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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

18. März 2011

Schwerpunktsetzung

Filed under: Japan,Zeitgeschehen — 42317 @ 14:36

Seltsame Dinge geschehen auf der Welt, und ich rede weder von Plattentektonik noch von Kernphysik. Es geht mir um die Psychologie der Medienberichterstattung.

Alle Medien sind voll von Bildern, Berichten und Kommentaren in Bezug auf die gefährdeten Atomreaktoren in der Nähe von Fukushima. Ach ja, und da war ja auch noch ein Tsunami. Oh, das Erdbeben haben wir fast vergessen. Dass die aktuelle Naturkatastrophe in Bezug auf die offiziellen Opferzahlen das massive Hanshin-Beben von 1995 nach neuesten Erkenntnissen erst erreicht, wird meist als Randnotiz noch in die Berichterstattung über die Kühlmaßnahmen eingeworfen (und die Zahlen werden noch bedeutend steigen).

Meine Dreisprachigkeit ermöglicht mir dabei einen viel sagenden Überblick: Es wird nirgendwo mehr Wind um die mögliche Kernschmelze gemacht, als in Deutschland. Die Japaner gehen mit der Situation relativ ruhig um, und das mag vordergründig damit zusammenhängen, dass man sich dort mehr Gedanken um die aktuelle Notsituation macht, und weniger um eine, die derzeit lediglich denkbar ist.

Die bedeutenden amerikanischen und britischen Medien füllen ihre Frontseiten auch nicht mit Chernobyl-Panikmache, bevor es soweit ist. Natürlich hat man dort einen ganz anderen Blickwinkel auf die Atomkraft, und letztendlich übertreffen die US Amerikaner die Briten noch in ihrem Insulanerdenken – hier auch zu Recht, denn eine Strahlenwolke würde sich auf dem Weg über den Pazifik ausreichend verdünnen. Die Chancen, dass die Strahlung in Deutschland besorgniserregende Höhen erreichen wird, stehen jedenfalls ganz ganz schlecht.

Aber in Deutschland schlagen die Wellen hoch. Da macht man sich Sorgen um Nahrungsmittel, Jodtabletten und den Südostasienurlaub. Ist es dabei nicht bezeichnend, dass Thailand als einziges Land in der globalen Region seinen Bürgern die Ausreise aus Japan empfohlen hat? Wie man mir berichtete, sind die Deutschen am schnellsten in Massen geflohen. Von 5000 in Tokyo lebenden Deutschen seien derzeit noch 1000 übrig – wobei offen blieb, ob die lediglich zum Beispiel nach Ôsaka ausgewichen sind oder das Land verlassen haben.

Dabei muss man doch bestimmte Dinge mal eindeutig festhalten: Die Importmengen an japanischem Gemüse aus der möglicherweise betroffenen Region ist geringfügig. Inwiefern hier Fisch aus dem Pazifik konsumiert wird, kann ich nicht sagen, aber ich will gar nicht wissen, wie viel chemischer und nuklearer Müll bereits illegal im Pazifik entsorgt wurde, ganz zu schweigen von den Langzeitfolgen früherer Atomwaffentests. Über hundert Millionen Tonnen Plastikmüll treiben in riesigen Strömungswirbeln, deren Teilchen teilweise von Fischen gefressen werden und generell Giftstoffe ins Wasser abgeben. Das Phänomen ist seit Jahren bekannt, stört aber scheinbar keinen.

Die Aussage einer ZDF-Sondersendung, bei der auch das Thema Jodtabletten angesprochen wurde, war ebenfalls klar: Die Tabletten, die man einfach so in den Apotheken kaufen kann, enthalten 1 % des Wirkstoffs, der im Falle echten Bedarfs (das heißt zur Vermeidung der Einlagerung radioaktiven Jods in die Schilddrüse) unter ärztlicher Aufsicht verabreicht wird. Der Ankauf von rezeptfreien Jodpräparaten freut also in erster Linie die Apotheker und die Pharmaindustrie, aber einen gesundheitlichen Nutzen hat man davon genausowenig, wie ein gesundheitlicher Bedarf besteht.

In einem Interview mit einem Mitarbeiter des Bundesamts für Strahlenschutz wurde eine ebenso interessante Grafik gezeigt, die die in Deutschland gemessene Strahlenbelastung der Atmosphäre seit den Vierziger Jahren aufzeigte. Die Spitze, die sich durch den Reaktorunfall in Chernobyl anno 1986 ergab, war zwar deutlich zu sehen, aber ebenso deutlich konnte man auch als Laie ablesen, dass die Belastung in den Sechziger Jahren in Folge all der oberirdischen Atomtests dreimal höher war.

Der Punkt, in dem Chernobyl auch weiterhin heraussticht, besteht darin, dass Pilze und Wild aus Süddeutschland wegen der mit dem Wind vermittelten strahlenden Partikel in den kommenden 100 Jahre noch zum Großteil ungenießbar sein werden, weil die Grenzwerte heute, nach 25 Jahren, mehrfach überschritten werden. Darüber herrscht hierzulande Ruhe. Bayern und Schwaben raufen sich also im Moment mehr die Haare wegen einer möglichen Nuklearkatastrophe, die den halben Globus entfernt stattfinden könnte, als um die bedenkliche Strahlenbelastung vor ihrer Haustür. Wer mahnt den Massenexodus aus den betroffenen Gebieten an? Natürlich keiner. Oberammergau wurde deswegen jedenfalls nicht evakuiert und es erfreut sich weiterhin hoher touristischer Beliebtheit.

Um meine persönliche Meinung einzustreuen: Statt Laufzeiten zu verlängern, sollten wir uns darum bemühen, den Atomstrom so bald wie irgend möglich zu ersetzen. Dass die Atomlobby an ihren Reaktoren noch weiter Geld verdienen will, steht außer Frage und einer frühen Abschaltung entgegen, schließlich helfen die Meiler dabei, dass wir jährlich 17 Terawattstunden Strom ins Ausland verkaufen können.
Die Frage, ob wir in zwei, fünf, oder erst in fünfzehn Jahren über die Technologie verfügen, uns von der Energiegewinnung durch Kernspaltung zu trennen, kann ich nicht beantworten, weil es mir dafür eindeutig an Wissen mangelt. Deswegen sage ich nur “so bald wie irgend möglich”. Denn auch wenn wir in Zentraleuropa mit günstigem Klima und hoher tektonischer Stabilität gesegnet sind, bleibt menschliches Versagen immer eine Option. Es muss nur irgendjemand zur falschen Zeit am falschen Ort etwas Falsches tun. Die Chance mag gering sein, aber sie ist da, egal, wie sicher ein Reaktor ist.

Kehren wir also zum gegebenen Notstand zurück, denn japanische Technik- und Organisationslegenden zerbrechen gerade reihenweise.
Die ZEIT bescheinigt den Japanern gründliche Vorbereitung und Organisation, die New York Times tut das Gegenteil, und auch die TV-Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Sender (was anderes sehe ich mir erst gar nicht an) lässt Zweifel aufkommen. Wenn man Bilder von verwüsteten Ortschaften zu sehen bekommt, sieht man auch immer Aufräumarbeiter und Leichensucher. Zu Fuß, mit behandschuhten Händen.
Wo ist denn das ganze Bergungsgerät? Immerhin habe ich mittlerweile in einem Video von Euronews mal einen Bagger gesehen. Natürlich ist die Situation wegen der zerstörten Straßen schwierig, aber das Einsatzgebiet ist ja trotz seiner Größe begrenzt, und an eben jener Grenze würde man doch Bilder von einem technischen Großeinsatz erwarten?
In den Notunterkünften mangelt es an Kerosin für die Heizgeräte – hat die japanische Regierung etwa keine keine strategischen Reserven? Kanister mit Heizöl kann man ganz ohne Straßen und Rollfelder per Hubschrauber anlanden, und letztendlich sollte man meinen, dass die Armee eines Industriestaates in der Lage sein müsse, die Versorgung auch in Extremsituationen sicherzustellen, denn für kriegsähnliche Zustände sollen sie ja da sein, denke ich, und wie im Krieg sieht es im Katastrophengebiet aus, nur die großflächigen Brandspuren fehlen.

Eine geradezu paradox anmutende Meldung lief gestern Abend über den Ticker der dpa: Japan habe über das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe die Lieferung von ferngesteuerten Robotern für den Einsatz in den Kernkraftwerken erbeten.
Was sagt uns das über die tatsächliche Leistungsfähigkeit japanischer Roboter und der dahinter stehenden Forschung aus? Ist Japan als Heimat toller Roboter nicht immer wieder im Gespräch, zumindest in der Abteilung “Kurioses aus Fernost”?
Ich selbst habe bereits Ende 2003 die Ausstellung zum Thema Roboter des “Nihon Kagaku Mirai Kan” (etwa “Japanisches Museum für Zukunftsorientierte Wissenschaften”) gesehen und mich auch im Gespräch mit Angestellten zum Thema informiert, da war bereits die Rede von rollenden Robotern, die in Gebieten eingesetzt werden könnten, wo es für Menschen zu gefährlich ist. Was ist daraus geworden? Hat die Forschung in den vergangenen acht Jahren geschlafen, auf den ASIMO-Lorbeeren ruhend? In Deutschland existieren entsprechend spezialisierte Maschinen scheinbar, und ausgerechnet in Japan, das sich selbst als Land der Roboter darstellt, wohl nicht.

Und was die “gute” Organisation von Erdbeben- und Katastrophenhilfe angeht… meine persönliche Erfahrung mit einer solchen Erdbebenübung, die wegen der vielen ausländischenn Studierenden vorrangig ganz klar auf den Unterhaltungseffekt abzielte, haben mich nicht davon überzeugt, dass das – aktuell von der ZEIT gelobte – japanische Krisenmanagement zu einem spürbaren Teil mehr als Augenwischerei ist, die diejenigen beruhigen soll, die nicht weiter drüber nachdenken wollen.

Da forschte man an der Universität von Hirosaki anno 2004 daran herum, welche japanischen Begriffe statistisch betrachtet eher von Ausländern verstanden würden, um eben diese “leichteren” Begriffe in die Radiodurchsagen einfließen zu lassen, anstatt dass man einfach auch Meldungen in englischer Sprache absetzte (was auch für die schriftlichen Fluchtpläne gelten sollte). Und ging scheinbar mit tödlicher Gewissheit davon aus, dass trotz Erdbebens die örtlichen Radiostationen weiter senden könnten, da immer darauf hingewiesen wurde, ein kleines Batterieradio mit sich zu führen, um Informationen zu Notunterkünften und dergleichen mehr zu erhalten. Dass für die Übung damals der simulierte Sammelpunkt im dritten Stock lag, anstatt dass man den natürlichen Fluchttrieb in Betracht zog und den Fluchtweg die Treppe hinunter leitete, kann ich heute noch nicht verstehen.

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