Dienstag, 22.06.2004 – Ein Lächeln macht noch kein gutes Bild
Wir mussten wegen des einsetzenden Regens in der Nacht das Fenster schließen, aber ansonsten handelte es sich bei dem Taifun nur um ein eher schwächlich erscheinendes sommerliches Gegenstück zu einem europäischen Herbststurm.
Ich verbringe den frühen Morgen mit dem Lernen von Vokabeln, vergesse aber leider, dass mal wieder eine Ladung Wäsche in die Maschine gehört. Möglicherweise werde ich dann morgen mal wieder ein altes T-Shirt anziehen müssen, weil nicht mehr viel im Schrank liegt.
Kondô-sensei hat für heute einen Fotografen eingeladen, der uns ein paar seiner Arbeiten zeigt, die in Japan und auch in den USA einige Preise auf Ausstellungen gewonnen haben. Außerdem ist er der erste in dieser Vortragsreihe, der nicht in einem Geschäftsanzug erscheint… er sieht wirklich wie ein Klischeefotograf aus, und ich glaube, ihm ansehen zu können, dass er von Kunst etwas versteht. Seine Bilder sprechen ebenfalls dafür. Vielleicht sprechen seine Bilder auch noch für etwas anderes, weil nämlich alle dargestellten Personen weiblich sind, und keine davon dürfte älter als 30 Jahre sein. Es sind auch Baby- und Kinderfotos dabei, weil er einen Abriss davon geben möchte, welche Motive heutzutage beliebt sind. Natürlich darf in dem Portfolio auch die Darstellung einer Frau in einem fließenden Brautkleid europäischen Stils nicht fehlen, aber es sind auch japanische Hochzeitskimonos vertreten. Es folgen also mehrere Damen in verschiedenen Kimonos, eine in einem chinesischen Kleid, und eine ohne Bekleidung. Aber das Bild ist „vernebelt“, die Dame liegt auf dem Bauch und man kann ihre Hüftrundung mehr erahnen als sehen. Aber es ist deutlich zu erkennen, dass unser Gast hier Ahnung von seinem Fach hat. Man kann keinem der Bilder den künstlerischen Charakter absprechen.
Um etwas Praktisches zu zeigen, bittet er die Thailänderin Nun nach vorn und zeigt an ihrem Beispiel, wie man durch einfache Veränderungen der Positur einer Person ein gutes Motiv erhalten kann. Ich habe auch nicht schlecht gestaunt, wie man durch eine „Korrektur“ der Stehweise aus einer normalen jungen Frau ein Model machen kann. Der Gerechtigkeit halber wird dasselbe auch an einem der Chinesen vorgeführt, mit dem Unterschied, dass man Männer in anderen Posen darstellt, als Frauen. Ich finde das wiederum nicht so überzeugend, aber das mag daran liegen, dass mir die ästhetischen Eigenschaften von Männern bei weitem nicht so sehr ins Auge fallen. Er erklärt auch den Unterschied zwischen hohen und tiefen Aufnahmewinkeln; wenn man ein lebhaftes Foto machen wolle, müsse man eine tiefe Position wählen, während eine Aufnahme aus einer erhöhten Position das Motiv ruhiger erscheinen lasse.
Er geht auch kurz auf die üblichen Kosten einer solchen Aufnahme ein. Eine Sitzung bei ihm koste zwischen 8500 und 11000 Yen, also grob zwischen 60 und 80 E, dafür erhalte man eine Reihe von Fotos, für gewöhnlich zehn, aus denen man sich die besten zwei oder drei aussuchen könne. Er bittet uns natürlich, ebenfalls einmal vorbeizukommen und macht uns das Angebot, so viele Fotos zu schießen, bis uns eines davon gefalle. Na ja, hätte ich Geld und Interesse gleichzeitig, gerade fehlt mir das erstere, würde ich gerne darauf zurückkommen, aber mein Verlangen nach Ästhetik ist nicht so groß, dass ich derzeit diesen Preis dafür zu zahlen bereit wäre… ich gebe mein Geld dann lieber für andere Dinge aus, ganz zu schweigen davon, dass ich jetzt sparen muss, um noch so viel Geld wie überhaupt möglich mit nach Deutschland nehmen zu können.
Während ich im Center herumsitze, treffe ich Wakasa Chikako, die sich hier eigentlich mit einer Freundin, die als Tutorin arbeitet, getroffen hat, sich dann aber lieber mit mir beschäftigt. Na, vielen Dank für die Blumen, aber wer ist Wakasa Chikako? Gut, ich kenne ihr Gesicht und ich weiß auch, woher ich es kenne, aber der Name allein hätte mir nichts gesagt, weil sie sich damals entweder nicht vorgestellt hat (was in der Situation durchaus vorstellbar war) oder weil ich den Namen schlicht wieder vergessen habe: Sie war die kettenrauchende Protokollantin des Erdbebenexperiments vor einigen Wochen. Es ist heute deutlich zu spüren, dass sie weniger Stress hat, weil ihre Sprechgeschwindigkeit ein verständliches („verstehbares“?) Maß hat. Ihre Erklärung zum Thema „Warum man Austauschstudenten keine Informationen zu Erdbeben zukommen lässt“, hatte sie ja in einer Geschwindigkeit vorgetragen, die mir Kopfschmerzen bereitete, zumindest hatte ich ein spürbares Klopfen an den Schläfen verspürt. Und zu meinem Glück darf hier nicht geraucht werden.
Sie zeigt mir eine Handvoll alter Fotos von ihr, ab Alter 5 Jahre aufwärts, bis zu einem Foto, dass sie aus irgendeinem Anlass im Kimono zeigt. Sie sieht darauf aus, als würde sie Kinder mögen, und zwar am liebsten mit einer großen Portion Bohnen und Speck, und weil ich ein etwas offener Mensch bin, sage ich ihr, dass sie auf dem Foto recht streng aussehe. Gut, sie nimmt meine Direktheit mit Humor. Und um mich zu revanchieren, zeige ich ihr die Fotos, die ich bis jetzt gemacht habe. Hoffentlich hat sie sich dabei nicht zu sehr gelangweilt.
Ich habe, nachdem wir uns verabschiedet haben, noch Zeit übrig, also gehe ich am Nachmittag zum Friseur und lasse meine Haare wieder auf eine erträgliche Länge kürzen, sechs Millimeter.