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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

21. März 2024

Sonntag, 21.03.2004 – Nitabô

Filed under: Japan,Manga/Anime,Musik,My Life,Spiele — 42317 @ 7:00

Ich stehe um Zehn auf und lese „Erdsee“. Um 14:00 mache ich mich mit Melanie auf den Weg ins Daiei. In der dortigen Gemeinschaftshalle wird um 15:10 der Film „Nitabô“ gezeigt. Der Anime handelt von einem Shamisen-Meister im 19. Jahrhundert; ich wollte ihn unbedingt sehen und heute ist der letzte Tag.

Wir sind um 14:30 an Ort und Stelle und haben noch ein bisschen Zeit, die wir in der Spieleabteilung verbringen. Melanie spielt ein Spiel, bei dem man auf einer Art Heimtrainer sitzt und mit den Pedalen den Propeller des Fluggerätes antreibt, das man vor sich auf dem Bildschirm sehen kann. Aufgabe des Spielers ist es, riesige Luftballons durch Berührung zum Platzen zu bringen, und natürlich arbeitet man dabei gegen die Zeit. Zwei Mädchen, um die 13 vielleicht, sitzen daneben (sie warten darauf, dass ihre Purikura Fotos ausgedruckt werden) und amüsieren sich darüber. Ihren Kommentaren entnehme ich, dass sie dieses Spiel gerne gespielt haben.

Die Tretmühle

Ich habe Hunger, also gehen wir noch in den Supermarkt im Keller und ich kaufe ein Paket Sandwichbrot.

Es wird schließlich Zeit und wir gehen zur Gemeinschaftshalle. 1300 Yen soll eine Karte kosten. Vorbestellung wäre billiger gewesen. Hier befinden sich vornehmlich Leute über 40 und die Kinder, die mitgebracht wurden, aber wen wundert das? Für die Altersgruppe dazwischen ist Shamisenmusik wahrscheinlich viel zu uncool. Ha, die wissen nicht, was sie verpassen! Ich krame den Geldbeutel heraus. Alle anderen Leute scheinen bereits eine Karte zu haben, also greife ich einen der „Platzanweiser“ heraus und frage ihn, wie wir an eine Karte kämen. Er weist uns zu einem Tisch am Eingang. Er nimmt zwei Karten aus dem Abreißblock und sagt: „Für Sie beide zusammen nur 2000 Yen – ein kleiner Service.“ Oha, dann umso lieber. Da sagen wir nicht nein und bedanken uns dafür.
Daijô-san, der die Biografie geschrieben hat, auf der der Film beruht, ist ebenfalls da und erläutert die Handlung kurz. Ein Mitarbeiter der Produktionsfirma sagt ebenfalls ein paar Worte und dankt allen Beteiligten. Ich hätte etwas solches für die Premiere erwartet, aber nicht für die letzte Vorstellung. Mir gefällt die Idee, obwohl ich vielleicht 10 % von dem verstanden habe, was die beiden Herren tatsächlich gesagt haben.

Eine Vorführung dieser Art bleibt natürlich nicht ohne Begegnungen. Zuerst wäre da eine der Familien aus dem „Happy Hippo Club“, genauer die Familie mit den niedlichen Zwillingstöchtern, denen ich die Bezeichnung „otokorashii Dominik“ zu verdanken habe. Die beiden Mädchen kichern, als ich winke. Mikami weist mich bei der Gelegenheit darauf hin, wer noch hier erscheinen wird, aber das dauert noch ein paar Minuten. Zunächst erscheint eine Dame auf dem Stuhl neben mir, die mich auf Englisch anspricht. Sie will mit dem Reden auch gar nicht mehr aufhören, scheint mir, bis sie mir eröffnet, dass sie mich kenne, bzw. mich bereits getroffen habe. Aha? Ich grübele, aber mein Gedächtnis für Gesichter ist schlecht wie eh und je. Ja, sie sei die Lehrerin von der Seiai Oberschule gewesen, die ich damals (am „Judgment Day“) gebeten habe, ein Gruppenfoto der Juroren zu machen (aus dem leider nichts wurde, weil die verdammte Kamera voll war). Dann erst fällt es mir wie Schuppen von den Augen und ich entschuldige mich für mein schwaches Gedächtnis. Schließlich klopft mir die von Mikami angekündigte Yûmiko auf die Schulter. Sie ist mit ihrer Mutter Eiko hier. Ich bin angenehm überrascht, wenn ich das angesichts der Ankündigung noch so sagen kann.

Oh… und der Film ist gut. Vor allem gefällt mir der Soundtrack und Shamisenmusik allgemein gefällt mir immer besser. Tsugaru Shamisen, um genau zu sein – HiroDai verpflichtet. Ich bin sicher, dass auch Oliver was daran haben könnte, und sei es von einem rein spieltechnischen Standpunkt aus betrachtet.
Die grafische Qualität ist hervorragend, die Geschichte wird in sehr schönen Bildern erzählt, die nach meinem Empfinden einer Ghibli-Produktion durchaus das Wasser reichen kann. Die Handlung ist auch nicht das, was man „Main Stream“ nennen könnte – es geht um einen blinden Musiker, da ist nicht viel Action zu erwarten. Zuletzt sprechen die dargestellten Personen ein sehr klares, deutliches Japanisch und man versteht sie sehr gut. Zumindest habe ich von den Dialogen deutlich mehr verstanden, als von dem, was die zwei Kommentatoren vor Beginn des Films erläutert haben. Mit anderen Worten: Ich will den Film haben.

Gleich nach der Vorführung kommt Jin Eiko zu mir und fragt, ob ich nicht Lust hätte, mit ihnen ein kleines Konzert zu besuchen, an dem auch Yûtarô mitwirke. Ich überlege zuerst, ob ich das Angebot annehmen soll oder nicht, aber dann frage ich mich, ob ich denn bescheuert sei – was gibt es da zu überlegen? Ja, wir sind dabei. Wir haben wirklich nichts Besseres vor. Unsere Fahrräder sollen wir einfach am Haus der Familie abstellen, von da aus würden wir dann mit dem Auto mitgenommen. Genau das machen wir und erhalten jeder ein Crèpe aus eigener Produktion mit Vanilleeisfüllung als „Reiseproviant“. Besten Dank. Sogar ich muss zugeben, dass das Produkt gut ist. Mein Vater allerdings hätte mich wohl in den Kofferraum gesperrt, wenn ich je versucht hätte, in seinem Auto ein Eis zu essen.

Wir gehen in die Halle, wo Essen verboten ist, also wende ich das „englische Transportverfahren“ auf mein verbliebenes Brot an – ich stopfe es unter meine Jacke.[1] Zur großen Belustigung von Jin Eiko. Wir verpassen nur die ersten Minuten. Es handelt sich auch nicht wirklich um ein „homogenes“ Konzert, sondern um eine Veranstaltung, in der mehrere Gruppen auftreten. Alles Kinder bis 14 Jahre, und gespielt wird auf Keyboards des Sponsors – Yamaha. Gespielt wird unter anderem „Unter dem Meer“ aus dem Disneyfilm „Arielle“, die Star Wars Symphonie (Episode IV), Titel von SMAP, und und und. Das Alter der Interpreten steigt im Laufe der Vorstellung, das heißt, Yûtarô und seine Gruppe spielen als letzte. Und ganz am Ende dürfen alle gemeinsam zur Freude der Eltern noch was singen. Ich beglückwünsche Yûtarô zu seiner Leistung und frage ihn, wie er sich fühle. Er sagt, er habe noch ganz heftiges Herzklopfen.

Und weil der frühe Abend so schön ist, werden wir auch noch zum Essen eingeladen. Wir essen in einem traditionell eingerichteten Haus – ohne Stühle. Als Vorspeise bekommen wir Tempura und frittierte Garnelenschwänze, danach gibt es Sushi, eine Platte für jeden, von denen ich allerdings drei esse, weil Jin Eiko ja bekanntlich auf Grund ihrer Familienvorgeschichte keinen Fisch mehr sehen kann und Melanie bereits satt ist. Das Hauptgericht sind Soba Nudeln, kalt. Zum Nachtisch gibt es Eis – und zwar Soba Eis! Es schmeckt irgendwie auf sanfte Art und Weise nach Nuss.

Wir mit Familie Jin inklusive Großeltern

Um kurz nach Neun fahren wir zum Haus der Familie Jin zurück und von dort aus mit dem Fahrrad nach Hause, trotz des mehrfachen Angebots, mit dem Auto nach Hause gefahren zu werden. Aber es ist ja nun wirklich nicht kalt und wir sind schon des Öfteren nach Anbruch der Dunkelheit unterwegs gewesen. Ich werde morgen eine Mail schreiben, in der ich mich ausführlich bedanken kann.

Zuhause sehen wir noch „Tetsuwan Dash“, eine der Shows der Band TOKIO. Und die haben heute niemand geringeren als Jackie Chan zu Gast. Und das nicht zum ersten Mal, wie ich aus den Gesprächen entnehmen kann. Nebenbei sei erwähnt, dass Jackie Chan in Japan einen größeren Volksauflauf von Autogrammjägern verursacht als die einheimische Band TOKIO, deren Gesichter in Japan doch auch jeder kennt. TOKIO fährt hier natürlich keine gesittete Talkshow – hier wird ein Wettkampf veranstaltet. Aufgabe ist es, ein Souvenir aus Hakone zu besorgen – jeder ein anderes – und an einen vorher festgelegten Ort zu bringen. Mit maximal 3000 Schritten.[2] Dazu erhalten alle Teilnehmer einen Schrittzähler. Jedes öffentliche (!) Fortbewegungsmittel ist erlaubt, mit Ausnahme eines Taxis. Das heißt, die Jungs müssen erst einmal nach Hakone kommen und dort ihr Souvenir finden, indem sie Leute fragen. Um die Beschränkung der Schrittzahl weniger hart zu machen, erhält jeder einen Hartschalenkoffer mit Rädern.
Matsuoka hat das Souvenir als erster besorgt, aber er scheitert 2,5 m vor dem Ziel. Jackie kommt als dritter an, aber auch er hat 7,5 m vor der Ziellinie seinen letzten Schritt verbraucht. Jetzt würde ich natürlich gerne den Namen des Siegers nennen, aber ich habe ihn mir nicht gemerkt.

Danach sehe ich noch „Pretty Cure“ und „Zorori“ an, und ich stelle heute den endgültigen Anachronismus jener Welt fest – da gibt es nämlich Automobile und mit Motoren betriebene Luxusliner. Über den mechanischen Drachen der ersten Episode habe ich „hinweggesehen“ und dachte, die moderne Technik sei aus rein humoristischen Gründen eingefügt worden, aber jetzt, wo die damals entführte Prinzessin und ihr Prinz mit einem Chevrolet Cabrio in die Flitterwochen fahren, muss ich die Lage wohl anerkennen. Was nicht heißt, dass ich mir das nicht weiter ansehen werde… Zorori ist immer noch lustig.


[1] Die Bezeichnung geht auf meinen ersten Englandausflug im Schulrahmen anno 1991 zurück. Ohne Rucksack war ich gezwungen, mir gegebene Lunchpakete in meine Jacke zu stopfen. Da viele meiner MitschülerInnen diese Lunchpakete abscheulich fanden, hatte ich immer ein halbes Dutzend davon auf diese Art und Weise bei mir, um sie im Laufe des jeweiligen Tagesausflugs zu verzehren.

[2] Hakone liegt über 80 km südöstlich vom Stadtzentrum von Tokyo entfernt.

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