Montag, 30.08.2004 bis Donnerstag, 02.09.2004
Und jetzt wird die Sache schwierig. Meine letzten Tage in Hirosaki waren geschäftig und es existieren keinerlei schriftliche Aufzeichnungen von mir. Mit 20 Jahren Abstand habe ich auch fast alles vergessen, was sich in der Zeit abgespielt hat. Ich musste Melanies Tagebuch zu Rate ziehen, das sich natürlich auf ihre eigenen Erlebnisse konzentriert und meine nur insoweit behandelt, wie sie uns beide betreffen.
Am 30. August trafen wir JP und seine damalige Freundin Emi, die uns aufforderten, morgen Nachmittag um Fünf mit ihnen Soba essen zu gehen. Ja, JP gehörte natürlich zu den Trierer Austauschstudenten, die 2002 bis 2003 in Hirosaki gewesen waren, und wie es scheint, befand er sich gerade zur Urlaubszwecken in Japan. Ich kann allerdings nicht rekonstruieren, ob er am vorletzten Augusttag plötzlich vor der Tür stand oder ob er sich angekündigt hatte, da sich in meinen eigenen Aufzeichnungen kein Hinweis befindet.
Am 31. August hat es wohl morgens kräftig geregnet, ab Fünf oder so. Zuvor war Melanie rausgegangen, weil sie nicht schlafen konnte und betrachtete den Sonnenaufgang. Am Nachmittag um Fünf gingen wir mit JP und Emi zum gemeinsamen Soba-Essen gegenüber vom Sunkus Conbini. Soba sind gut, treffen aber meinen persönlichen Geschmack nicht so, dass ich dringend nochmal welche essen müsste. Wir verbrachten zwei Stunden in dem Restaurant.
Danach sah ich mir mit Melanie die aktuelle SailorMoon Episode und den Film „Bayside Shakedown 2“ an. Der Inhalt der Episode wurde leider nicht festgehalten. Der Film war gar nicht schlecht. Vielleicht nicht wirklich gut, aber gar nicht schlecht. Nur das Ende zog sich ein bisschen.
Und dann fing ich an, meine Sachen zu packen. Mich ärgerte, dass ich meine erworbene CD-Sammlung über den Standardversand nicht versichern konnte. Wenn ich eine Versicherung für meine Ware wollte, musste ich den nächsthöheren Service kaufen und der kostete 10000 Yen pro Paket (also mal eben um die 75 Euro). Dann eben nicht. Die Angelegenheit lief aber gut und es ging nichts verloren.
Übrigens dauerte es nach diesem Tag noch über 10 Jahre, bis ich endlich dazu kam, SailorMoon bis zum Ende anzusehen. Ich machte im Laufe der Jahre mehrere Anläufe, blieb aber immer irgendwo stecken und musste wieder ein paar Jahre später von vorn anfangen. Ich finde die Serie gut erzählt und ich mag den Plot Twist, der dafür sorgt, dass man nicht einfach “mehr vom Gleichen” hat – eine Wunschvorstellung vieler Animefans, die zum Beispiel der Cowboy Bebop Realverfilmung nach nur einer Staffel ungerechtfertigterweise das Genick brach.
Der 1. September ging weiter mit dem Packen meiner Siebensachen. Laut Melanies Aufzeichnungen war ich an jenem Tag auch unterwegs, um unsere Gasrechnung zu bezahlen, aber das kann nicht sein, weil ich diesen Vorgang bereits am 29. August beschrieben habe. Es ist aber nicht auszuschließen, dass ich irgendwo noch irgendwas habe bezahlen müssen, denn am ersten Tag eines jeden Monats bekamen wir unsere Stipendien ausgezahlt und ich verfügte also wieder über mehr als die umgerechnet 35 Euro von vorgestern. Nun, wie es scheint, fasste mein Koffer das Sammelsurium an Dingen nicht, die ich mir in Japan zugelegt hatte und wir mussten eine große Kiste für mich in Beschlag nehmen, die Melanie eigentlich für sich selbst gekauft hatte. Auch diese Kiste wurde noch voll, mit Melanies Winterjacke als polsterndem Abschluss. Insgesamt mussten sieben Pakete zur Post, sechs kleine und das eine große, aber wir schafften mangels Transportkapazität nur fünf im ersten Rutsch.
Wir waren am Postamt um etwa halb drei. Die Pakete gingen mitunter an verschiedene Empfänger und wurden auf verschiedenen Servicestufen verschickt, das dauert halt. Bis dann alle zollrelevanten Zettel ausgefüllt und unterschrieben waren, war es auch schon Drei. Gerade noch rechtzeitig, denn um 15 Uhr kam das Abholfahrzeug, das die Pakete der vergangenen 24 Stunden zum Verteilerzentrum brachte. Auch hier bekamen wir ein Handtuch geschenkt, allerdings habe ich keine Ahnung, was aus dem geworden ist, ich habe auch an dieses Detail keinerlei Erinnerung. Zwanzig Minuten später waren wir mit den verbliebenen beiden Paketen wieder zurück und brachten auch diese auf den Weg. Wir müssen wohl schon verschwitzt und müde ausgesehen haben, denn der Schichtleiter machte uns mit einer Liebenswürdigkeit, die dem japanischen Dienstleistungsgewerbe eigen ist, darauf aufmerksam, dass man bei solch umfangreichen Sendungen einfach anrufen und die Ware ohne weitere Kosten an der Haustür abholen lassen könne. Melanie würde davon sicherlich profitieren, denn sie musste ja ebenfalls in sehr absehbarer Zeit ihre Sachen nach Hause schicken.
Wir fuhren nach Nishihiro, um die Miete zu überweisen, und dann weiter ins Center. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, alle meine Tagebucheinträge auszudrucken, um sie nachfolgenden „Generationen“ zur Verfügung zu stellen, sei es als mögliche Hilfestellung, sei es zur Unterhaltung, also handelte ich mit Frau Torigata aus, die vielen, vielen Seiten in Form von zwei Aktenordnern ins Regal stellen zu dürfen. Titel der Sammlung: „Hirosaki ni ‘tte“, Anlehnung an „Kinosaki ni ‘tte“ von Shiga Naoya. Und das alles hielt uns auf bis um etwa Sechs. Und dann fuhren wir zur Familie Jin, von der ich mich verabschieden wollte.
Ich glaube, ich war spontan auf diese Idee gekommen und hatte mich bzw. uns nicht angekündigt, dem entsprechend waren Frau Jin, Yûtarô und Yûmiko auch nicht zuhause. Ich bin bis heute geradezu erstaunt, dass ich von Melanie wegen dieses Fehltritts nie die Leviten gelesen bekam. Aber Großmutter Jin bat uns höflich herein, ihre Schwiegertochter und ihre Enkelin seien gerade auf einer Besorgungsfahrt, und setzte uns ins Wohnzimmer im Erdgeschoss, worauf sie zum Telefon griff, um unsere Anwesenheit mitzuteilen.
An das Zimmer erinnere ich mich relativ gut. Da standen gleich zwei Klaviere an der Wand, etwa in der Mitte standen sich zwei kleine senfgelbe Sofas an einem kleinen, etwa kniehohen Wohnzimmertisch gegenüber. Wir bekamen jeder eine geschnittene Birne, die perfekt nach Birne schmeckte und auch nicht vor Saft triefte, danach noch ein paar Kekse. Großmutter Jin wusste wohl nicht recht etwas mit uns anzufangen, also überließ sie uns selbst, und es dauerte immerhin fünfzig Minuten, bis kurz vor Sieben, bis Frau Jin mit Yûmiko zuhause eintraf. Yûtarô wurde nicht erwähnt, und Dr. Jin befand sich auf einer Tagung in Tokyo.
Wir unterhielten uns angenehm etwa eine Stunde lang und Melanie war es sicherlich unangenehm, dass wir ohne Geschenke aufgetaucht waren. Denn wir bekamen welche, und wir hatten ja den deutschen Kräutertee exakt für solche Gelegenheiten mitgebracht. Ich glaube, Herr Ikeda war der einzige, der jemals etwas davon bekam. Melanie bekam ein schön anzusehendes Taschentuch mit Kirschblütenmotiv, dazu einen Taschenspiegel mit Hasenplüschbezug dran. Ich bekam… eine edel anmutende Krawatte in Himmelblau. Natürlich besitze ich diese Krawatte noch, und sie wurde auch nie ausgepackt. Nicht allein deshalb, weil es sich um ein ideell bedeutendes Geschenk handelte, sondern auch mangels Bedarf. Bei förmlichen Gelegenheiten trage ich meine schwarze Gakuran (japanische Schuluniform) mit den Dai-Knöpfen aus Messing, die ist oben geschlossen und lässt keinen Raum zum Vorzeigen einer Krawatte. Ich besitze keinen Anzug, zu dem man eine Krawatte tragen sollte, und ich habe Zweifel, dass dies jemals der Fall sein wird, da ich nicht davon ausgehe, jemals in einer entsprechenden Position zu arbeiten oder mich auf einem entsprechenden sozialen Niveau zu bewegen. Na ja, aber bei aller Rührung muss ich dennoch einfügen, dass das Geschenk einer förmlichen Krawatte doch ein Gefühl des Alterns vermittelte. Das war natürlich nicht so gemeint; in Japan ist es normal, dass man sich als Abgänger einer Universität einen Anzug zulegt, weil der sehr förmliche Bewerbungsprozess einen solchen notwendig macht. In Deutschland kleidet man sich eher dem Arbeitsplatz angemessen, wenn ich also eine Stelle anstrebe, wo man im Tagesgeschäft keinen Anzug trägt, dann trage ich auch zum Bewerbungsgespräch keinen.
Wie dem auch sei. Melanie und ich hatten noch vor, im Sushi-Restaurant „Seijirô“ essen zu gehen, da wir nie dort gewesen waren. Frau Jin hatte das Restaurant einmal erwähnt, also fragten wir, ob sie wisse, wie lange dort geöffnet sei. Sie wusste es nicht, nahm sich aber das Telefon und rief an. Geöffnet bis um 22 Uhr, Einlass bis um 21:30. Und weil sie eine hatte, überreichte sie uns noch eine Rabattkarte des „Seijirô“, die uns eine Ermäßigung von 1000 Yen bescherte. Sie esse öfter dort und sammele die Rabattstempel daher schnell an. Wir bedankten uns für alles, tauschten Adressen aus, und fuhren los, von Yûmiko noch fünfzig Meter weit begleitet. Ich bin womöglich noch nie so ungern irgendwo weggegangen. Ich musste auch im Nachhinein feststellen (als ich zuhause handschriftliche Daten auf den Computer speicherte), dass ich den Tag meines Abflugs einen Tag vor Yûmikos Geburtstag gesetzt hatte. Diesen Umstand bedauerlich zu nennen, wäre eine Untertreibung meiner spontanen Gefühle gewesen.
Das „Seijirô“ jedenfalls mussten wir aber auch erst mal suchen und wiederfinden. Denn nach Anbruch der Dunkelheit sieht die Umgebung anders aus, wodurch wir Abzweigungen verpassten, die wir am Tag sofort erkannt hätten, und wir wussten die Strecke auch nicht gerade auswendig, also fuhren wir ein paar Umwege. Um 20:30 kamen wir an und bekamen problemlos einen Tisch. Wir haben sicherlich wie westliche Barbaren gegessen, als gäbe es kein Morgen, bei einem Budget von 4500 + 1000 Yen, also etwa 40 Euro zu der Zeit.
Ich muss an dieser Stelle kurz auf die Besonderheit dieses Budgets eingehen, dessen Einrichtung ich bisher nicht erwähnt habe. In unserem Apartment befand sich ein Gasboiler. Ein Mitarbeiter des Energieversorgers hatte den Boiler im vergangenen September eingeschaltet und die Bedienung erklärt, war aber nicht darauf eingegangen, wie man das Gerät beim Verlöschen der Flamme wieder einschaltet. Hm. Mangels Erfahrung mit Gas kam ich auch nicht auf die Idee, danach zu fragen. Wie ich bald feststellte, ging die Flamme hin und wieder von alleine aus, weil das Gas vorübergehend ungleichmäßig strömte und es zu einer harmlosen Verpuffung kam, und das schon wenige Tage nach der Freigabe. Nach einem oder zwei Versuchen hatten wir raus, wie man das Ding wieder zum Laufen bekommt, also sollte die Heizflamme beim Verlassen des Hauses zum Sparen von Gas und Geld immer abgeschaltet werden. Wer das Abschalten vergaß, und wegen mitunter unterschiedlicher Unterrichtszeiten war in der Regel klar, wer zuletzt gegangen war, musste 100 Yen in ein Sammelglas werfen, das Melanie „die Verfehlungskasse“ nannte. Ich hatte sicherlich ein anderes Wort dafür, aber wenn, dann fällt es mir nicht mehr ein. Nun ja, von dem Budget in Höhe von 4500 Yen waren 500 Yen von mir. Den Restbetrag – für unser Sushi im gehobenen Preissegment – hat demnach Melanie beigesteuert, ein Umstand, der in der Folgezeit für nicht wenig Humor sorgte.
Und dann war da natürlich noch der 1000 Yen Gutschein… aber mehr als 5000 Yen schafften wir nicht, bis einfach nichts mehr in den Magen passte. Das heißt, dass meine 500 Yen aus der Verfehlungskasse immer noch verfügbar waren.
Um kurz vor Zehn waren wir zuhause, nach einem Besuch in der Videothek, wo wir uns den „Atashi’n’chi“ Film ausliehen. Hm, es geht um Körpertausch, natürlich Mikan und ihre Mutter, die den jungen, gesunden Körper genießt und Mikan vorübergehend zu einem Sportass macht. Unterhaltsam, aber nicht sonderlich originell. Die Serie hat die besseren Drehbücher und Dialoge.
Gegen Mitternacht endete der Tag.
Und dann kam der 2. September. Melanie hatte in der Nacht nur wenig geschlafen und war schon um Fünf wieder aufgestanden. Könnte an dem reichhaltigen späten Essen gestern Abend gelegen haben. Aber lange rumliegen konnte ich auch nicht, denn ich musste gleich nach Aomori zum Flughafen aufbrechen. Ich kann mich nicht erinnern, wie ich dahin gekommen bin. Ich bin ziemlich sicher, nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln gereist zu sein, also muss mich ja eigentlich jemand gefahren haben, aber ich habe keine Erinnerung daran. Ich weiß daher auch nicht, ob es in Aomori oder in Bezug auf den Flug etwas Besonderes gab, denn meine wenigen Erinnerungen stammen vom Flughafen in Tokyo.
Dort kaufte ich eine Postkarte. Ich hatte meinem Dozenten (der Anglistik) Dr. Schäfer vor meiner Abreise letztes Jahr versprochen, ihm eine Postkarte aus Japan zu schreiben. Das fiel mir hier an dieser Stelle siedend heiß wieder ein, zum letztmöglichen Zeitpunkt. Ich habe auch keine Ahnung mehr, was auf der Karte abgebildet war oder was ich auf die Karte geschrieben habe, aber als wir uns bei unserem nächsten Besprechungstermin begrüßten, lachte er und sagte, er habe meine Postkarte erhalten, und was ich geschrieben hatte und wann ich es geschrieben hatte, sei genau gewesen, was er von mir erwartet habe.[1]
Weiter auffällig waren die am Flughafen anwesenden Deutschen. Die mussten kein Wort sagen, obwohl sie rein äußerlich auch Franzosen oder Dänen oder sonst was in der Art hätten sein können. Nein, man erkannte die Deutschen sofort an ihrem griesgrämigen Gesicht irgendwo zwischen Ernst des Lebens und schicksalsergeben erduldetem Weltschmerz, und ich fragte mich erneut: Will ich in dem Land wirklich leben, mit solchen Leuten? Aber im Nachhinein kann ich nur festhalten: Man gewöhnt sich an fast alles.
Und dann stand ich an der Zollkontrolle, wo ein Beamter meine Reisedokumente besah und wohl auch per Computer meine Daten prüfte, denn er sagte zu mir: „Sie haben Ihre Krankenversicherungsbeiträge nicht vollständig gezahlt.“ Er nannte mir den Betrag und wies mir den Weg zum nächsten Bankautomaten. Es handelte sich um eine Summe zwischen 9000 und 10000 Yen, über die ich ja in Bar verfügte, also war das kein Problem. Allerdings muss ich mich im Nachhinein fragen, ob der Zollbeamte in Deutschland einem ausreisenden Austauschstudenten ebenfalls einen solchen ausstehenden Betrag nennen kann, oder ob dies mit dem Datenschutz nicht zu vereinbaren ist. Jedenfalls wurde mir erst nach dieser Überweisung die Ausreise erlaubt. Und so ging die Reise los, ich berührte vor dem Einstieg andächtig den Erdboden, machte aus dem Flugzeug heraus noch zwei Fotos und das war’s dann.
Dieser Punkt in meinem Blog wäre eigentlich der Platz, um die Collage zu veröffentlichen, die ich von allen Mitstudierenden gemacht hatte, zu denen ich ein positives Verhältnis hatte. Von jedem ein Porträt zu einem alphabetisch geordneten Poster zusammengefügt. Aber ich hatte irgendwann ein Problem mit der Festplatte und ein paar Bilder verschwanden im Nichts. Das Poster war eines davon, die Backup CD-ROM existiert nicht mehr.
Darüber hinaus hatte ich die Absicht, mir von jeder erreichbaren Person einen kurzen Abriss geben zu lassen, was aus ihr oder ihm in den vergangenen zwei Jahrzehnten geworden war, aber das scheiterte an einem Mangel an verbliebenen Kontakten im Vergleich zu der Masse an Adressen, die ich damals notiert hatte. Das heißt, ein paar Mailadressen wurden mir im Laufe der Jahre zwar als nicht mehr existent zurückgemeldet, da konnte man nichts mehr machen, aber ich glaube, dass die technische Entwicklung die E-Mail einfach unpopulär gemacht hat. Die meisten Leute kommunizieren heutzutage doch über entsprechende Apps auf dem Handy. Wenn ich Mails schrieb und schreibe – vor allem nach Asien – dauert es mitunter Wochen, bis ich eine Antwort erhalte, falls ich eine Antwort erhalte, weil nur wenige überhaupt noch Mailpostfächer verwenden. Ich kann daher nur Aussagen über wenige Personen machen, und deren letzte Informationen sind zum Teil schon uralt. Mein Freund Hiroyuki ist die einzige dauerhafte Ausnahme, der ist genauso „oldschool“ wie ich.
Frau Jin ist weiterhin Hausfrau mit zahlreichen Hobbys, mittlerweile kurz vorm Rentenalter.
Herr Jin ist bereits in Rente.
Yûtarô geht einem Bürojob nach.
Yûmiko wurde Erzieherin in einem Kindergarten.
Großmutter Jin erfreut sich noch guter Gesundheit, aber Großvater Jin ist verstorben.
Hiroyuki ist Dozent für Germanistik an einer nicht näher genannten Universität im Großraum Tokyo und hat eine Tochter.
SangSuu arbeitet womöglich noch für Siemens und hat ebenfalls eine Tochter.
Mei und BiRei haben ebenfalls Familien gegründet.
Izham ist Network/NOC Engineer bei KDDI America.
Alex ist Senior Renewal Manager at Salesforce an der Universität von Illinois.
Misi ist so unabhängig wie eh und je und wechselt Arbeitsplätze, wie es ihm gefällt, um seine Urlaube in Kroatien zu bezahlen, die er bevorzugt auf einem Mountainbike verbringt.
Irena engagierte sich in Ihrer Freizeit im Kindertheater und arbeitete hauptberuflich für einen Reiseveranstalter, bis sie zu Beginn der Coronapandemie mangels Reiseverkehr Ihren Arbeitsplatz verlor. Als ich Ihr eine Mail zum Geburtstag schrieb, warnte sie mich davor, mich impfen zu lassen, weil diese finsteren Zwecken diene und verstieg sich zu dem Vergleich, sie gehöre als Impfverweigerin zu den heutigen Juden, setzte also die damit einhergehenden Nachteile mit einer Verfolgung durch SS Einsatzgruppen gleich. Ich legte Ihr in sicherlich höflicher aber eindeutiger Sprache dar, was ich davon hielt – und hörte nie wieder von ihr.
Yui machte ihren Doktor und gründete eine Familie, allerdings nicht mit dem erwähnten Daniel – der wurde erst nach Guantanamo kommandiert und dann in den Irak, ins berüchtigte Abu Ghraib Gefängnis (nach dem Skandal), worauf sich seine Spur verlor. Yui bat mich vor etwa 15 Jahren einmal, ob ich nicht etwas herausfinden könne, aber ich konnte nur ermitteln, dass sein Name nicht in einer der Gefallenenlisten des US Militärs auftaucht.
Marc ist Senior Research Administrator an der Tohoku Universität.
Ricci fand einen tollen Mann übers Internet und lebt mit ihm in den USA.
Ronald hat es zum Prof. Dr. an der Uni Trier gebracht und den Lehrstuhl von Frau Prof. Dr. Gössmann übernommen.
Ich schiebe an dieser Stelle die Feststellung ein, wie sehr ich tatsächlich diese vielen vielen Zeilen nur für mich schreibe. Immerhin brechen die Einträge im Japantagebuch abrupt ab. Niemand kontaktierte mich, um nachzufragen, warum ich nicht weiterschrieb, wie die Geschichte denn nun weiter- oder zu Ende gehe. Ich bin nicht so böse, dass ich annehme, dass es keinen interessiert. Ich gehe einfach davon aus, dass das Leben dem einen Riegel vorschiebt. Vollzeitarbeit, Ehe, Kinder, andere persönliche Angelegenheiten bis hin zu, ja, Interesseverschiebungen. Und wie bereits angedeutet, muss ich auch davon ausgehen, dass von den Mailadressen, die im Verteiler stehen, bestenfalls noch die wenigsten abgerufen werden. Das ist für mich persönlich schade, da ich mich natürlich auch auf ein wenig Interaktion gefreut hatte, aber ich bin auch jemand, den das Leben gelehrt hat, in dieser und vieler Hinsicht keine Erwartungen zu haben, dann bleibt auch die Enttäuschung aus. Also: Schade, aber nicht schlimm.
Kommen wir zum eindrücklichsten Teil meines Epilogs. Zum jetzigen Zeitpunkt muss ich nämlich gestehen, dass ich bei der Abreise aus Japan entschlossen war, mich von Melanie zu trennen. Wir hatten zum ersten Mal zusammen in einer gemeinsamen Wohnung gelebt und es war nicht immer leicht gewesen. Mein Manuskript ist in diesem Bereich direkter und ungeschminkter als die Blogvariante, aber viele intime Details gehen den geneigten Leser einfach nichts an. Wir befanden uns täglich in einer Situation der kulturellen Konfrontation. Japaner verhalten sich anders als Deutsche, das war anstrengend. Japaner sprechen zudem tendenziell Japanisch, was dem zugereisten Ausländer viel Mühe abverlangt, wir waren über ein wenn auch gutes Smalltalk-Japanisch nicht hinausgekommen, und gewöhnliche Alltagskommunikation war daher ebenfalls anstrengend, denn wir mussten verstehen und mussten verstanden werden und das gelang nicht immer, auch das gehörte zum alltäglichen Hintergrundrauschen, das für ein Level an Stress und Gereiztheit sorgte, das einfach nicht wegzubekommen war. Wir haben uns oft gestritten wegen irgendwelchem Blödsinn, wegen Dingen, die wir krummer nahmen, als es notwendig gewesen wäre. Ich war es leid, ich wollte nicht mehr wegen irgendwelcher Kleinigkeiten beschimpft und wie ein Idiot behandelt werden.
Zuhause angekommen musste ich mich um eine Wohnung kümmern und entgegen meiner eben geschilderten Absicht suchte ich ein Apartment für zwei Personen. Melanie blieb noch drei Wochen in Japan, zwei davon in Hirosaki, wo sie von unseren im Beni Mart angesammelten Treuepunkten lebte, und eine Woche in Tokyo, wo sie bei „Claudia“ unterkam, aber… wer ist Claudia? Jedenfalls hatte ich drei Wochen Beziehungsurlaub und die besserten meine Laune erheblich. Wir zogen zusammen in das private Wohnheim gegenüber der Uni und wohnten dort zusammen noch zehn Jahre, auch noch zwei Jahre über unseren Hochschulabschluss hinaus, dann kamen wir nach Koblenz, wo wir nun auch schon zehn Jahre leben. 2019 wurde unser Sohn geboren… was soll ich sagen? Das Leben kennt Höhenflüge und Talsohlen, ich kenne mehr das letztere, aber ich vergesse natürlich die Höhen nicht. Mein Jahr in Japan war allem Stress und Streit zum Trotz die größte Höhe, die ich je erreichte, ein definierender Zeitraum in meinem Leben, ein Zeitraum, der mein Leben teilt: Vor Japan und nach Japan. Und ja – ich vermisse Japan heute mehr als ich Deutschland je in Japan vermisst habe.
[1] Natürlich wurde da grundsätzlich Englisch gesprochen: „I received your postcard, and what you wrote and when you wrote it was exactly what I expected from you.” Und daran erinnere ich mich, als sei es letzte Woche gewesen.