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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

19. November 2023

Mittwoch, 19.11.2003 – Wir haben Hunger, Hunger, Hunger…

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 10:50

Der strahlende Sonnenschein am Morgen rettet sich durch den ganzen Tag, wenn auch am Nachmittag hin und wieder von einzelnen Wolken unterbrochen. Es ist warm, möchte man sagen. Vielleicht nicht warm genug für ein T-Shirt, aber die Winterjacke ist heute zu viel des Guten.

Ich stoße auf einem der Rechner im Center mehr oder minder zufällig auf Bilder vom vergangenen Jahr. Unter anderem ist auch ein Bild vom 10.11.2002 zu finden, das Stefan und JP (und andere) mit einem Schneemann zeigt. Zumindest glaube ich, dass die undeutliche Gestalt links hinter dem Schneemann JP ist. Muss also schon Winter gewesen sein, letztes Jahr um diese Zeit. Wie lange wird es noch dauern? Auf den hohen Hügeln in der Umgebung hier liegt in diesen Tagen am Morgen Schnee, der aber im Laufe des Tages wegschmilzt. Nur der Schnee auf dem deutlich höheren Iwaki-san hält sich bereits. In Hokkaidô zumindest soll der Winter bereits eingezogen sein, das heißt, es kann hier nur eine Frage von Tagen oder wenigen Wochen sein.

Vorne rechts Stefan, hinten rechts vielleicht Hans, hinten links vielleicht JP.

Außerdem finde ich auch ein Bild, das den „legendären“ Hans Erdmann zeigt. Ja, ja, nicht nur Stefan und JP haben sich hier einen Namen gemacht. Man kennt jeden dieser drei hier gut, jeden auf seine Art und Weise…

Hinten rechts JP, hinten links Hans.

Immerhin weiß ich jetzt, wie der Erdmann von vorne aussieht. Ich erinnere mich, dass während einem der Feste der Japanologie in Trier (ich glaube, es war Tanabata im Juli 2002) mich jemand am Ärmel zupfte und sagte: „Da ist Erdmännchen!“ und zeigte Richtung Bühne. Ich sah nach vorn und sah jemanden gerade auf die Bühne einbiegen und sich was zu essen nehmen. Seitdem weiß ich, wie Hans Erdmann von hinten aussieht, aber sein Gesicht kannte ich nicht, bis ich die Fotos gesehen hatte. Und Hans wird hier wohl „Sexual Hansment“, bzw. „Sekuhannes“ genannt (abgeleitet von engl. „Sexual Harassment“ = „Sexuelle Belästigung“), weil er recht lockere Umgangsformen mit den weiblichen Studenten pflegte. Nein, bitte nicht zu viel interpretieren. Sagen wir: Er verwendete freundschaftlich-herzlichen Körperkontakt, wie man in Deutschland wohl nicht sonderlich ernst nehmen würde. Yui und Mio erzählen mir, dass er Hüften anfasste, als sei dies die normalste Angelegenheit der Welt. Ich habe bei der Schilderung nicht wenig gelacht.1

Um 1420 treffe ich Mei, weil ich ihr helfen soll, ihr Englisch zu verbessern. Man versteht sie wunderbar, aber sie möchte flüssig sprechen können. Ich bin von meinen Kompetenzen nicht ganz überzeugt, weil ich selbst einen unkontrollierten Mix aus britischem und amerikanischem Englisch spreche, der sich je nach Laune mal in die eine oder die andere Richtung verschiebt, ohne, dass mir das irgendwie bewusst wäre. Aber die Sache scheint ihr Spaß zu machen. Überhaupt scheinen Chinesinnen immer viel zu lachen, wenn sie sich mit mir unterhalten. Ich muss ja wirklich ein lustiger Mensch sein.

Und Lautschrift erleichtert die Sache ungeheuerlich… ihr Englischlehrer ist Japaner, und der Herr hat so seine Sprachdefekte, wie es scheint, da Mei mir versichert, die Aussprache so wiederzugeben, wie sie sie von ihm gehört habe. Wir gehen die Lektionen für Standardkommunikation durch (Frage-Antwort Übungen), und ich tue mein bestes, damit sie einen Sprachfluss entwickelt, anstatt zwischen den Worten eine kurze Pause zu machen, und gleichzeitig muss ich dafür sorgen, dass sie nach Begriffen, die auf einen Konsonanten enden, nicht noch – wie soll ich das nennen? – einen „angehauchten Vokal“ anhängt. „Rough“ (grob: [raf]) zum Beispiel wird bei ihr zu [rafu]. Es mangelt mir leider an Möglichkeiten, das (für Nicht-Phonetiker) besser darzustellen, aber dennoch hoffe ich, das Problem verständlich machen zu können. Zumindest denen, die ein wenig über die Materie wissen.

Auf diese Art und Weise erhalte auch selbst etwas Übung im Basisbereich der Phonetik. Nur bestimmte Vokabeln muss ich noch suchen, um die Aussprache von Sprachlernern wie Mei zu verbessern. Immerhin kenne ich inzwischen „ha“ („Zahn“, „Zähne“), „kuchibiru“ („Lippen“), „shita“ („Zunge“), „kôkôgai“ („harter Gaumen“, „Palatum“) und „nankôgai“ („weicher Gaumen“, „Velum“). Die japanische Vokabel für „Rachen“ habe ich leider wieder vergessen. Aber was ich habe, ist schon mal ein guter Ansatz.

Leider mache ich an diesem Nachmittag einen Organisationsfehler. Ich habe gleichzeitig einen Termin mit Yui ausgemacht, den aber nicht aufgeschrieben habe und den heutigen habe ich mit einem alten Termin verwechselt. Verwirrend, ja, und unangenehm dazu. Aber Yui hat genug andere Dinge zu tun, um den Zwischenfall zu sehr zu bedauern. Wir machen einen neuen Termin morgen um 1500 aus.

Um 1700 gehe ich mit Melanie zu einem Tabehôdai – auf Neudeutsch heißt das: All you can eat. Man geht da also für einen Festpreis hin, isst so viel, wie in den Magen reinpasst und hofft nachher, weniger bezahlt zu haben, als das verspeiste Essen wert war. Zumindest ist dies die von mir interpretierte „Deutsche Herangehensweise“. Das Tabehôdai-Lokal befindet sich im Obergeschoss des „Maruesu“ Supermarktes und kostet pro Person 1500 Yen (ca. 11 bis 12 E). Es handelt sich um ein „Yakiniku Tabehôdai“, das ist „Grillfleisch“, wie ich bereits früher einmal erwähnt habe. An der Theke im Eingangsbereich befinden sich Zapfhähne für Getränke verschiedener Art, daneben eine Preisangabe. Also muss man die Getränke extra bezahlen. Aber es gibt auch kaltes Wasser umsonst. Das tut es doch, mir reicht das voll und ganz.

Wenn man nach der Theke geradeaus vorbeigeht, gelangt man zu den Sitzplätzen, falls man links abbiegt, kommt man an einem Kühlregal vorbei, in dem alle möglichen Arten von Fleisch, Gemüse, Pilzen, Meeresfrüchten und all so was aufgebaut sind. Normalerweise nimmt man sich also einen Teller, packt ihn mit Sachen voll, die man essen möchte und setzt sich an seinen Tisch. Hat man alles verspeist, geht man wieder zum Regal und füllt seinen Teller weiter auf. Aber das ist doch umständlich – es gibt auch große Tabletts, die für die Nachspeisen gedacht sind, aber Fleisch liegt da ebenfalls bequem drauf, außerdem muss man nicht so oft aufstehen.

Vor dem Kühlregal steht ein Tisch, auf dem die Nachspeisen stehen. Es gibt Yoghurts und Fruchtsalate auf der linken Hälfte des Tisches, die rechte Hälfte ist für Salate anderer Art reserviert, unter anderem Nudel-, Eier- und Kartoffelsalate. Hm, vielleicht sind das keine Nachspeisen… egal, ich esse eh alles durcheinander. Neben diesem Tisch und dem Regal befindet sich ein weiterer Tisch, auf dem große Reiskocher und Wassererhitzer stehen. Es gibt kleine Wasserkocher, falls man heißen Tee trinken möchte, und es gibt große Wasserkocher mit Brühe darin, falls man sich eine Nudelsuppe machen möchte. Aber ich habe nicht vor, heute den wertvollen Platz in meinem Magen mit heißem Wasser zu füllen, Nudelsuppe hin oder her!

Ich belade mich also im Laufe des Aufenthaltes mit Rind- und Schweinefleisch, Rinderzunge, Pilzen, zwei Makrelen, ein paar Tintenfischstücken, vier Garnelen, paniertem Hühnerfleisch, Omelett, Kartoffel-, Eier- und Nudelsalat, dazu noch etwas Erdbeeryoghurt, buntem Tofu und ebenso bunten Mochibällchen (Mochi ist gestampfter Reis, in Teigform), gesüßte Birnenhälften und Obstsalat. Insgesamt etwa drei Teller Material. Melanie nimmt noch eine Schale Reis und etwas Misosuppe.

In dem Laden gibt es Tische sowohl westlicher als auch japanischer Art, wobei letztere den größten Teil ausmachen. Die westlichen Tische sind entsprechend hoch und man sitzt auf Stühlen. Die japanischen Tische sind etwa halb so hoch und man sitzt auf Kissen. Mir würde wahrscheinlich nach dreißig Minuten vor lauter Rückenschmerzen der Appetit vergehen. Die Tische haben alle in der Mitte eine Auslassung, eine runde Vertiefung von etwa 40 cm Durchmesser und etwa 10 bis 15 cm Tiefe, in der sich ein Gasbrenner und darüber eine Art Grillrost befindet. Der Grillrost ist in seiner Mitte eine geschlossene Platte, damit kein Fett auf den Brenner tropft. Die äußere Hälfte seines Durchmessers ist mit Rillen durchsetzt, durch die das ausgebratene Fett in einen Auffangbehälter unter dem Gasbrenner fließen kann. Ein Ventilationssystem sorgt dafür, dass der Rauch abgesaugt wird und nicht in den Gastraum gelangen kann. Ich bin beeindruckt.

Nach einer gewissen Zeit ist der Rost natürlich voll mit angebrannten Rückständen, also drückt man auf einen Knopf am Esstisch. Kurz darauf erscheint einer der Angestellten und wechselt den Grillrost aus. Bei der Gelegenheit lerne ich auch gleich, was „Austausch“ heißt: „kôkan“. Und der Grill heißt wohl „teppan“, wenn ich mich recht erinnere, das besteht aus „tetsu“ („Eisen“) plus „ban“ („Platte“).

Das Fleisch schmeckt insgesamt ganz hervorragend, ebenso muss ich die Salate und insbesondere den Obstsalat loben. Der Fisch ist ebenfalls nicht übel (wenn man denn Fisch mag), nur die Garnelen waren etwas gewöhnungsbedürftig, weil ich vergessen habe, den Panzer zu entfernen… Der Tintenfisch ist jedenfalls sehr gut. Nur der Reis, den Melanie genommen hat, ist seltsam. Man möchte annehmen, er schmeckt nach Uncle Ben’s Tütenreis, oder die haben das Wasser in dem Topf schon länger nicht ausgetauscht. Auf jeden Fall schmeckt er nicht so, wie ich das von Reis in Japan gewohnt bin. Der Erdbeeryoghurt wiederum hat einen guten Geschmack, er ist nicht zu süß geworden. Die Tofustücke schmecken so, wie erwartet – nach eigentlich gar nichts. Die bunten Mochibällchen schmecken mir aber gar nicht. Sie schmecken – wie soll ich sagen? – „offensiv nach gar nichts“. Oder irgendwie nach Plastik oder so. Ich tauche sie in den Erdbeeryoghurt, um den Geschmack erträglich zu machen. Eine Stunde später bin ich so satt, dass ich mich übergeben müsste, wenn ich noch etwas dazustopfen würde.1500 Yen entspricht dem Dreifachen dessen, was ich normalerweise im Schnitt für ein Essen zu zahlen pflege, aber ich habe auch gegessen für drei (oder vier) Personen, also geht das in Ordnung. Das einzige, was ich ein wenig vermisst habe, sind Soßen zum Fleisch, wie man sie von allen möglichen namhaften Herstellern in Deutschland kennt. Oder habe ich die Soßen vielleicht übersehen? Japan ist natürlich kein „Soßenland“ – weil man Soßengerichte nicht so gut mit Stäbchen essen kann, hat sich das nicht so sehr eingebürgert – aber zum Fleisch wäre das doch ganz passend, denke ich.

Ich werfe hin und wieder einen Blick auf die Tische der japanischen Gäste, aber das, was die essen, kommt in 100 Jahren nicht an das heran, was sie bezahlen. Die sollten lieber kein Tabehôdai machen, sondern sich ein „normales“ Menü irgendwo anders besorgen. Wenn ich die Menge einmal schätzen dürfte, die ich bei denen so gesehen habe, würde ich von einem Betrag von vielleicht 800 Yen ausgehen, den sie in einem Lokal zahlen müssten, wo man einzelne Portionen bestellen kann. Aber vielleicht sehe ich zu sehr die materielle Komponente, denn das Ganze ist eine lustige Angelegenheit mit Freunden – ein soziales Event, könnte man sagen. Ich fasse also ins Auge, auch die anderen „üblichen Verdächtigen“ auf das Lokal aufmerksam zu machen, damit wir einmal in einer größeren Gruppe hingehen können.

Trotz meines vollgestopften Bauches gehe ich nach dem Essen in die Bibliothek, um Post zu schreiben, es ist jetzt halb sieben am Abend. In der Bibliothek bleibe ich dann bis um halb zehn. Danach dauert der Tag aber wirklich nicht mehr lange…

1 Unser gemeinsamer Kommilitone Stefan schrieb mir kurz nach dieser Veröffentlichung eine entrüstete Mail, wie ich nur solche, ich sage mal „despektierliche“ Details über Hans schreiben könne. Als ich eine Weile später direkten Kontakt zu Hans bekam, erhielt ich allerdings dessen Zustimmung.