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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

13. April 2024

Dienstag, 13.04.2004 – VIP Lehrer

Filed under: Japan,My Life,Uni — 42317 @ 7:00

Ui, ein schöner, warmer Tag. Ich laufe die halbe Zeit im T-Shirt herum. Aber erst einmal habe ich den Vormittag frei und muss erst um 14:20 antreten. Bis dahin halte ich mich ab 11:00 im Center auf, und der Raum ist brechend voll.

Alex hatte letztes Jahr Interesse an einer Bergtour den Iwaki hinauf geäußert, hatte aber am entsprechenden Tag keine Zeit. Da ich dem Plan, eine zweite Tour zu machen, selbst nicht abgeneigt bin, frage ich ihn, wie die Sache stehe, und er meint, dass der Berg so ab Ende Mai wieder schneefrei sei. Dann könne man einen Aufstieg versuchen. Dann bleibt ja noch Zeit, um weitere Interessenten einzuladen (oder „anzuwärmen“).

BiRei erzählt mir, dass ihr Englischkurs schwer sei. Sprachen zu lernen, sei überhaupt eine schwere Aufgabe. Und in Naturwissenschaften sei sie auch nicht gut. Eigentlich könne sie gar nichts richtig – „Ich bin doof“, sagt sie. Immer langsam, junge Frau. Niemand, der ein Stipendium nach Japan erhält, kann allen Ernstes dumm sein. (Vielleicht ist das aber nur der Strohhalm, an den ich mich selbst klammere?)

Ich gehe in die Bibliothek und sehe mir ein paar Titel der 4000 (!) alten Automatenspiele an, die Frank mir dieser Tage auf CD-ROM per Post geschickt hat.

Um 14:15 gehe ich in den Unterricht von Kondô-sensei: „Business Management 1B“. Nein, ich habe keineswegs vor, auf die Wirtschaftslaufbahn zu wechseln. Der Unterricht erläutert lediglich Geschäftsmethoden in Japan, und ich dachte, das könnte interessant sein. Sind die Bodenpreise in Tokyo Ende der Achtziger nicht in astronomische Höhen gestiegen, weil das in den „Geschäftsmethoden“ einkalkulierte Schmiergeld für Bauaufträge so hoch geworden war? Wir werden wohl offizielle Versionen hören, während man mit den Korruptionsskandalen der vergangenen fünfzig Jahren wahrscheinlich eine ganze Vortragsreihe füllen könnte. Kondô-sensei scheint mir allerdings (diesem Fachgebiet angemessen?) über einen etwas zynischen Humor zu verfügen. Er hat führende Geschäftsleute aus der Region eingeladen, um über ihr Erfolgsmodell zu sprechen, und Kondô bittet uns ausdrücklich darum, höflich zu sein – weil derlei Leute ein übergroßes Ego hätten, wie er sagt. Am besten sollten wir unsere Fragen vorsorglich auf Englisch stellen, damit er sie in eine passendere Version übersetzen kann, falls notwendig.

Dann erzählt er, einfach so, dass neulich ein Freund von ihm verhaftet worden sei (ohne, dass das irgendwas mit dem Unterrichtsthema zu tun hätte), wegen „unanständiger Angelegenheiten mit Oberschülerinnen“, wie er sich ausdrückt. Ja, und? Nun, er sagt, dieser Freund sei hin und wieder im Fernsehen zu sehen – in den Börsennachrichten. Er kenne ihn von seiner Zeit an der Waseda Universität in Tokyo. Sie beide hätten dort Postgraduiertenlehrgänge in Wirtschaft unterrichtet, und jener Freund kommentiere ab und zu die japanische Börsenentwicklung im staatlichen Fernsehen. Ei, ei, ei… ein bekanntes Gesicht und auch noch ein Professor von der Waseda… ist der Ruf dieser Universität überhaupt noch zu retten, nach alldem, was man in den letzten beiden Jahren von dort so gehört hat?[1]
Und so als Anhang fügt er hinzu, dass jener Freund ein ordentlicher Professor gewesen sei, während er selbst nur einen „besonderen Lehrauftrag“ gehabt hätte, also keinen Lehrstuhl. Eigentlich sei er nämlich, bis zu seiner Pensionierung vor kurzem, der Generalverwalter der Mitsubishi-Bank gewesen. Aha!? Ich renke meinen Unterkiefer wieder ein und versuche zu verstehen, was der ehemalige Generalverwalter der hauseigenen Bank des Mitsubishi Keiretsu (Multikonzerns) in dieser verlassenen Gegend tut, anstatt sich in Odaiba niederzulassen und den Tag auf dem Golfplatz zu verbringen. Oh, er besitze immer noch sein Haus in Yokohama, aber er habe es vermietet und sei mit seiner Frau nach Hirosaki gekommen, weil die Universität ihn eingeladen habe. Aber er werde wohl nur zwei Jahre bleiben, da seine Frau die Vorzüge einer Großstadt sehr schätze und das Land langweilig finde. Vor allem habe seine Frau großen Spaß daran, mit ihrem Sportwagen zu fahren, und den könne sie während der Wintermonate hier im Norden zu ihrem Leidwesen nicht verwenden. Er selbst sei jedoch in Sapporo aufgewachsen und habe mit ländlichen Bedingungen keine Probleme. Ist es nicht schön, wenn man eine Aufgabe im Leben braucht und findet?
Nun ja, nach dieser ersten Stunde bröckelt meine Befürchtung dahin, dass wir von diesem Mann politisch korrekte Versionen der japanischen Geschäftsmethoden zu hören bekommen würden.

Nach dieser Einführung in seine Biografie gehe ich in die Bibliothek und schreibe zwei Berichte. Für viel Anderes reicht die verbliebene Zeit bis acht Uhr auch nicht mehr. Ich gehe im Anschluss nach Hause und lese weiter in meinem „revolutionären“ Buch.


[1] Es gab wohl mindestens zwei Selbstmorde von Studierenden und einen Fall von Gruppenvergewaltigung.

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