Sonntag, 09.11.2003 – Apfelland Story
Ein ruhiger, kühler Sonntag. Am Morgen stehe ich früh auf und sehe mir um 0830 den Anime „Ashita no Naaja“ (gemeint ist „Nadja“) an. Es gibt unglaublich viel Merchandise dafür, daher interessiert mich schon, um was es sich dabei handelt. Unter anderem gibt es eine kleine, auf alt getrimmte Nähmaschine für Kinder; und der Anime soll mir auch verraten, warum das so ist.
Es geht um das hochwohlgeborene Mädchen Nadja (nicht „Nadia“), die wohl kurz nach ihrer Geburt von der Mutter getrennt wurde, aber sie nun wiedergefunden hat. Das heißt, sie hat herausgefunden, welche Adresse diese Dame hat, nachdem sie die letzten Jahre mit einer Art Zirkus durch die Gegend gezogen ist. Doch natürlich hat sie auch eine Rivalin, wie das bei weiblichen Heldinnen so üblich ist, die ihr auch noch zum Verwechseln ähnlich sieht. Diese Rivalin heißt Rosemarie (!) und ist ein reiches, verzogenes Gör, die sich das Erbe von Nadja unter den Nagel reißen will, unter Führung ihres ebenso bösen Onkels Hermann.
Und welches der Mädchen kommt wohl zuerst bei der verlassenen Mutter an, hm? Rosemarie natürlich. (Seit wann laufen solche Geschichten auf die einfache Tour ab?) Und die Mutter schenkt Rosemarie für jeden ihrer bisherigen Geburtstage (ich glaube, es sind 10) erst einmal je einen Diamanten von etwa einem Zentimeter Durchmesser. Die echte Nadja kommt also zu spät und wird am Tor barsch abgewiesen, trotz ihres doch auffälligen Aussehens, und obwohl sie eine Brosche trägt, die ihre Herkunft beweist (die sie aber sinnigerweise nicht einsetzt) – der Sinn dieser Aktion erklärt sich mir nicht so recht von alleine. Rosemarie hat Order gegeben, dass sofort die Polizei zu verständigen sei, sobald eine „falsche“ Nadja auftaucht. Darauf kommt der unhöfliche Wachmann aber erst, nachdem ihn der Kollege daran erinnert hat. Genug Zeit für Nadja also, sich nach einer anderen Möglichkeit umzusehen, in das Anwesen zu gelangen.
Sie steht also am Zaun und will hinüberklettern, als sie Rosemarie mit ihrer Mutter etwa fünfzig Meter weiter durch den Park des Anwesens (ja, in dieser Familie rollt der Rubel!) spazieren gehen sieht. Sie ist einige Sekunden fassungslos, holt dann aber Luft und – wer hat nicht damit gerechnet? – just in dem Moment, als sie durch lautes Rufen auf sich aufmerksam machen will, läuten natürlich die Glocken, die es da offenbar in einem Turm des Hauses gibt und übertönen ihre Stimme – und aufgeschreckte Tauben untermalen die Dramatik dieser Szene noch zusätzlich.
Oh Gottvater! Warum hast Du diesen Autor verlassen? Dann taucht natürlich die Polizei auf und Nadja muss Fersengeld geben. Unterstützt von ihren Zirkusfreunden, die sie in ihrem Dampffahrzeug auflesen. Das Setting ist überhaupt sehr „romantisch“. Zunächst einmal befinden wir uns in einer Art Europa. Die Architektur der Häuser hält sich in einem Stil, von dem Japaner offenbar glauben (sollen), dass Mitteleuropa so aussehe. In dem Zirkuswagen hängt ein Blatt Papier, auf dem etwas auf Englisch geschrieben steht, „Weekly Schedule“ glaube ich. Und Nadja geht im Intro an einem Gebäude vorbei, auf dem „Uhrenmuseum“ zu lesen ist.
Die ganze dargestellte Technik und Kleidung erinnert an die Wende zum 20. Jahrhundert. Und auch eben diese Nähmaschine in ihrem Raum. Würde mich nicht wundern, wenn da irgendwo „Singer“ draufstehen würde. Sie verwendet diese Maschine, um Kleider herzustellen, mit denen sie sich zu passenden Gelegenheiten verkleidet, um nicht erkannt zu werden, wenn ich das richtig interpretiere.
Ich gebe ja zu, dass die Charakterdesigns und das ganze Drumherum sehr hübsch entworfen und gezeichnet sind, aber mir ist die Serie eine Spur zu melodramatisch. Dies ist eine dieser Serien, in denen Zeit geschunden wird, indem die entsprechenden Leute immer zur falschen Zeit am falschen Ort sind und dort Dinge sehen oder hören, die nicht so sind, wie sie scheinen, und weil man zu wenig miteinander redet und deshalb falsche Schlüsse gezogen werden, etc. Kurz: Eine Reihe von seltsamen Zufällen und eine Portion Dummheit der handelnden Personen wird dafür sorgen, dass die Serie nicht innerhalb von drei Episoden vorbei ist, was sie durchaus sein könnte, wenn der Autor Sinn für Realismus hätte. Natürlich liest sich das verwirrend – und genau deshalb ist das nichts, was ich sehen muss.
Danach verbringe ich den Tag weitgehend in der Bibliothek. Ich komme aber nur dazu, einen einzigen Bericht zu schreiben, weil heute eine Menge kleiner Mails in den Briefkasten geflattert sind, die beantwortet werden sollten.
Am Abend esse ich noch einmal Yakiniku. Auf dem Papier handelt es sich um ein anderes Gericht, als das, das ich vor einigen Tagen gegessen habe. Auf dem Teller sieht es jedoch exakt gleich aus. Gebratenes, fettes Fleisch in dünnen Scheiben, dazu Kraut, Reis und Miso-Suppe. Es schmeckt auch verdächtig gleich. Habe ich was Falsches bekommen? Egal, es schmeckt und ich habe Hunger. Und man schenkt uns auch noch eine Tüte mit Äpfeln. Äpfel scheinen uns nicht ausgehen zu wollen. Wann immer die Schale leerer wird, bekommen wir unerwartet neue. Aber mich soll das nicht stören.
Im Fernsehen sehe ich noch eine Auswahl von Kämpfen aus dem gerade laufenden „Kyûshû Basho“, dem aktuellen Sumô-Turnier. Musashimaru wie immer mit gelangweiltem Pokergesicht… alleine durch die Art, wie er das Salz in den Ring wirft, verhöhnt er den Gegner schon. Aber der Gegner wiegt auch bestimmt knapp zwei Zentner weniger als Musashimaru. Der Kampf verläuft auch in etwa so, wie sein Gesicht – ohne Überraschungen.
Ich finde es eigentlich bedauerlich, dass ich nur eine Zusammenfassung zu sehen bekomme. Ich würde gerne mehr davon sehen.
Ab acht Uhr am Abend bringen alle uns verfügbaren Sender die Auswertung der Parlamentswahlen. Das dauert bis Mitternacht, und ich fühle mich nicht genötigt, mir das anzusehen. Nach etwa zwanzig Minuten der ersten Prognosen ist der Sieg der Regierungspartei bereits absehbar. Es würde auch an ein Wunder grenzen, wenn die Jimintô eine solche Wahl verlieren würde. Ich bin sicher, dass sie auch diesmal eine Mehrheit im Parlament und das Premierministeramt davontragen wird.