Montag, 10.10.2003 – Call me, call me…
Die Wahlen sind entschieden – und wie erwartet ausgegangen. Die regierende Jimintô ist mit einer stabilen Mehrheit als Sieger daraus hervorgegangen. Und das von ihr selbst vor 50 Jahren vorteilhaft entworfene Wahlsystem sorgt dafür, dass sie bei einem Stimmanteil von 44 % einen Anteil von 56 % an den Parlamentssitzen erhält.
Vor dem ersten Unterricht schreibe ich noch in aller Eile eine Zusammenfassung meiner bisherigen Eindrücke für die Einführungsveranstaltung der Japanologie der Universität Trier, damit Frau Prof. Gössmann ein paar Zeilen hat, die sie dem Nachwuchs vorlesen kann. Auch Melanie und Marc tun das, mit jeweils anderen Schwerpunkten, damit nicht dreimal dasselbe vorgelesen wird. Ich gehe davon aus, dass auch Berichte aus Tokyo fällig sind, die mich natürlich ebenfalls interessieren würden.
Dann beschäftigen wir uns wieder mit Textstrukturen. Wir suchen die Leitsätze eines Abschnittes heraus und teilen dann die nachfolgenden Sätze verschiedenen Kriterien zu: Ob es sich dabei um ein erläuterndes Beispiel handelt, oder ob der Leitsatz vertieft, bzw. weiterhin erklärt wird.
Nach dem Unterricht verfasse ich die Heimatpost vom 01.11., und nachdem ich mich von meinem Stuhl erhoben habe, gibt Alex mir das versprochene Telefon. Es ist ein relativ altes Modell (zwei Jahre alt), das man nicht zusammenklappen kann, es hat auch kein integriertes Kanjilexikon. Aber es hat ein unnötiges Farbdisplay und ein ebenso unnötiges Hamsterspiel… und man kann mich anrufen, unter der Nummer 090-7522-5780.
Jetzt frage mich aber bitte niemand nach der Vorwahl von Japan. Es handelt sich um ein Prepaid-Telefon mit leerer Karte, das heißt, ich kann damit aktiv gar nichts machen. Ich kann niemanden anrufen und niemandem eine C-Mail schreiben. Und das ist mir vollkommen gleich. Denn man kann mich anrufen und mir mitteilen, ob was Wichtiges anliegt. Ich plane nicht, irgendwelches Geld in ein Telefon zu investieren. Dafür sind die bis jetzt schon geplanten Ausgaben einfach zu hoch.
Ich treffe Marc und er legt mir dar, was für ein tolles Buch Kashima-sensei in seinem Unterricht behandelt. Generell muss jeder alles lesen, aber einige Seiten davon auch vorbereiten und nachher ein kurzes Referat halten. Das an sich ist aber nicht das Problem. Das Buch ist von einem japanischen Mathematik-Professor geschrieben, der darin den Niedergang der Lernfähigkeit bzw. der akademischen Fähigkeiten (Gakuryoku) der Japaner beklagt. Seine Forschungen erstrecken sich dabei über den Zeitraum von 1997 bis 2000. Er vergleicht japanische Studenten mit Austauschstudenten mit Hilfe von mathematischen Aufgaben (Leistungskursniveau), ohne in einer Silbe darauf einzugehen, woher diese ausländischen Studenten jeweils kommen und was sie und ihre japanischen Kommilitonen eigentlich studieren. Die einzigen angegebenen Kriterien sind „japanische Studenten“ und „Austauschstudenten“. Und die Japaner schneiden dabei sehr schlecht ab. Dabei könnte es sich hier um den Versuch handeln, Äpfel mit Birnen zu vergleichen, wie man so schön sagt. Denn wenn er sich eine beliebige Anzahl Japaner genommen hat, die allesamt Literatur studieren und auf der anderen Seite eine Reihe von Mathedoktoranten aus aller Herren Länder aufmarschieren ließ, wäre das Ergebnis kein Wunder.
Laut der berüchtigten PISA-Studie haben die japanischen Schüler im internationalen Vergleich doch gar nicht so schlecht abgeschnitten, als dass sie in ihrer nachfolgenden Studentenzeit bereits alles wieder vergessen haben könnten. Und das gerade in mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächern. Ich wage einmal, das darauf zurückzuführen, dass das Auswendiglernen von Fakten in diesen Fachbereichen mehr Sinn macht, als in den sprachlichen Zweigen, wo man nicht auswendig lernen, sondern immer wieder anwenden muss, um das Können zu steigern. Mir drängt sich das Gefühl auf, dass hier der Versuch gemacht wurde, den Zustand der japanischen Bildung schlechter aussehen zu lassen, als er tatsächlich ist, um einen „korrigierenden Einfluss“ ausüben zu können. Unter den immer wachsamen Kräften, die um die Zukunft des Vaterlandes besorgt sind, gibt es bestimmt einige Personen, die sich dazu verleiten lassen, diesem ohne Zweifel übertriebenen Szenario Glauben zu schenken. Das Buch des Professors erschien im Jahre 2000, als im Bildungsministerium bereits die Pläne existierten, das Bildungswesen gründlich zu reformieren, also den Unterricht stellenweise um ein Drittel zu kürzen, um den Schülern mehr Zeit für sich zu verschaffen und damit den Stresslevel zu vermindern, und einige andere interessante Ansätze. Aber auf diese Punkte will ich hier nicht weiter eingehen.
Ich sehe mich im Internet nach dem „Newtype 100%Neon Genesis Evangelion“ Artbook um, um festzustellen, in welcher Preisklasse ein neues Exemplar in Deutschland zu haben ist. Aha, der momentane Neupreis in Deutschland liegt zwischen 20 und 25 E. Für mein gebrauchtes Exemplar habe ich etwa 7 E bezahlt. Ich muss also davon ausgehen, dass mit einem Gewinn von mehr als 5 E nicht zu rechnen ist.
Die Dunkelheit nach Sonnenuntergang bringt eine weitere Verminderung der schon tagsüber kühlen Lufttemperatur mit sich. Es ist kalt, möchte ich sagen. Wir essen heute wieder im Kleintransporter, und die fette Ramensuppe scheint mir bei dem Wetter genau das Richtige zu sein. Bei allem Diätbestreben sollte man bei kalter Witterung im Winter doch hin und wieder etwas Fettes essen, um den „inneren Ofen“ am Brennen zu halten. Und ich rede von echtem Fett, nicht von Zeug, das nur fett macht. Das Stück Fleisch in meiner Suppe hat einen Durchmesser wie ein Stück Rollbraten und ist etwa so dick wie mein kleiner Finger, auch die Brühe hat Fettaugen. Ich glaube, ich hätte auch ohne Jacke den Rückweg antreten können, ohne die Kälte zu spüren…