Code Alpha

Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

9. Juni 2024

Mittwoch, 09.06.2004 – Wolken

Filed under: Japan,My Life,Uni — 42317 @ 7:00

Heute ist der Tag, an dem der Planet Venus zum ersten Mal seit 122 Jahren wieder die Bahn der Sonne kreuzen wird. Ein Naturschauspiel also, das nicht jeder in seinem Leben geboten bekommt – und hier ist es bewölkt! Die ganzen letzten Tage war das Wetter hervorragend. Ich habe in den 80ern bereits den Halleyschen Kometen verpasst, weil in dem betreffenden Zeitraum der Himmel wolkenverhangen war, aber den könnte ich wieder sehen, in dem Fall, dass ich über 70 Jahre alt werde.
Außerdem habe ich nicht gut geschlafen in dieser Nacht, was selten vorkommt. Ganz klar merke ich das daran, dass ich mich daran erinnern kann, was ich geträumt habe, was mir sonst nie passiert. Kein tiefer Schlaf, würde ich sagen.

Sawada-sensei leitet auch in diesem Semester ein Kulturseminar, an dem ich allerdings keinen Anteil habe. Melanie dagegen hat es belegt, und weil es zum Thema passt, wird wieder Kôgin-Zashi, die regionale Stickereikunst, behandelt und praktiziert. Man erkennt die Kursteilnehmer also ganz leicht daran, dass sie emsig damit beschäftigt sind, Muster von den verschiedenen Vorlagen auf die Leinentücher umzusetzen.
… von Vorlagen! Meine Güte, bloß nicht kreativ sein! Dass die Vorlagen schön sind, macht die Einfallslosigkeit meines Erachtens nicht wett. Ich weiß auch, dass mein „CODE a“ (lies: Alpha) nicht der Gipfel der Schaffenskunst ist, aber es ist mein Werk, mein eigenes!

Yamazaki-sensei schafft es heute im Laufe seiner 90 Minuten Unterrichtszeit, ganze drei Sätze zu analysieren. Das mag nicht ganz an ihm liegen, aber es bombt den Rest des Tages schon ziemlich weit in die Lethargie.

Ich verleihe „Shima Uta“ an Ogasawara-sensei, die sich eine passende Version aussuchen soll. Und ich hätte nicht erwartet, dass sie sich derart auffällig (sollte ich sagen „wie ein Kind“?) über die Leihgabe freuen würde. Schreibt man Japanern nicht eine gewisse Reserviertheit zu? Es soll Ausnahmen geben… natürlich freue ich mich darüber.

Bei Kondô-sensei hält Mei heute ihren Teil des Vortrags über die japanische Landwirtschaft und mögliche Reformen, dessen erste Hälfte letzte Woche von Nim abgehandelt worden war. Ich habe keinen Funken Konzentration mehr übrig. Ich versuche es, aber ich kann mich nachher an keine Zeile von dem erinnern, was sie über das Thema gesagt hat.

Bei Hugosson geht es mir nicht viel besser, weil der heute mehr vorträgt, als er diskutieren oder Erfahrungen austauschen lässt. Es entgeht ihm auch nicht, dass es (nicht nur mir) an Aufmerksamkeit mangelt und er macht seine Witze darüber. Immerhin weiß ich im Anschluss noch, um was es ging: Um die Notwendigkeiten beim Aufbau einer Organisation am Beispiel einer Studentenverbindung. Wir erarbeiten also eine imaginäre Organisation, die Austauschstudenten das Leben leichter machen soll. Er fragt, ob ich beitreten würde, wenn es umsonst wäre.
„Das kommt darauf an, was mir die Organisation zu bieten hat.“
„Und was wäre zum Beispiel etwas Wünschenswertes?“
„Auf die Schnelle fällt mir nichts ein, was mir fehlen würde.“
Ich bin nicht gerne Mitglied in irgendwelchen Organisationen, wenn es sich vermeiden lässt, das bürstet einem nur Verpflichtungen auf, die nicht immer gelegen kommen. Dass ich bei meiner Ablehnung gleichzeitig bereit wäre, für die Organisation Informationsvorträge zu halten, ohne dabei an Bezahlung zu denken, kann er nicht ganz nachvollziehen, aber das will mir auch selbst nicht ganz gelingen. Stehe ich außerhalb der Organisation, kann ich frei entscheiden, ob und welche Aufgabe ich übernehmen will und stehe nicht durch eine Mitgliedschaft in der Pflicht.

Ich gehe ins Center, das wieder einmal voll von Leuten ist, also verschwinde ich wieder einmal lieber in die Bibliothek, wo ich meine Post, das Forum und einen Spielzug gegen Frank bearbeite. Ich finde eine Nachricht von Jin-sensei vor (auch Ärzte sind „Lehrer“). Ich habe mich letzte Woche per E-Mail an ihn gewandt, um ihn zu bitten, mir einen guten (und vielleicht nicht allzu teuren) Schneider zu empfehlen, damit ich endlich die gewünschte Gakuran, eine Schuluniform für Jungs, anfertigen lassen kann. Ich habe vor zwei, drei Tagen bereits eine Antwort erhalten, in der er mich fragte, wie groß ich sei, und wie es mit meinem Brustumfang stehe. Letzteres konnte ich ihm nicht sagen. Der wurde zuletzt vom Truppenarzt gemessen, und das ist ein paar Jahre her. Aber gut, dabei habe ich mir noch nicht viel gedacht. Heute aber schreibt er mir, dass er bereits mit einem Schneider telefoniert habe, der eine Übergröße kommen lassen wolle, und dass ich am Samstagmorgen um 10:00 bei ihm vorbeischauen solle. Meine Güte, so viel Eigeninitiative hätte ich jetzt weder erwartet noch erbeten. Es hätte ja gereicht, mir einfach eine Adresse zu nennen. Aber ich bin ebenso gespannt wie dankbar.

Dann kommen Marc und Melanie und schlagen vor, gemeinsam was essen zu gehen. Ja, wieso nicht? Ich habe schon den ganzen Tag einen unerklärbaren Appetit auf „Butter-Ramen“, also bin ich dafür, ins Bunpuku zu gehen, da sich die beiden Initiatoren noch keine Gedanken über den Zielort gemacht haben.
Im Restaurant sitzen gegenüber von uns (im Rücken von Melanie und Marc heißt das, also eigentlich „gegenüber von mir“) drei Schülerinnen. Das an sich wäre nichts wirklich Aufsehen erregendes, wenn sich nicht eine davon so auffällig rechts an der Hüfte (also knapp unterhalb des Gürtelniveaus, wo der Oberschenkelknochen ansetzt) gekratzt hätte… und ich erinnere an dieser Stelle daran, dass die alle Röcke tragen, und sie hat es vorgezogen, sich nicht durch den Stoff zu kratzen… Ende der Rückblende.
Nein, ich habe nicht auf den Tisch gesabbert. Dennoch danke ich dem Schicksal für die gebotene Gelegenheit.

Ich habe heute Mittag auch eine Nachricht von Katsuki-sensei erhalten, die ich an Marc weitergeleitet habe, und ich nutze jetzt die Gelegenheit, um den Gesamthintergrund dieses Schreibens darzustellen. Ein Hirosaki-Bewerber aus Trier ist abgesprungen, somit ist hier ein Studienplatz für eine Verlängerung frei. Natürlich würde ich diese Möglichkeit mit Begeisterung annehmen – wenn da nicht die Finanzfrage wäre. Mein Stipendium läuft nur ein Jahr, ohne Chance auf Verlängerung, also werde ich wohl spätestens Mitte September wieder in Deutschland sein (müssen), weil ich mich nicht selbst finanzieren kann. Ich habe daraufhin Marc von dieser Gelegenheit in Kenntnis gesetzt, weil er erstens sowieso jetzt schon nicht von einem Stipendium anhängig ist und zweitens ja eine Freundin in Aomori hat, die sich über eine Verlängerung seinerseits sicherlich freuen würde. Er ist interessiert, muss aber noch ein paar Punkte klären.

Melanie will noch was besorgen und fährt mit Marc nach dem gemeinsamen Essen ins Daiei. Ich fahre lieber gleich nach Hause.