Montag, 17.11.2003 – Denk ich an Deutschland in der Nacht…
Wieder strahlender Sonnenschein am Morgen. Melanie zeichnet Sprachsendungen auf; sie will eine kleine Sammlung von Aufnahmen haben, die zeigen, wie die verschiedenen Nationen den japanischen Kindern ihr Land, ihre Sprache und ihre Kultur näherbringen wollen. Um sich das besser vorstellen zu können, sage ich folgendes dazu: Die Teams in diesen Sendungen bestehen in der Regel aus zwei Muttersprachlern, einem älteren Japaner, der die Fremdsprache wohl studiert hat, und einer jungen Japanerin, deren Aufgabe es ist, bestimmte Sätze, die man ihr vorgibt, zu wiederholen, bzw. die Fragen zu stellen. Die Shows laufen ab in der jeweiligen Sprache, um die es geht, mit japanischen Untertiteln. Sendungen über englische Sprache haben wohl den prozentual höchsten Anteil, und einige davon sind gar nicht schlecht. Es wird in der Regel mit echten Darstellern gearbeitet, die kleinen Beiträge sind zum Teil recht lustig.
Beispiel: Eine amerikanische Austauschstudentin lernt Shamisen (grob: dreisaitige japanische Gitarre) zu spielen und bringt ihrer Lehrerin ein „Bananenbrot“ mit – eine Art Rührkuchen mit Bananenaroma, wie es aussieht.
Der Sohn der Lehrerin (Shin) ist im gleichen Alter wie die Studentin und sie gefällt ihm offenbar. Er kommt nach Hause, ist hungrig, sieht den Kuchen und stopft sich sofort ein Stück in den Mund. Er verzieht das Gesicht und sagt (auf Japanisch) „Was ist denn das für ein… ???“, wobei er den Begriff „bozo-bozo“ verwendet. Aus dem Kontext ist zu schließen, dass das kein gutes Urteil ist. Die Mutter ist „beunruhigt“ und weist den Sohn auf die Studentin hin, die er noch nicht bemerkt hat, worauf der Sohn verlegen lächelt und sagt „Oh… I just said that this is very good!“ und die Mutter möchte die Angelegenheit damit vergessen wissen. Dann kommt aber noch ein Amerikaner dazu, der offenbar mehr Japanisch beherrscht als seine Landsfrau. Sie sagt ihm, dass Shin das Bananenbrot als „bozo-bozo“ bezeichnet habe, wobei man Shin die Tür hinauskriechen sieht. Und dabei zieht er seine Mutter auf dem Boden hinter sich her, weil sie sich an seinem Rucksack festhält, um ihn am Weglaufen zu hindern…
Und es gibt auch eine deutsche Sendung. Oha, das muss ich sehen.
Das Team nennt sich „WG Kunterbunt“… was bitte? Oh mein Gott… ich ahne Böses…
Man bemerkt sofort den deutschen Planer hinter dem Machwerk – der ganze deutsche Weltschmerz wird in diese Sendung gepresst. Das Team besteht, wie erwartet, aus einem Japaner um die 40, einer Japanerin um die 25, einer Frau, die ich ethnisch nicht zuordnen kann (ca. 35 Jahre alt) und ein… einem Ding. Das Ding ist männlich, um die 40, mit deutlichem Bauchansatz, blond, lockige Haare bis etwa zum Hals, der Hals wird geschützt von Muttis selbstgestricktem Schal und der Bauch verbirgt sich hinter Muttis Strickpullover, oberhalb der Cordhosen. So stelle ich mir den links-grün-alternativen Waldorfpädagogen vor (ich habe aber noch keinen bewusst gesehen). Sieht man davon ab, dass der Mann hier ein Gesicht hat wie ein Metzgergeselle. Natürlich will ich hier keine Metzger diffamieren (mein eigener Bruder ist schließlich einer), aber der Kerl sieht aus, als hätte er zuhause die Reitpeitsche an der Wand hängen und den Rest von dem Spielzeug im Schrank versteckt. So zumindest mein erster Eindruck.
Und er legt auch gleich los: Heute stehen „ernste Themen“ an, sagt er. Dann läuft der Lehrfilmbeitrag. „Die Abenteuer von Prinz Pipo“. Ach Du meine Güte… hat der Autor zu viel von Prinzessin Popo geträumt?
Der Beitrag ist… ein Stop-Motion-Trickfilm, mit… mit Muttis handgestrickten Stoffpuppen. Prinz Pipo ist eine… eine Robbe? Zumindest sieht das Etwas so aus, sieht man von den Antennen am Kopf ab. Die übrigen Figuren sind offenbar Menschen. Die Synchronsprecher geben sich alle Mühe, langsam und deutlich zu sprechen – und vernichten dabei den letzten Rest von natürlicher Sprechartikulation. Die Dialoge klingen dadurch noch viel gestelzter, als sie das sowieso schon sind. Melanie hat die Dialoge extra in ihrem Tagebuch vermerkt. Ich will mich daran eigentlich nicht erinnern, sonst bekomme ich Darmkrämpfe. Aber ich will nicht so sein. Beispiele gefällig?
Pipo ist also unterwegs mit einer Mutter und ihrer Tochter, und sie wollen den Ehemann/Vater besuchen, der verborgen im Wald in einer Hütte lebt.
Mutter: „Er lebt hier allein im Wald (…) Manchmal frage ich mich, ob er mich überhaupt noch liebt…“
Tochter: „Ach Mutti…“
(Ja! Deutsches Mitleidsdrama in pädagogisch geplanten Märchen! Das wollen Kinder bestimmt sehen!)
Klopf-klopf. Der Vater öffnet die Tür.
Pipo: „Ich bin Prinz Pipo und…“
Vater: „Hach, ja, Ihr seid Prinz Pipo. Ich weiß schon alles über Sie.“
(Sagte der da gerade „Hach“??? Zack! Ohrfeige! Werft diesen Purschen zu Poden! Das sagt doch keiner! Und in Deutschland ist es also üblich, dem anderen einfach so das Wort abzuschneiden! Pöse Teutsche!)
Vater: „Wusstet Ihr eigentlich, dass in den vergangenen 50 Jahren die Hälfte des vorhandenen Regenwaldes abgeholzt wurde?“
(Ojeojeoje! Gaaaaanz grün, liebe Freunde. Also quasi „Super Green“.)
Wenn danach noch die Information gekommen wäre, bis wann denn alles verschwunden sein werde, dann wäre das ja nur halb so schlimm, aber nein: Schnitt! Hier ist der Beitrag zu Ende. Mitten in der beginnenden Konversation. Welcher Trottel… nein, ich glaube, ich weiß es schon.
Und es wird noch besser. Ja, das geht – Deutsche dieser Art haben schnell noch eine Steigerung zur Hand – deutsche Landeskunde! Die junge Japanerin sitzt also auf der Couch der simulierten WG und hat einen Bildband in der Hand. Der rotgrüne Siegfried kommt so daherspaziert, sieht das Buch und fragt: „Was hast Du denn da? Ah, ein Bildband über Berlin.“ Und der folgende Satz ließ mir die Kinnlade auf den Schreibtisch fallen (ich hätte jedenfalls meine Reisschüssel beinahe fallen lassen):
„Wusstest Du eigentlich, dass viele Gebäude in Berlin eine militaristische Vergangenheit haben?“
AAAAARRRGH!! Was sind da für Idioten am Werk? Es folgt ein Beitrag („Berliner Facetten“) über verschiedene Denkmäler Berlins, wie das Brandenburger Tor oder die Siegessäule und was der Anlass für den Bau jeweils war. Die Siegessäule zum Beispiel wurde gebaut zur Erinnerung an den Sieg über Dänemark anno 1864.
„Die Geschichte Berlins war bis 1945 eine Geschichte des Krieges.“ (Böse, böse!)
Die nächste Szene wechselt in ein (oder das?) Berliner Antikriegsmuseum: „Nicht nur normale Bürger gehen in das Museum, sondern ab und zu kommt auch mal ein Berufssoldat vorbei.“ (Pfui, ein potentieller Abnormer!)
Abgesehen davon, dass diese Vokabeln fragwürdig sind, finde ich das ungeheuerlich, was ich da sehe und höre. Ich bin der letzte, der eine Beschönigung der deutschen Geschichte befürworten würde – aber diese Sendung ist doch für Kinder! Was für ein Bild von Deutschland – meiner Heimat! – wird denn hier vermittelt?
Natürlich gilt: Nichts darf vergessen werden. Aber sollten Kinder, die so klein sind, dass sie noch an „Prinz Pipo“ Gefallen finden (könnten), gleich mit einem solchen Image (und den komplexen historischen Fakten dahinter) versorgt werden? Wenn ich mich mit Leuten, vor allem aus Asien, unterhalte, dann ist Deutschland ein Land der Kultur, der Musik und ein erstrebenswerter Sozialstaat. Das entspricht zwar nicht so hundertprozentig der Wahrheit, aber muss man denn so einseitig die Schattenseiten zu zeigen versuchen?
Als „Ausgleich“ gibt es einen Beitrag über ein Wäschereimuseum, ebenfalls in Berlin. Man sieht alte Bügeleisen, Mangeln, Waschbretter, die ersten „Waschmaschinen“ (die man mit der Hand drehen musste) und dergleichen mehr. Das finde ich zwar auch nicht spannend, aber es ist nach der antifaschistischen Keule eben vor allem entspannend. Ein wenig „praktischer“ (weil realitätsverbunden) ist der „Sportbeitrag“. Einer der Moderatoren in Deutschland klärt die japanischen Zuschauer über Fußballvokabeln auf. Nur eine Handvoll davon. Aber immerhin etwas. Auch wenn Fußball nicht auf meiner „Most Wanted“ Liste steht, finde ich diesen (kurzen) Beitrag noch am besten. Obwohl er das Klischee unterstützt, dass alle Deutschen Fußball spielen oder mögen. Hey, wie wäre ein Beitrag über deutsche Bierbrauereien, wenn wir schon dabei sind?
Das Programmheft hat noch eine weitere Deutschsendung auf Lager. Hoffentlich ist das was anderes. Melanie vermerkt die Zeit und wird die Sendung aufnehmen. Vielleicht rettet ja noch jemand Deutschlands Ehre.
Am Nachmittag nach meinem Unterricht kommt Kazu ins Center. Weil sie mich da hat sitzen sehen. Ein bisschen Konversation also. Ich habe schon wieder völlig vergessen, wie ich sie eigentlich kennen gelernt habe… wenn ich es nicht in meinem Tagebuch steht, werde ich mich nie erinnern, es sei denn, ich frage sie…
Danach schreibe ich meine Post, heute über den 11.11.2003. Dabei kommt die Post an Natsumi wieder zurück. Ah ja, eine Hotmail-Adresse. Es gibt nur mit Hotmail-Adressen solche Probleme. Auch andere Leute waren zwischendurch nicht erreichbar und von hotmail.com kam dann die Nachricht, dass der Empfänger unbekannt sei. Und am Tag darauf war wieder alles in Ordnung… manchmal dauert es aber auch länger. Das ist vor allem dann nervtötend, wenn ich Bilder versende, weil die immer erst einzeln hochgeladen werden müssen. Wird ein Empfänger nicht erreicht, muss ich für diesen die gesamte Prozedur wiederholen. Das ist natürlich nicht ultimativ anstrengend oder kraftraubend, aber es geht mir auf den Wecker. Es kann also zwei oder drei Newsletter Empfänger geben, die nicht von jedem Tag eine Mitteilung haben – wer also einen oder mehrere Tage vermisst und den Bericht noch haben will, soll sich bitte melden.