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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

7. November 2023

Freitag, 07.11.2003 – Ethik

Filed under: Japan,My Life,Uni — 42317 @ 8:43

Heute Morgen um 10:00 findet eine Sondervorlesung über „Ethik und Universität“ statt. Sawada-sensei hat uns mehrfach darauf hingewiesen, dass wir nicht bereuen würden, die zwei Stunden zu investieren. Ich bin also mal hingegangen, und außer mir finden sich in dem kleinen Saal zwei oder drei japanische Studenten, und drei weitere Leute, die ich aus dem Ryûgakusei Center kenne: Misi, Luba und Irena. Ansonsten: Lehrpersonal der Universität verschiedenen Alters. Die Vorlesung (oder eher: der Vortrag) wird gehalten von Professor Hinchcliff von der Universität Auckland, Neuseeland. Leider verspätet er sich etwas. Um die Zeit zu überbrücken, stellt sich Kuramata-sensei, der Leiter des Centers, nach vorne und redet die Zeit tot. Etwa fünf Minuten lang, mit den Unterbrechungen knapp zehn Minuten, bis der eigentliche Sprecher eintrifft. Professor Hinchcliff wirkt etwas gebrechlich. Er ist recht groß, steht leicht nach vorne gebeugt und die Hand, in der das Mikrofon hält, zittert ein wenig. Aber seine Stimme ist kräftig. Sawada-sensei übersetzt den Vortag ins Japanische.

Im Prinzip redet er darüber, dass Menschen in Führungspositionen eine besondere Verantwortung haben, weil sie Entscheidungen treffen, die mitunter das Leben anderer Menschen beeinflussen. Er wendet sich direkt an die anwesenden Studenten, als er darauf hinweist, dass man einen festen, aber flexiblen Satz von Werten braucht, wenn man das Miteinander harmonisch gestalten möchte, wenn wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen. Wenn die Wertvorstellungen verschiedener Leute kollidieren, muss man Schwerpunkte setzen und einen Kompromiss finden. Dazu ist es notwendig, Werte frei diskutieren zu können, anstatt sich hinter denselben zu verbarrikadieren und unumstößlich auf den eigenen Werten zu beharren, ohne die des Gegenübers auch nur in Betracht zu ziehen.

Im Prinzip hat er mir nichts erzählt, was mir nicht bereits vorher bewusst gewesen wäre, nur dass ich dieses Bewusstsein nicht ausformuliert habe. Nebenbei erwähnt er, dass das MIT (Massachusetts Institute of Technology) alle Vorlesungen frei erhältlich im Internet veröffentliche. Dadurch wird das Finden von Informationen natürlich unglaublich leicht, und das ist für Studenten nicht unerheblich. Andererseits lässt sich Plagiarismus, Ideenklau, auch schneller feststellen.

Nach Ende des Vortrags werden noch ein paar Fragen gestellt, von denen eine besonders heraussticht. Ein japanischer Herr zwei Reihen hinter mir fragt: „Verzeihen Sie bitte, dass meine Frage eigentlich nichts mit Moral und Ethik zu tun hat – aber ist es wahr, dass in Neuseeland mehr Schafe als Menschen leben?“ Hinchcliff gibt sich amüsiert. „Ja“, sagt er, „es gibt etwa zehnmal so viele Schafe wie Menschen in Neuseeland.“

Den Tag über passiert nichts aufregendes, und am Abend bin ich nur noch in die Bibliothek gegangen, um meine Post zu schreiben. Ich probiere bei der Gelegenheit den Drucker der Bibliothek aus. Man kann dort problemlos drucken, sogar in Farbe und in guter Qualität (wenn auch nicht in der Qualität des Laserdruckers in Trier), aber es gibt einen Zähler, und wenn ich den richtig interpretiere, kann man pro Semester (nur?) 100 Seiten umsonst drucken. Dann nehme ich meine Dokumente lieber mit ins Center, drucke dort so viel ich will und hebe mir den Bib-Drucker für Bilder auf… sollte ich auf verlockende Motive treffen.