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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

21. November 2023

Freitag, 21.11.2003 – Go, Go, Kinnikuman!

Filed under: Japan,My Life,Spiele — 42317 @ 10:18

Guten Morgen Deutschland!

Heute ist der Punkt erreicht, an dem ich ein neues Notizbuch anfangen muss – mein altes, das ich aus Deutschland mitgebracht habe, ist voll. Im übrigen habe ich zwar gesagt, dass ich gerne kurze Kommentare hätte, um Zeit bei meiner Post sparen zu können – allerdings habe ich zu diesem Zeitpunkt nicht damit gerechnet, dass nur halb so viele Leute, wie gedacht, mir schreiben würden. Ich bin von einer Antwort- oder Kommentierungsrate von 20 % ausgegangen… als ob das nicht schon ein niedriger Ansatz wäre…

Ich bitte also diejenigen unter meinen Freunden und Bekannten, die noch gar nichts von sich haben hören lassen, um eine kurze Mitteilung, wie ihre Eindrücke von meinen Berichten bisher sind – zu neudeutsch: Ich bitte um Feedback.

Vielen Dank!

Masako ist mit ihren Voruntersuchungen fertig. Masako ist eine junge Studentin kurz vorm Abschluss, die uns vor etwa zwei Wochen eine Bandaufnahme mit kurzen japanischen Mitteilungen vorgespielt hat, damit wir entscheiden, welche der Vokabeln wir (die Ausländer) am besten verstehen. Wir haben damals also das, was wir heraushören konnten, auf einem Formular, das sie ausgeteilt hat, vermerkt und abgegeben, und aus diesem am besten verstandenen Vokabular hat sie eine Reihe von Katastrophenmeldungen zusammengebastelt. Sie möchte den Katastrophenschutz verbessern helfen, indem sie möglichst einfaches Vokabular an die entscheidenden Stellen weiterleitet, damit auch Ausländer die Meldungen im Radio verstehen können, was denn nun in welchem Falle zu tun sei, falls es einen Großbrand, eine Flutwelle oder ein Erdbeben (oder alles zusammen) geben sollte.
Der Schwachpunkt ihrer Untersuchung ist leider, dass ihre Studien nichts darüber aussagen, ob der Hörer die Begriffe, die er aufschreiben kann, auch wirklich versteht. Man kann ja Wörter, also Lautfolgen, die man in der Bandaufnahme gehört hat, aufschreiben, ohne zu wissen, was man schreibt. Allerdings bin ich nicht recht sicher, wie ich ihr das klarmachen könnte, also lasse ich es. Außerdem freut sie sich viel zu sehr über die rege Beteiligung und das freut wiederum mich.

Sie hat Melanie und mich für 10:00 in ihr Büro gebeten, wo wir uns eine Reihe von Durchsagen anhören und nachher aufschreiben sollen, um was es gerade eben ging. Es sind aber auch eine Reihe von „Ja oder Nein“ Fragen dabei. Das Szenario: „Heute Morgen ereignete sich ein schweres Erdbeben der Stärke 6“.
An dieser Stelle folgt eine Auswahl aus den Ja-Nein-Fragen (und meine spontanen Gedanken dazu), die ein halbwegs vernünftig denkender Zehnjähriger beantworten könnte, ohne jemals eine der Durchsagen gehört zu haben, aus denen man die Antwort heraushören soll:

Kann man beliebig telefonieren?“
(„Nun ja, wenn die Sendemasten noch stehen würden, könnte es sich lohnen, darüber nachzudenken.“)

Kann man an den Ausgabestellen beliebig viel Wasser erhalten?“
(„Klar, ich lade mir mal eben schnell 200 Liter auf die Sackkarre und lasse meinem Nachbarn den Fluss.“)

Können die Kinder zur Schule gehen?“
(„Bestimmt, wenn sie helfen, die Trümmer zu beseitigen und die Tafel an den umgestürzten Baum nageln.“)

Kann man die Straße in Nishihiro benutzen?“
(„Aber sicher!Aber umfahren Sie bitte die Schlaglöcher von drei Metern Breite und zehn Metern Tiefe oder warten sie, bis sich diese mit Automobilen und anderen Verkehrsteilnehmern gefüllt haben.“)

Ich will nicht den Eindruck erwecken, dass Masako hier schlechte Arbeit geleistet hätte. Ganz im Gegenteil, ich finde ihre Bemühungen sehr lobenswert, und in der Tat war ich wegen ihrer Vorarbeit auch in der Lage, 95 % der abgespielten Durchsagen zu verstehen, und auch wenn ich das eine oder andere Wort nicht kannte, ließ es sich oft aus dem Kontext schließen.1

Danach führt mich Yui zu einer Michinoku Bankfiliale, die sich im Stadtteil Nishihiro befindet und damit etwas näher an unserem Haus liegt als die Hauptstelle in der Stadtmitte, wo ich dann endlich meine Miete zahlen kann. Drei Wochen zu spät. Kubota-san hat mich schon mit besorgter Miene gefragt, ob denn alles in Ordnung sei und wann ich denn zahlen könne. Nein, ich habe nicht mein ganzes Geld in der Pachinko-Halle gelassen.
Ich gebe meine Zahlungsunterlagen ab und werde gebeten, doch noch ein paar Minuten zu warten, bis meine Angaben überprüft seien. Yui verabschiedet sich derweil, weil sie gleich Unterricht hat. Und kaum ist sie weg, werde ich von der Angestellten mit neuen Vokabeln „versorgt“, von denen ich so richtig gar keine verstehe. Schließlich führt mich eine Kollegin zu dem Einzahlungsautomaten im Eingangsbereich des Hauses und erklärt mir, wie man ihn bedient. Aus dem Automaten erhalte ich eine Karte mit Magnetstreifen, die mir die Eingabeschritte, wer hier was an wen zahlen möchte, erspart. Im Prinzip muss ich danach nur noch den Verwendungszweck angeben, dass ich Miete zahlen möchte, schiebe die Karte in den dafür vorgesehenen Schlitz und gebe die Summe an, die ich zu zahlen habe. Es öffnet sich ein Fach am Automaten, in den man Geldscheine einlegen kann. Der Automat zählt das Geld und gibt den Rest zurück. Sehr praktisch. Außerdem ist diese Zahlungsmethode etwa 500 Yen billiger, als wenn man am Schalter bezahlt. Aber von den Erläuterungen verstehe ich nur die Hälfte, also werde ich beim nächsten Mal wohl wieder etwas Hilfe brauchen. Das wäre dann kommende Woche, weil ich meine Miete diesmal pünktlich zahlen möchte, also vor Monatsende.

Bis zu dem folgenden Unterricht habe ich noch etwas Zeit, aber sie reicht nicht aus, um einen Bericht verfassen zu können. Der Bericht wird bis Samstag warten müssen, und ich habe auch den Rest des heutigen Tages keine Zeit mehr, etwas zu schreiben. Wir werden heute Abend Gäste im Plaza Hotel sein, wo eine weitere Internationale Party stattfinden wird. In einem größeren Rahmen als bisher, wie man mir sagte.

Kurz bevor wir nach Hause fahren, um unseren Beitrag zum Fest zu holen, beginnt es zu regnen. Erst ganz leicht, dann stärker. Es reicht auf jeden Fall aus, um meine Hose zu durchnässen. Ich sehe in den Schrank. Keine Wechselhose mehr da – zwei Jeanshosen sind in der schmutzigen Wäsche, weil Fahrradöl daran klebt und eine weitere hängt noch zum Trocknen aus. Oha, das beschränkt meine Auswahl doch sehr… ähem… die Frage lautet also: deutsches oder amerikanisches Tarnmuster? Dann lieber deutsche Punkttarnung. Oh, wie passend, dann kann ich ja auch das grüne „Hard Rock Café Budapest“ T-Shirt anziehen, das mir meine Großeltern mal geschenkt haben. Das passt farblich doch ganz hervorragend. Ganz wohl fühle ich mich dabei nicht, immerhin soll diese Veranstaltung etwas „gediegener“ sein als die zuvor. Mit allen Gastfamilien und so. Ich stecke in einer Zwickmühle – die Darstellung Deutschlands in dieser Sprachsendung stört mich, weil Deutschland über das (militante) Dritte Reich zu negativ dargestellt wird… aber ich kann auch schlecht in Unterwäsche zu dieser Veranstaltung gehen, oder in den ölverschmierten Hosen. Ich habe nur noch militärisch aussehende Hosen. Daran kann ich jetzt nichts ändern. Auf die Reaktionen bin ich gespannt.

Wir ziehen es vor, mit der großen Schüssel Nudelsalat mit dem Taxi zu fahren. Erstens ist die Schüssel nicht bequem zu tragen und zweitens wären wir durchgeregnet, wenn wir im Hotel ankommen. Die Fahrt kostet uns 1000 Yen. Der Basispreis beträgt 580 Yen, dafür kann man wohl einen Kilometer weit fahren, danach steigt der Preis je nach Entfernung in Schritten von 80 Yen. Eigentlich haben wir vom Center ein Ticket bekommen für das Taxifahren. Wir sind allerdings davon ausgegangen, dass das dazu diene, nach dem Fest die entstandenen Kosten zurück zu erhalten. Valerie klärt uns schließlich irgendwann (nachdem alles gelaufen ist) darüber auf, dass man dieses Ticket bei den Fahrern hätte abgeben müssen, um so umsonst zu fahren. Ganz toll.

Das Plaza Hotel sieht ein wenig nach gehobener Klasse aus. Die Lobby macht einen nüchternen, aber teuren Eindruck. Um fünf Uhr sollten wir erscheinen, eine Stunde vor Beginn etwa. Die eintreffenden Studenten werden in kleinen Gruppen in die Küche gebracht, wo sie ihr Essen selbst anrichten dürfen. Die Plastikbehälter werden also in eine Ecke gestellt und das Geschirr des Hotels verwendet. Währenddessen erhält man kurze Einblicke in das Küchenleben des Hotels. Wie es scheint, stellen nicht nur die Studenten etwas zu Essen zur Verfügung – das Hotel selbst sorgt für kleine japanische Gerichte wie Sushi oder Sashimi. Nachdem wir unseren Nudelsalat auf drei große Teller verteilt haben, wird er auf einen Wagen gestellt und von den Angestellten in die Halle gebracht. Danach geben wir unsere nicht benötigten Kleidungsstücke an der Rezeption ab.

Natürlich wird meine Bekleidung nicht übersehen. Vor allem die anwesenden Studierenden sind belustigt oder überrascht. Frau Jin ist mit ihrer Tochter und ihrer Schwiegermutter eingetroffen. Der Sohn ist zum Lernen zuhause geblieben und der Gatte muss noch arbeiten. Sie bezeichnet meinen Aufzug als „kakkoii“, aber heute will ich das nicht so ernst nehmen. (Für alle, denen es nicht klar ist: kakkoii heißt etwa „Eine gute Figur machen“ und bezeichnet konnotativ etwa den Umstand, dass jemand anziehend auf das andere Geschlecht wirkt.) Da sie immer noch nicht ohne Hilfsmittel gehen kann, sitzt sie in einer Ecke des Saales und lässt sich ihre Portion Essen bringen. Sie möchte auch Melanies Nudelsalat probieren, also bringe ich ihr welchen.

Oma Jin, Mutter Jin, Yûmiko, Minato, Mikami und ihre vergessene Zwillingsschwester.

Auch sonst kommen meine Hosen ganz gut an. Vor allem bei Kindern, wie mir scheint. Nachdem Yûmiko (11) die übrigen Halbwüchsigen davon überzeugt hat, dass ich nicht zum Fürchten“ sei (Kowaku nai! Kowaku nai!) sei, bin ich schnell von einem halben Dutzend davon umgeben. Die sind alle halb so groß wie ich, im Alter von etwa vier bis zwölf Jahren und – man beachte – bis auf ein Exemplar alle weiblich. Und die haben eine unglaubliche Freude daran, zu versuchen, mich alleine oder gemeinsam von der Stelle zu schieben, indem sie sich gegen meinen Oberschenkel pressen und ihre ganzen 25 kg Gewicht in die Waagschale werfen. Yûmiko schafft es natürlich ebenfalls nicht und ich sage ihr, dass das kaum ginge, weil ich 95 kg wiege – und wie viel habe sie zu bieten? Hidoi! Himitsu desu! ruft sie (Wie unhöflich! Das ist ein Geheimnis!), aber sie lacht auch weiterhin. Ich lasse ihr das Geheimnis.

Nachdem ich dann irgendwann doch einmal einen Fußbreit Boden aufgegeben habe, macht sich die Jüngste (4)2 daran, meine Hosentaschen zu durchsuchen, in denen sich mein Brillenetui befindet, meine Notizbücher, mein Reisepass mit dem Versicherungsnachweis (den ich lieber in Sicherheit bringe), meinen Geldbeutel, meine Hausschlüssel, zwei Batterien für die Kamera und ein Radiergummi. Die europäische Schrift in meinem Notizbuch scheint eine große Anziehungskraft zu besitzen, und Yûmiko ist enttäuscht, dass ich ein neues habe beginnen müssen. Sie bittet mich darum, das alte bei meinem nächsten Besuch wieder mitzubringen. Sie kann zwar kein Wort lesen (lesen schon, aber nicht verstehen), aber wenn es ihr gefällt, wie mein Schriftbild aussieht, von mir aus.

Die Vierjährige erscheint mir etwas zu neugierig von meinem Standpunkt der Erziehung aus betrachtet, auch wenn sich in meinen Hosentaschen nichts Geheimes befindet. Aber was soll ich dagegen tun? Ich kann sie ja schlecht KO schlagen… und wirklich stören tut mich meine Popularität ja nicht.
Nachdem ich meine Sachen wieder weggepackt habe, beginnt ein neues „Spaßkapitel“. Eine der Zwölfjährigen macht sich einen Spaß daraus, das Etui in meiner Seitentasche anzufassen, wenn sie an mir vorbeigeht, dann grinst sie mich an und sagt „Kinniku!“ („Muskeln!“) Nein, das sind keine Muskeln; das ist Plastik und ich verpacke meine Brille darin! Aber ich nehme die Angelegenheit ja auch nicht ernst und sie macht munter weiter, die Ausbeulung des Etuis anzufassen oder mit ihrer kleinen Faust auf meinen Oberschenkel zu schlagen. Ich amüsiere mich sehr dabei. Bis zum Ende des Tages werde ich noch zum „Kinnikuman“ befördert. Frei übersetzt also „Muskelmann“, und es handelt sich dabei in einen bekannten Anime um einen solchen. Eine Komödie. Vielleicht sollte ich mir auch „Kinnikuman“ einmal ansehen.

Aber davor stehen immer noch erst einmal die ganzen Spiele zur Unterhaltung auf dem Plan. Geplant und durchgeführt wird das Unterhaltungsprogramm vom „Hippo Family Club“, Maeda-san (das ist die Gastmutter von Melanie, falls ich es noch nicht erwähnt habe) macht die Moderatorin.

Frau Maeda, Minato, SungYi, dahinter Dave

Zuerst ein Sing- und Koordinationsspiel. Es wird eine Melodie gespielt und man formt im Takt mit den Fingern die Buchstaben „L-O-V-E“. Ich halte mich höflich zurück und mache ein paar Bilder.

Frau Maeda, Luba, Ramona, Valérie

Danach gibt es ein „Massen-Jan-Ken-Pon“. Das ist, wir erinnern uns, „Schere-Stein-Papier“, aber in einem großen Rahmen. Jeder einzelne Anwesende sucht sich einen Gegner aus, der Verlierer stellt sich hinter den Gewinner und legt die Hände auf seine oder ihre Schultern. Der Gewinner sucht sich dann den nächsten Gegner, bis am Ende nur noch eine Person übrig ist, mit einem Wurm von etwa 100 Verlierern im Schlepptau.

Melanie mit Mei im Schlepptau

Der Gewinner ist ein etwa 70 Jahre alter Herr, der dafür auch einen kleinen Preis erhält. Da mir dieses Spiel schon in der Grundschule zu kindisch war, bleibe ich (mit Marc) abseits und mache Fotos mit Melanies Kamera, damit sie auch welche hat.

ReiGen im Finale mit dem späteren Sieger, hinten rechts Misi, der aus der Menge ragt.

In das folgende Spiel werde ich mit sanftem Druck zwangsintegriert. Zuerst bilden die Austauschstudenten einen Kreis in der Mitte des Raumes, die Japaner bilden einen großen Kreis drumherum. Dann geht Maeda-san zu irgendeiner Person im inneren Kreis und fragt etwas, was ich nicht verstehe. Die Antwort ist eine Zahl und plötzlich kommt Bewegung in die Menge. Ich habe keine Zeit, zu verstehen, was hier läuft, Nan packt mich am linken Arm und zerrt mich in ihre neugebildete Gruppe, gemischt aus Studenten und Japanern. Ich habe keine Ahnung, was hier gespielt wird, im wörtlichen Sinne. Die Gruppe kniet ab und es wird die Zahl der Personen gezählt. Schließlich, nach drei Durchgängen oder so, kommt Maeda-san auch zu mir. Ich habe keinen blassen Dunst, was sie von mir will. Sie flüstert mir ins Ohr, dass ich einfach die Zahl „10“ nennen soll – und zeigt mir fünf Finger. Mein sonst geordnetes Denken löst sich auf in einem Strudel von Fragezeichen. Was denn nun? Ich sage „fünf“, dann nimmt sie immer einen Finger weg und ich zähle runter bis auf „eins“, und dann wieder hoch auf fünf. Fünf bleibt das Endergebnis meiner Verwirrung und das wilde Treiben beginnt wieder mit dem Bilden neuer Gruppen. Bevor ich weiß, was ich getan habe, werde ich bereits in den nächsten Kreis geschoben. Was wird denn nun hier gespielt?

Was das alles bedeutet, erfahre ich erst ganz am Schluss. Der Gefragte muss einfach eine Zahl sagen, und daraufhin müssen sich Gruppen mit exakt dieser Personenzahl bilden. Die Gruppen kommen zusammen, fassen sich bei den Händen, klatschen erst ein paar Takte zur Musik in die eigenen, und dann in die Hände des Nachbarn und gehen schließlich in die Hocke, wo dann gezählt wird, ob die verlangte Personenzahl vorhanden ist. Was mit denen passiert, die keine Gruppe abbekommen, weiß ich nicht. Zuletzt stellt man sich einander vor. Nette Idee, aber leider recht sinnlos, weil ich mir nach einem solch kurzen Kontakt die Namen und die dazu gehörenden Gesichter vielleicht zwei Minuten lang merken kann. Eigentlich sollte man an dieser Stelle, im letzten Kreis, auch die vorbereiteten Namenskarten verteilen (Herkunftsland und Name stehen darauf), aber auch von diesen Karten hat mir vorher keiner gesagt, was ich mit ihnen tun soll. Und da ich keine Ahnung habe, dass diese Karten für speziell dieses Spiel gedacht waren, werden sie entweder im Müll landen oder mein Andenkenregal zieren…

Und was Frau Maeda mir „vorgeführt“ hat, war die japanische Art, mittels einer Hand bis Zehn zu zählen. Japaner fangen, anders als Deutsche, mit dem kleinen Finger an zu zählen und mit dem Daumen ist die Hand dann ganz offen, man ist bei Fünf angelangt. Dann wird die Hand beginnend mit dem Daumen wieder geschlossen, aber anders als ich das interpretiert habe, heißt das nicht, dass rückwärts gezählt wird, sondern man zählt bei Sechs weiter bis rauf zur Zehn, wo die Hand dann wieder ganz geschlossen ist. Zählt man weiter als bis zehn, wird die zweite Hand dazu verwendet, die Zehnerstellen anzuzeigen. Das ist zugegebenermaßen viel praktischer als die Art des Zählens, die ich in meinem heimischen Kindergarten gelernt habe, da hat jeder Finger seine eigene Nummer und wie man höher zählen kann, wird einem nicht beigebracht. Die japanische Methode erleichtert die Aufgabe, und zwar ohne, dass man sich schriftliche Notizen machen muss.

Melanie erzählt mir nachher, dass Männer hier übervorteilt gewesen seien, weil ja nicht wenige jüngere Damen mit kurzen Röcken erschienen waren… in der im Spiel vorgesehenen Hockstellung wusste man dann angeblich oft genug nicht, wo man hinschauen sollte, um nicht „irgendwohin“ zu starren.

Zuletzt spielen wir ein Spiel, das für mich untrennbar mit gelangweilten, aber kontaktfreudigen amerikanischen Rentnern verbunden ist: BINGO. Da vorne steht also ein adrett gekleideter Herr, der sich von einer jungen Dame (im Kimono) kleine Bälle mit Buchstaben und Zahlen reichen lässt, die sie aus einer Lostrommel zieht. Dafür haben wir zu Anfang also diese seltsamen Lochkarten erhalten. Wenn eine Zahl genannt wird, die sich auf der Pappkarte befindet, drückt man das Kästchen durch, und wenn man eine Fünferreihe voll hat, hebt man den Arm, das Spiel wird kurz unterbrochen, man geht nach vorn und erhält einen Preis. Ich fühle mich reichlich dämlich dabei, im Alter von 26 Jahren BINGO zu spielen – aber ich gewinne was: Zwei Pakete sind noch da. Ich nehme das schwerere. Ui, ein Topf. Und nicht irgendein Topf, sondern eine Kasserolle, also ein Glas-Keramik-Topf, der speziell für Backofengerichte gedacht ist, wie z.B. Gemüseaufläufe oder ähnliches. Leider habe ich gar keinen Backofen, und außerdem benötigen wir keine Töpfe mehr, weil Melanie das alles bereits letzten Monat gekauft hat…

Ramona gewinnt eine Trainingsjacke mit „WONDA“ Aufdruck (ein Kaffeehersteller), die ihr eigentlich viel zu groß ist und die mir viel besser gefällt, als mein langweiliger und unbrauchbarer Pott. Sie möchte meinen Topf prinzipiell auch gerne haben, aber sie hat ebenfalls keinen Ofen in Japan, und für die Postgebühren in die Heimat würde sie wohl einen neuen bekommen – abgesehen von der Gefahr, dass das Teil während des Transports kaputtgehen könnte. Ich glaube, ich nutze den nächsten Besuch, um Frau Jin damit zu beschenken – die kann mehr damit anfangen, als ich.

Bis zum Ende will aber der Berg an Essen noch vertilgt werden und ich tue mein Bestes, dabei zu helfen. Das japanische Essen, das das Hotel bereitgestellt hat, ist von hervorragender Qualität. Die besten Sushi, die ich seit langem gegessen habe. Ansonsten hat jede hier vertretene Nation etwas beigesteuert (und ich habe bestimmt die Hälfte davon vergessen):
Gulaschsuppe aus Ungarn (und diese Version aus Debrcen ist gar nicht scharf)
Scharfe Gemüsesuppe und Kräuterbrot aus Thailand (und die Suppe war richtig scharf!)
Minestrone aus Italien (die von Ramona stammt, die eine halbe Italienerin ist)
Kartoffel-Gemüse-Hühnereintopf in Kokos-Soße aus Neukaledonien
Omelett mit Tomate, Chili und Kräutern aus China
Sandwiches und Weißbrot mit Ei-Mayonnaise-Füllung aus Frankreich
Kartoffelsalat mit Fleisch aus Russland
„Strutlj“ aus Slowenien (ich muss Irena noch mal fragen, was da drin ist, weil ich nichts mehr bekommen habe)
Spaghetti mit Muscheln (unbekannter Hersteller)
Kaiserschmarrn aus Deutschland (der ist von Marc) und
Nudelsalat aus Deutschland.
Von letzterem hat Melanie eine Portion für zehn Mann gemacht, mindestens, obwohl nur für fünf verlangt war. Offenbar ließen sich die Mengen auf zehn leichter umrechnen als auf fünf? Dem entsprechend ist auch viel übrig geblieben. Aber das macht nichts, weil am Ende Plastikbehälter ausgeteilt werden, in denen man sich mitnehmen kann, was man haben und an sich reißen kann.

Um 2000 ist die Feierlichkeit dann beendet und jeder Teilnehmer erhält zum Abschied eine Tüte mit Äpfeln. Unter den Äpfeln ist außerdem eine kleine Keramikschüssel versteckt. Zusammen mit meinem dämlichen Topf ist das alles etwas unhandlich. Wir fahren mit dem Taxi nach Hause. Es regnet zu sehr, um zu Fuß zu gehen, und sogar ich muss einsehen, dass das unvernünftig wäre. Die große Plastikschüssel, in der der Nudelsalat ursprünglich hergebracht worden ist, überlassen wir Irena, die sich der Schüssel freundlich annimmt. Wir haben sie in der Küche der Einfachheit halber in ihre Plastiktüte gepackt, weil wir eine solche vergessen haben.

Wir sagen dem Taxifahrer, dass wir nach „Nakano 5 Chomei“ wollen und er fährt los. Vielleicht hätten wir „10 no 27“ noch dazu sagen sollen… weil er an unserer Strasse vorbeifahrt. Ich mache ihn vorsichtig darauf aufmerksam und er entschuldigt sich, fährt zurück und erlässt uns den Fahrpreis über 1000 Yen, immerhin 220 Yen.

Zuhause angekommen, räumen wir noch ein bisschen auf und ich beginne, den Tag schriftlich festzuhalten, damit mir diese Flut von Eindrücken nicht verlorengeht. Und wie ich den Tag so Revue passieren lasse, fällt mir auf, dass ich ein Detail vergessen habe. Springen wir also auf etwa 1550 zurück, als der Unterricht gerade beendet war.

Ich kam mit einem der Chinesen ins Gespräch und fragte ihn nach Beschäftigung und Alter der übrigen Chinesen in unserem Japanischkurs, weil die Herren alle schon recht alt aussehen, im Vergleich zu den sonstigen Studenten. Er sagt, dass die (männlichen) Chinesen hier im Kurs allesamt 29 bis 38 Jahre alt seien. Er selbst sei davon der Jüngste und hauptberuflich Programmierer (irgendeine Art von EDV-Spezialist). Die anderen drei studierten Medizin, sagt er. Alles Doktoren, zur Weiterbildung in Hirosaki. Die Uniklinik hier genieße einen guten Ruf. Natürlich gebe es noch bessere Universitäten, aber Hirosaki sei nun einmal „zufällig“ die Partneruniversität ihrer Heimatuni.
Ich warf einen verstohlenen Blick zu Shin hinüber. Der ist also über 30 Jahre alt und Arzt, aha. Ich hätte Skrupel, mich ihm anzuvertrauen… nicht, weil er unsympathisch wäre, aber er redet seltsam… und das nicht nur auf Japanisch. Man versteht kaum, was er sagt, weil er recht leise redet und weil er sich anhört, als würde beim Sprechen zu viel Luft durch seinen Kehlkopf rutschen, weil die Stimmlippen nicht richtig schließen. Möglicherweise hat er einen Kehlkopfdefekt.

Aber das sollte dann alles vom Tage gewesen sein. Es war ja genug… außerdem ist es jetzt 23:40 und ich will nur noch schlafen.

1 Marc schob später die Frage ein, ob es nicht einfacher wäre, für Ausländer eine weitere Ansage auf Englisch zu machen.

2 Ihr Name ist Minato.