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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

1. Juni 2024

Dienstag, 01.06.2004 – Der längste Tag

Filed under: Japan,My Life,Uni — 42317 @ 7:00

Heute ist also der entscheidende Tag. Ich schreibe zuerst den Japan-Veteranen meiner Fakultät, um mir genauere Einblicke in die praktischen Abläufe einer Rückmeldung über den halben Globus hinweg zu verschaffen. Vielleicht finde ich auf diese Art und Weise eine Lücke in meiner eigenen Vorgehensweise. Wenige Leute sind das nicht – zehn, um genau zu sein. Ich rechne mal mit drei Antworten binnen der nächsten 48 Stunden.
Dann wende ich mich an meine Bank, erst einmal schriftlich, weil ich ja eventuell den Nachweis führen muss, dass ich tatsächlich überwiesen habe, möglicherweise nur mit dem falschen Verwendungszweck (falsche Matrikelnummer, da sind Nullen enthalten, die man angeblich für nichts braucht). Dann schreibe ich an meinen Sachbearbeiter im Studentensekretariat und schließlich auch meiner Lehrerin in Trier.

Kondô-sensei stellt uns heute Herrn Nakai vor, der seine Brötchen mit dem Verkauf von Hausmedizin verdient. Er hat uns Kostproben mitgebracht, darunter ein flexibles Pflaster aus einem speziellen Material, dass sich der Form der verpflasterten Stelle sehr gut anpasst, ein Pulver gegen Völlegefühl, und eine kleine Flasche mit einer Mixtur gegen Magenprobleme, die so ein bisschen wie Red Bull ohne Kohlensäure schmeckt. Ich bin sicher, dass ein guter Teil der Formel aus reinem Zucker besteht. „Aber aus Fruchtzucker!“ sagt Nakai-san. Es kratzt trotzdem im Hals. Gegen Magenprobleme? Ist genau das, was ich heute brauche, also runter damit. Geholfen hat’s allerdings nicht. Die Spannung hält bis zum Abend an.
Das Versorgungssystem ist in Japan übrigens sehr interessant: Auf Anfrage (oder im Rahmen einer Werbeaktion) kommt ein Bote mit einer ganzen Kiste voll Zeug (etwa so groß wie ein Schuhkarton für Stiefel), bedankt sich für das Interesse und geht wieder. Am Ende des Monats kommt er zurück und sieht nach, was in der Kiste fehlt. Das, was man verbraucht hat, wird berechnet; angebrochene Ware erst, wenn sie leer ist. Man merkt auf diese Art und Weise schnell, was man nicht so dringend braucht und kann den Inhalt der Kiste entsprechend anpassen lassen.

Im Anschluss will ich schauen, ob vielleicht schon jemand geantwortet hat, aber der Mailserver will schon wieder nicht mehr – hurra Deutschland! Ich fahre stattdessen ins Ito Yôkadô und hole die CDs ab, die ich letztlich bestellt habe.

Nach Anbruch der Dunkelheit gehe ich in den MiniStop gegenüber von der Universität und kaufe mir eine Telefonkarte im Wert von 3200 Yen für 3000 Yen (200 Yen geschenkt!). Die Verkäuferin lobt bei der Gelegenheit mein Japanisch, danke, und erklärt mir, wie man die Karte bedient. Es steht auf der Karte selbst drauf und sie gibt mir auch noch ein Faltblatt, auf dem noch mal dasselbe draufsteht. Diese Karten sind nicht wie deutsche Telefonkarten, in die ein Chip eingelassen ist, auf dem alles Notwendige zum Telefonieren gespeichert ist. Auf den japanischen Karten befindet sich ein Rubbelfeld, und unter der Decke befindet sich eine Nummer mit etwa 12 Stellen, inklusive Rauten. Diese Rauten dürfe man auf keinen Fall vergessen.
Dann kommt ein (japanischer) Kunde, etwa Mitte Vierzig, auf die Kasse zu. Die Verkäuferin zeigt auf ihn und sagt, dass er ausgezeichnet Englisch spreche. Aha… und was soll ich dem jetzt erzählen?
„Haben Sie Probleme?“ fragt er.
„Nein, ich muss nur mit meiner Bank reden.“
„Aber dies hier ist keine Bank.“
„Dessen bin ich mir bewusst. Ich kaufe eine Telefonkarte, um meine Bank in Deutschland anrufen zu können.“ Dann verabschiede ich mich aus diesem überflüssigen Dialog, was meinem in diesen hineingedrängten Gegenüber vielleicht auch ganz Recht ist. Für einen Japaner ist sein Englisch aber wirklich ganz hervorragend. Seinem Erscheinungsbild nach würde ich ihn für einen Lehrer halten.

Ich suche eine Telefonzelle und fahre dafür bis zur Poststelle in der Nähe vom Beny Mart, weil das Telefon, das auf dem Weg liegt, besetzt ist. Ich vergewissere mich, dass dieser Apparat für internationale Gespräche geeignet ist und wähle also zuerst die Kartennummer, worauf eine Stimme vom Band mir auf Japanisch und Englisch erläutert, dass ich auf das Signal warten solle, bevor ich die Teilnehmernummer wähle, wieviel Wert meine Karte noch hat und wie lange ich damit noch telefonieren kann. Dann erst folgt die Teilnehmernummer, dann die „49“ für Deutschland, und dann die Ortsvorwahl, natürlich ohne die „0“ am Anfang.
Ich rufe meine Kreissparkasse in Homburg an, und da weiß ich eine Weile nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Die Dame von der Telefonzentrale ist sehr nett, aber offenbar nicht in der Lage, Hochdeutsch zu sprechen, was ich sogar in der Heimat bei wichtigen Angelegenheiten vorziehe, vor allem über das Telefon, wo man schnell mal was falsch verstehen kann. „Ach Gott, Sie rufe aus Japan an!? Ei, ich vastehn Sie awwa gudd… dann beeil ich mich am beschde mol, damit Sie nit so viel bezahle misse…“ Ich bin der guten Verbindung auch dankbar – ich hätte nicht gedacht, dass es ein so gutes Gefühl sein würde, den Heimatdialekt mal wieder zu hören. Mit Melanie kann ich das ja nicht erleben… erstens kommt sie aus Saarbrücken und zweitens ist sie eh nur ein Halbblut-Saarländer. Ja, ich grinse jetzt.
Ich lande binnen 15 Sekunden bei einem Herrn Hager, der mir sagt, dass es problematisch sein könnte, die Transaktion von Homburg aus nachzuvollziehen, da ihm auch nur der Zeitraum der vergangenen sechs Wochen zur Verfügung stünde, wie mir beim Online Banking. Er werde aber versuchen, diese oder jene Schritte in die Wege zu leiten, um dem Problem zu begegnen. Er werde zuerst mit der Filiale in Gersheim reden, die könne ich dann in dreißig Minuten anrufen, um Ergebnisse zu hören. Meine Überweisungsdaten seien dort wesentlich greifbarer.

Zuvor rufe ich aber in Trier beim Studentensekretariat an. „Ja, ich habe Ihre beiden Mails gerade gelesen“, heißt es dort. Es sind deshalb zwei, weil der Rechner sich nach dem ersten Drücken auf „Senden“ aufgehängt hat und ich nicht sicher war, ob die Mail nun weg war oder nicht, also habe ich sie noch einmal geschrieben. „Die Exmatrikulation hat gar nichts mit der Nummer zu tun, die Sie auf die Überweisung geschrieben haben. Die zusätzliche Null behindert den Erkennungsprozess nicht. Das Problem besteht darin, dass Sie noch keine Immatrikulationsbescheinigung aus Hirosaki geschickt haben.“ Das sei alles, und ich könne die Bescheinigung einfach faxen, ohne das Brimborium mit der Beschwerde und dem beigefügten Bescheid. Den könne ich wegwerfen, sobald das Fax weg sei.
Ich bin so perplex wegen der Einfachheit dieses Problems, dass mir die Frage in diesem Moment gar nicht einfällt, warum man mir diesbezüglich nicht ganz einfach eine kurze Mail geschickt oder diesen Sachverhalt nicht einfach als Begründung in den Exmatrikulationsbescheid geschrieben hat! Das hätte mir einen äußerst „spannenden“ Dienstag erspart. Ich gehe wesentlich erleichtert erst mal in den Beny Mart, kaufe eine Platte Sushi und verzichte auf einen Anruf in Gersheim.

Aber zuhause erwartet mich gleich die nächste Krise: Melanie ist am Boden zerstört, weil der Friseur ihre Wünsche offenbar falsch verstanden und zu viel von ihren Haaren abgeschnitten hat, die eigentlich hätten lang wachsen sollen. Ich persönlich stelle keinen wesentlichen Unterschied in der Länge fest, dafür einen extrem hohen Anteil seltsam riechenden Haargels, um die Frisur in Form zu halten. Ich tue für sie, was ich kann, und will mir gleichzeitig die gute Laune auf keinen Fall verderben lassen. Ich verzehre den Großteil des Sushi alleine und trinke einen Pott warmen Sake. Das macht glücklich und wird mich schlafen lassen wie einen Stein. Leider muss ich bei dieser Gelegenheit meinen ersten Krug wegwerfen, weil aus unerfindlichen Gründen eine Art Pilz (grün) darin gewachsen ist. Macht nicht viel, hat eh nur 75 Cent gekostet.
Ich mache heute Abend aber auch nichts wirklich Sinnvolles mehr und gehe bald schlafen, weil ich am Morgen noch ein paar Vokabeln lernen will. Aber nach dem heutigen Tag ist mir der morgige Vokabeltest so richtig egal. Dafür geht’s mir jetzt zu gut.