mir zu sehen,“ sagte der Professor. „Sie wollen also tatsächlich ihre Magisterarbeit schreiben? Kann ich gut verstehen, die goldenen Tage sind ja vorbei… und die anstehenden Gebühren sind nicht jedermanns Gefallen. Ihrer Mitteilung habe ich entnommen, ihnen schwebt eine Abhandlung über…“ er warf einen Blick auf seinen Bildschirm, „ah: Betriebsklima, Mitarbeitermotivation und präventive Bekämpfung von Mobbing vor?“
„Ja, allerdings bin ich mir bei der Mitarbeitermotivation noch nicht ganz sicher. Die Quellensituation ist nicht so, wie ich das gerne hätte. Es gibt eine Menge Ratgeber, aber die wenigsten bauen auf betriebspsychologischen Forschungen auf, eher auf gesundem Menschenverstand, und ich möchte in Richtung einer Firmenphilosophie gehen, die den Mitarbeiter auch bewegt, anstatt dass er sie nur als tote Tinte auf der Visitenkarte mit sich herumträgt…“
„Interessant, ja, warum nicht. Setzen Sie sich dran und zeigen Sie mir regelmäßig ihre Zwischenergebnisse, dann besprechen wir die gemeinsam. Das kriegen wir schon hin. Mit Ihrer Erfahrung müsste das doch ganz flott gehen… immerhin sind Sie schon ein gutes Stück länger in der Abteilung als ich.“ Der Professor lachte über seine durchaus nicht böse gemeinte Bemerkung; S. biss sich auf die Unterlippe und sein Blick sank auf die Tischplatte. Pressholz mit weißem Plastiküberzug. Er sah auf und lächelte.
„Ja, dann packen wir’s an, nicht wahr…“

Er verließ das Gebäude und stapfte in Gedanken versunken nach Hause. Es regnete eiskalt vom Himmel und der Blick auf das Datum sagte, dass es nicht mehr allzu viele Wochen bis Weihnachten waren.

S. feierte seinen Abschluss. Das hatte er auch verdient. Seine Endnote lag bei Eins-Komma-viel, aber immerhin noch unter Zwei. Ein guter Abschluss. Damit sollte doch was anzufangen sein. Ein Freund, der am anderen Tischende saß, füllte sein Glas erneut mit Sekt und prostete ihm fröhlich zu. S. erwiderte die Geste lächelnd und trank sein Glas aus.
Die kleine Party hielt sich noch bis halb Eins, dann ging die letzte der acht Gäste nach Hause. Er hatte sie im vergangenen Herbst kennen gelernt, als sie Neumitglied seines Brettspielclubs geworden war. Sie war etwa 20 Jahre jünger als er, aber wen wunderte das in der gegebenen Situation. Sie war keine Schönheit, und die komische rotgeränderte Brille, die auf ihrer Nase saß, trug nicht eben positiv zu ihrem Äußeren bei. Aber sie hatte Humor, war nett und intelligent, und wenn schon nicht schön, dann aber doch hübsch. Zumindest in seinen Augen, die immer ein kleinwenig zu ihren aufschauen mussten, wenn sie sich gegenüberstanden, und allein das zählte. Sie beugte sich zu ihm, gab ihm einen Schmatz und zwickte ihn frech, aber liebevoll, in seinen Bauch, den einen „Ansatz“ zu nennen bereits eine höfliche Untertreibung gewesen wäre.
„Ich seh’ Dich dann am Montag Abend, Bärchen. Bis dann!“
Das Wochenende über würde er ausschlafen und am Montag wollte er zur Arbeitsvermittlung gehen. In dem Stress der vergangenen Monate waren Bewerbungsabsichten völlig untergegangen. Außerdem, sagte er sich, habe er ja nicht sicher sein können, ob er die mündlichen Prüfungen auch schaffen würde, und wie würde er denn da stehen, wenn man ihm einen Job anböte und er müsste dann sagen, dass er wegen einer nicht geschafften Prüfung die verlangte Qualifikation nun doch nicht, wie in der Bewerbung angegeben, erfüllte. Nein, alles zu seiner Zeit.
Er öffnete das Fenster, um die verbrauchte Luft im Raum durch frische zu ersetzen. Der sommerliche Geruch gemähter Wiesen stieg ihm in die Nase. Nach all dem Stress, der Ungewissheit und der Melancholie der letzten Monate kam es ihm heute zum ersten Mal seit Jahren wieder so vor, als könne man mit der Welt vielleicht doch etwas anfangen.

Der Wind rauschte in Büschen und Bäumen, warf Werbeaufsteller vor Geschäften um, und trieb ihm eiskalte Regentropfen ins Gesicht, während er, zum wievielten Male wusste er schon nicht mehr, von der Bushaltestelle aus zu dem rotbraunen Ziegelgebäude mit dem großen „A“ darauf hinüberging. Danach saß er missmutig eine Weile im Warteraum, und während er darauf wartete, aufgerufen zu werden, ließ er seinen Blick über die Umgebung gleiten. Das Innere des Baus war schon direkt gediegen, post-modern vielleicht, zu nennen, gemessen an anderen Bürobauten solcher staatlicher Betriebe. Ziegelrote Wände, eine große Innenhalle mit Empfangsschalter, Treppen aus sauberem Stahlbeton. Kein Vergleich zu der städtischen Wohngeldstelle in der Innenstadt, die den Eindruck machte, als sei sie in den Fünfzigern gebaut und seitdem nicht mehr renoviert worden. Nur die dort angebrachte automatische Flügeltür wirkte modern und damit seltsam anachronistisch. Aber wegen ihres fraglichen Gebäudezustandes wirkte die Wohngeldstelle nicht wie ein Kontrast zu der dort wartenden Bittstellerschaft, so wie das hier der Fall war. Ein schick eingerichtetes Gebäude voller müder Gesichter, denen man Stress, Hoffnungslosigkeit, Frust, Depression und oft genug auch übermäßigen Alkoholgenuss nur allzu gut ansah.

„Herr S., guten Tag. Wie geht es Ihnen?“ fragte der Angestellte höflich, ein Herr Mitte Fünfzig mit sich ausbreitender Glatze und Schnauzbart, eine Goldrandbrille auf der Nase.
„Ja, es geht…“ sagte S. ausweichend und betrachtete die Frage als reine Höflichkeitsfloskel.
„Wir haben ein Arbeitsangebot für Sie, das Ihrer Leistungsfähigkeit entspricht…“
„Ja? Um was geht es denn?“
Der Angestellte schob ein paar Seiten Papier herüber, eine Jobbeschreibung und der dazu gehörige Vertrag. S. las die ersten Zeilen, wurde dann immer langsamer und sorgfältiger und traute seinen Augen immer weniger, nach dem, was er gerade über den Job gesagt bekommen hatte.
„Altenpflegerhelferassistent? So einen Beruf gibt es? Und was hat das mit meiner Qualifikation zu tun? Ich habe einen Abschluss in Betriebswirtschaft und Philosophie!“
„Nein, so dürfen Sie das nicht verstehen. Wir erwarten von Ihnen nicht, dass Sie bis zum Antritt Ihres Rentenalters diese Arbeit machen. Aber wenn Sie hier unterschreiben, dann haben Sie den Job auch, dann haben Sie schon mal für sechs Monate was. Sie können finanziell auf eigenen Beinen stehen, und aus dieser finanziellen Sicherheit heraus können Sie sich natürlich für Stellen bewerben, die Ihnen mehr zusagen.“
„Finanzielle Sicherheit? Das ist ein Ein-Euro-Job! Wie kann man da von Sicherheit reden? Ich werde kaum mehr Geld haben als jetzt!“
„Es geht ja nicht nur ums Geld. Es geht auch darum, sich wieder an einen regelmäßigen Rhythmus zu gewöhnen, also morgens um Sieben aufstehen, um Acht auf der Arbeit sein, und so weiter. Das nur als Beispiel. Wenn Sie guten Willen und Lernbereitschaft zeigen, wird man Ihren Vertrag sicherlich verlängern, falls Sie in sechs Monaten nichts besseres gefunden haben. Außerdem haben Sie damit eine neue Qualifikation und auch soziales Engagement im Lebenslauf stehen, das ist doch was wert.“
„Altenpflegerhelferassistent… das heißt, ich stehe in der Rangfolge unterhalb von dem, der dem Altenpfleger den Kaffee kocht und seinen Rollwagen vorbereitet. Ich werde also Besorgungen machen, den Boden wischen und den Hof fegen, Autos waschen und Teekannen nachfüllen… was sagten Sie eben über eine neue Qualifikation?“
Der Mann mit der Goldrandbrille überging diesen Sarkasmus.
„Wenn Sie das Stellenangebot ablehnen, mache ich Sie darauf aufmerksam, dass wir nach Prüfung der Umstände dazu berechtigt sind, Ihre Bezüge zu kürzen…“
„Ja, ich sehe ja ein, dass es besser ist, als nichts…“
Er gab die notwendigen persönlichen Daten an und setzte seine Unterschrift unter den Vertrag.

Ein Lämpchen blinkte im morgendlichen Bereitschaftszimmer. Ein Bewohner hatte den Notfallknopf gedrückt… Herr Z. aus Zimmer 209. Er hatte sich vor einer halben Stunde wegen Verdauungsbeschwerden gemeldet, nachdem ihm seine wohlmeinende Tochter am Tag zuvor einen kleinen Strauß Bananen mitgebracht hatte. Der Altenpflegerhelfer hatte ihm nach Angabe des Arztes daraufhin ein Mittel auf den Nachttisch gestellt. Der Altenpfleger lief los, kam in der 209 an und besah sich, was geschehen war. Dann rief er nach dem Altenpflegerhelfer. Der besah sich ebenfalls, was geschehen war. Mit zerknirschtem Gesicht wandte er sich an Herrn Z., der, um seine Scham zu verbergen, mürrisch auf seinem Bett saß. Aber keiner der Anwesenden verwechselte seine Gesichtsfarbe mit Zornesröte.
„Herr Z., ich habe Sie doch gebeten, das Mittel erst einzunehmen, nachdem Sie auf der Toilette sitzen. Ich sagte doch, dass es schnell wirkt!“
„Ach was! Man hat mir zwar vor zehn Jahren einen halben Meter entfernt, aber mein Darm ist doch immer noch zig Meter lang! Wie sollte ich wissen, dass ich kaum mehr Zeit haben würde, mein Handtuch aus’m Schrank zu nehmen!? Ich dachte gerade, mir explodiert ne Handgranate im Arsch! Zum Glück hatte ich wenigstens die Hosen schon unten!“
„Ich werde mit dem Doktor reden,“ sagte der Altenpfleger und verschwand.
Der Altenpflegerhelfer hob in einer Ohnmachtsgeste die Hände.
„Na gut, dann sehen wir mal zu, dass wir ihre Nasszelle wieder sauber kriegen…“ Er ging in die Küche und traf dort S. an. „Ähm… kannst Du mal grade in der 209 sauber machen, bitte?“
„Was ist denn los?“
„Am besten schaust Du’s Dir selbst an. Nimm Desinfektionsreiniger mit.“
S. konnte riechen, was ihn erwartete, bevor er es sah. Wenn es nur der Geruch allein gewesen wäre, was ihm den Magen umdrehte, wäre es nur halb so schlimm gewesen… aber die optische Präsentation seiner Aufgabe war… belastend. Er sah zu Z. hinüber, der immer noch mit bösem Blick auf seinem Bett saß.
„Machen Se hinne! Ich will duschen,“ sagte der.
„Natürlich, dauert nur einen Moment, Herr Z.,“ sagte S. geduldig und nahm den Duschkopf.
Während er spülte und schrubbte fragte er sich, warum alte Leute oft Macken hatten, die mit ihren Ausscheidungen zusammenhingen. In der 225 wohnte einer, der sein Papier nicht faltete, sondern zu einem Bällchen zerknüllte. Was er mit dreien solcher Bällchen nicht weg kriegte, entfernte er mit den Fingern seiner linken Hand, und wenn ihm danach war, schnippte er diese Reste an die Wand gegenüber. Immerhin entschuldigte er sich nachher bei S., er mache das nicht bewusst und merke das erst, wenn es zu spät sei. Er entferne den Schmutz oft auch selbst, wenn es ihm bewusst werde, bevor es jemand anders sah, und S. war geneigt, ihm zu glauben. Und als nächstes kam ihm seine Diplomarbeit in den Sinn. Jeder Tag, den er länger diese Arbeit machte, machte ihm mehr und mehr klar, dass er einen hoffnungslos idealistischen Unsinn geschrieben hatte. Es gelang ihm immer weniger, die von ihm selbst vorgetragenen Prinzipien in die Realität umzusetzen.

Nach diesem Vorfall reichte er einen einwöchigen Krankenschein ein. Er brachte die Motivation zum Aufstehen am Morgen kaum auf.

Um die Osterzeit spendierte S. seiner Spielrunde zwei Flaschen Wein des bischöflichen Weinguts, und feierte auf diese Art und Weise den Umstand, dass man ihm einen weiteren Sechsmonatsvertrag angeboten hatte. Anderweitige Bewerbungen waren bislang zwar negativ beschieden worden, aber mit einem weiteren halben Jahr im Rücken würde das bestimmt irgendwie klappen. Die Arbeitsmarktlage war doch im Sommer immer günstiger als im Winter, oder? Sogar eine neue Kamera hatte er sich gekauft, eine digitale Spiegelreflexkamera von Canon. Bei einem Besuch bei seinen Eltern hatte er davon gesprochen, und die hatten ihm, schon zu Weihnachten eigentlich, 200 Euro zugeschoben, weil ihm die Kamera so viel zu bedeuten schien. S. machte also pausenlos Schnappschüsse von der Spielrunde, wo man scherzhaft an seinem Verstand zweifelte, und fotografierte hin und wieder seine Spielkarten, um nachher stolz belegen zu können, wie gut er gespielt oder auch beschissen hatte. Irgendwas würde schon werden.

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