Ich leihe heute keine CDs aus – was den schlichten Grund hat, dass ich nicht beizeiten daran denke. Ich gehe dennoch ins Center, spiele ein paar Minuten „StarCraft“, verliere, und wechsele dann ins Informatikgebäude. Ich muss endlich meinen Newsletter abarbeiten, sonst muss ich zu viel nachholen, nachdem ich wieder in Deutschland bin – und wie es dort mit meiner freien Zeit aussehen wird, weiß der Himmel. Das Gebäude schließt um Fünf, also gehe ich zurück ins Center, um dort auch mal kurz bei Animetric vorbeizuschauen, damit mich nicht die Anzahl der Einträge seit meinem letzten Besuch erschlägt, weil ich zu lange gewartet habe. Ippei, der ja bei unserer Neputa Party mit anwesend war, schreibt mir, dass wir ihn um Acht vor dem Physikgebäude treffen sollten, um anschließend ins „88“ (Eingeborene nennen das nicht „Hachi-jû-hachi“, sondern „Hattachi“), eine Kneipe in Nishihiro direkt gegenüber vom BariBari (dem Okonomiyaki Restaurant), zu gehen. Also fahre ich nach Hause, um Melanie und Ricci von dieser Terminfestlegung zu unterrichten.
Als ich dann am Abend pünktlich vor Ort bin, Melanie und Ricci fahren langsamer als ich, ist aber keiner da – mit Ausnahme von Ôshima, dem „Resident Bishônen“ des „KIWA American“ Clubs. Er sagt, er warte auf Nachzügler wie uns, also „nur noch auf uns“, weil der Treffzeitpunkt auf 19:30 vorverlegt worden ist – allerdings hat der irre Ippei das erst nach Sechs Uhr abends geschrieben, und um diese Uhrzeit erreichen mich keine Neuigkeiten mehr auf elektronischem Wege. Ôshima bringt uns also zum „88“, wo die übrigen Leute, ausschließlich Japaner vom Club, vor der Tür auf uns warten. Der Abend wird lustig, obwohl der Laden hier keine Stühle hat, was bedeutet, dass mir dauernd die Beine einschlafen oder mir die Handgelenke vom Abstützen mangels Stuhllehne wehtun. Ich habe zumindest zeitweise eine Wand im Rücken, das macht es erträglicher. Einer unserer Damen geht es weniger gut. Nachdem sie ein bisschen was getrunken hat, wirklich nicht viel, wird sie schon mal krebsrot. Das ist noch ganz amüsant. Schließlich aber zieht sie es vor, den Rest der Zeit in der Waagerechten zu verbringen. Es sind genug Tischplätze frei, auf deren Sitzfläche sie sich legen kann. Sie sagt, sie habe heute bereits zu viel gegessen. Der Laden hier schenkt übrigens einen ganz hervorragenden Sake aus, der aus Hyôgo importiert wird. Sehr sanft im Geschmack, der beste, den ich bisher getrunken habe. Aus Hyôgo? Ich bin amüsiert. Wer von den Schülern von Katsuki Noriko könnte jemals den „Hyôgo Country Club“ vergessen? J Und das Essen ist auch sehr gut. Irgendwie ungewöhnlich auch, zumindest zum Teil. Was ist wohl „Tempura Ice Cream“? Ich lasse mich überraschen: Es bedeutet, dass man Vanille-Eisbällchen „blitzfrittiert“ – schnell in Mehlpanade gewälzt und für wenige Sekunden ins Frittieröl. Und das ist gar nicht so schlecht, wie es sich anhört. Natürlich ist das Preis-Leistungs-Verhältnis nicht das beste, und ich muss es auch nicht noch einmal essen. Aber es war wirklich nicht schlecht. Ich bin direkt erstaunt. Um 22:00 gehen wir wieder, erst einmal „im geschlossenen Verband“. Da hatte nämlich jemand die Idee, noch ein wenig Feuerwerk zu kaufen. Ich habe es abgelehnt, mich daran zu beteiligen, weil Feuerwerk in erster Linie Geld- und Materialverschwendung ist, Pyrokunst hin oder her. Allerdings fängt es sowieso in diesen Minuten an zu regnen und die Sache fällt aus, auch wenn Ôshima sich bereits auf den Weg gemacht hat. Er wird per Telefon benachrichtigt. Wir fahren also jeder nach Hause.
Um 23:00 meldet sich Yui noch – an meiner Haustür. Sie möchte einen passenden Termin für die Korrektur meines Jahresberichtes finden, aber an den Tagen, an denen ich Zeit habe (was derzeit eigentlich fast immer ist), hat sie Unterricht, und sie weiß zum Teil nicht einmal, wann er jeweils endet. Im Extremfall wende ich mich an Torigata-san im Center. Melanie fällt dann bald ins Bett, während ich mit Ricci noch bis 00:30 über allen möglichen Kram rede, über dessen Sinn oder Unsinn man sich streiten kann. Es sollte nicht notwendig sein, mir die Inhalte zu merken, also unterlasse ich es.
Der Tag beginnt zu einer direkt unmenschlich frühen Zeit. Zuerst begrüßt der Hund von gegenüber wieder den neuen Tag (und ich nehme eigentlich mehr an, dass er Krach macht, weil er zum „Rudel“ ins Haus will, anstatt vor der Tür sein Dasein zu fristen), dann wird mal wieder das Auto sauber gemacht, diesmal von innen mit dem Staubsauger. Und dann um halb Sieben beginnt auch noch jemand mit Klavierübungen! Wenn ich versuche, die Geräuschquelle zu orten, drängt sich mir der Verdacht auf, dass auch diese dritte frühmorgendliche Unverschämtheit aus dem Haus unseres wenig sozial anmutenden Nachbarn gegenüber herübertönt. Der Hund kann ja nichts dafür, aber um diese Zeit Klavier zu spielen, dass man es in der ganzen Straße (50 m lang) hören kann, ist eine Frechheit.
Ich „reserviere“ mir in der Frühe um halb Neun einen Platz im Center und fahre um 09:40 ins GEO, um neue CDs auszuleihen. Ich lasse mir dort das „25:00 Uhr System“ erklären.
Der Rechnungstag endet nachts um 01:00, was bedeutet, dass man ausgeliehene Sachen bis um Ein Uhr zurückbringen kann und nicht bis Mitternacht da sein muss. Im Gegenzug heißt das aber auch, dass man nach Mitternacht keine Sachen für den neuen Tag ausleihen kann, weil ja der alte noch gültig ist. Der neue Tag beginnt erst am Morgen um Zehn, und in meiner Situation finde ich das reichlich unpraktisch, weil ich so eine Menge Zeit verliere. Wie dem auch sei, ich nehme heute eine bunte Mischung aus „Kishidan“, „Drifters“ und „Yoshida Kyôdai“ mit. Bei den „Drifters“ muss man sich an den Stil erst gewöhnen, aber sie sind wirklich lustig – sofern man ein grundlegendes Verständnis der japanischen Sprache hat, was bedeutet, dass ich zuhause niemanden dafür werde erwärmen können. Nein, Trier ist nicht „Zuhause“. Trier ist eine eigene, in sich geschlossene Dimension von seltsamen Leuten, denen man auch verrücktes Material andrehen kann, sofern es aus Japan kommt. Man muss auf jeden Fall verstehen, was die „Drifters“ sagen oder singen, sonst geht der Hauptteil vom Spaß verloren. Ich muss auch noch daran arbeiten. Ich setze mich wieder ins Center und lasse die CDs einlesen und zu MP3s verwursten.
Am frühen Abend wollte ich eigentlich zu einem Shamisen-Konzert von Shibutani-sensei gehen, aber ich stelle fest, dass ich früher hätte dran sein müssen. Zum Beispiel hätte ich das Werbeplakat besser lesen sollen. Darauf ist zu lesen, dass die Vorbestellung der Karten dringend empfohlen sei, umso mehr, weil die Anzahl der Zuhörer auf 100 Personen beschränkt sein würde. Der derzeit beste Spieler Japans hat keine Probleme damit, 100 Leute „zu seinem Ruhme“ zu versammeln, auch nicht im letzten Provinzwinkel Japans, und schon gar nicht, wenn dieser Provinzwinkel seine Heimatstadt ist. Keine Chance für mich. Direkt amüsiert war ich aber von seiner Ankunft in dem kleinen Hotel, die ich miterleben durfte. Japaner fahren ja wirklich gerne mit dem Auto, wenn der Weg weiter als 500 m ist, also dachte ich eigentlich, er würde mit einem Wagen vorfahren. Stattdessen kommt er zu Fuß daher gelatscht, mit seiner Frau im Schlepptau, beide in Yukata gekleidet, und der Herr Sohn, in westlicher Kleidung und tendenziell so beleibt wie sein Vater, schleppt den Koffer mit dem Instrument. Wirklich ein amüsanter Anblick.
Ich überlege eine Weile, was ich tun soll. Ich fahre ins Daiei, in den „Daisô 100 Yen Shop“, um genau zu sein, und kaufe eine stabile Papprolle, um meine Poster und den SailorMoon Kalender darin zu verschicken (oder zu transportieren). Dann kehre ich nach Hause zurück und höre CDs, während ich auf dem Futon liege. Ich habe alle eingelesen, aber noch nicht angehört. Allerdings muss ich währenddessen eingenickt sein, da ich von der heimgekehrten Melanie plötzlich geweckt werde. Ich bin auch irgendwie schrecklich müde. Das liegt wohl nicht unwesentlich daran, dass ab heute Morgen um 04:30 kaum noch ans Schlafen zu denken war. Wir sehen uns dennoch zwei Episoden der Serie „InuYasha“ an, die ersten beiden Episoden überhaupt. Ich wollte mir schon länger mal ein Bild von dieser Serie machen.[1] Ich habe hier und da eine Episode im Fernsehen gesehen, aber das sagt einem natürlich reichlich wenig, wenn man die Entstehungsgeschichte nicht kennt, und japanische Animeserien sind in den meisten Fällen darauf ausgelegt, dass sich eine fortlaufende Geschichte entfaltet – anders als viele amerikanische (Zeichentrick-) Serien, die man auch in willkürlicher Reihenfolge ansehen kann, ohne einer größeren Verwirrung wegen des Inhalts anheim zu fallen, weil eine fortlaufende Storyline für gewöhnlich nicht gegeben ist.
Außerdem erfahre ich im Laufe des Abends, wie der Tag meiner beiden Mitbewohnerinnen so gelaufen ist, und der schien ziemlich filmreif – zumindest für die versteckte Kamera, wäre sie da gewesen. Geplant war, für Ricci ein Fahrrad aus dem Haufen an der Uni zu besorgen, um ihr die Reisen durchs Stadtgebiet angenehmer zu machen und die Buskosten bei Null zu halten. Der Abend sollte dann mit „Shrek 2“ im örtlichen Kino enden. Der Start lief auch gut. Es wurden zwei brauchbare Fahrräder gefunden, zum Cycland geschoben, mit Luft versorgt, und sie fuhren zum Einkaufen ins Ito Yôkadô. Aus dem Laden wieder heraus stellten sie allerdings fest, dass jemand die frisch besorgten alten Mühlen geklaut hatte – alle beide. Also mussten sie in der Hitze des Tages zu Fuß zur Uni zurücklaufen und neue Fahrräder besorgen. Die brauchten natürlich ebenfalls Luft, also wurden auch diese beiden zum Cycland geschoben. Dass man auf halber Strecke, quasi in Steinwurfweite zur Uni, bei „Bicycle Saitô“ ebenfalls Luft pumpen kann, ist Melanie offenbar völlig entgangen. Wie es scheint, hat sie die Existenz des Ladens bis heute nicht wahrgenommen, obwohl sie bestimmt bereits mehr als tausendmal daran vorbeigekommen ist. Wie dem auch sei, die beiden standen also am Cycland und pumpten Luft, als sich das Ventil von Riccis Reifen mit einem Pfeifen verabschiedete. Ein neues Rad musste her. Die Tour zur Uni war ein weiteres Mal fällig, noch einmal musste ein altes Fahrrad von seiner Absperrvorrichtung „befreit“ werden, und natürlich kam man um eine weitere Tour zum Cycland nicht herum. Der Mann im Fahrradladen dürfte nicht schlecht gestaunt haben, als dieselben beiden Leute bereits zum dritten Mal mit einem neuen Satz Fahrrädern angerückt kamen. Ob er allerdings überhaupt bemerkt hat, dass die Zwei immer neue Räder hatten, sei dahingestellt. Wegen all dieser Schwierigkeiten und der impliziten Fußmärsche, die sich wegen der auf Grund der Wetterverhältnisse immer weiter sinkenden Ausdauer der beiden Damen immer länger hinzogen, war es dann zu spät geworden, um noch pünktlich im Kino zu sein. Der Film würde also später angesehen werden müssen. Ich muss annehmen, dass die beiden noch müder sind als ich.
Melanie hat sich übrigens – wenn mies läuft, dann richtig – bei der Gelegenheit, aus dem überwucherten Fahrradhaufen immer weitere Drahtesel zu bergen, die Hose, von der sie gehofft hat, sie würde wenigstens die letzten paar Tage noch überstehen, nicht nur schmutzig gemacht, sondern auch gleich zerrissen.
[1] Der Manga ist von Takahashi Rumiko, das heißt, das Konzept geht nicht über coole Charaktere und ihre Konflikte hinaus, das Traumpaar kommt wegen allerlei Empfindlichkeiten und Missverständnissen nicht zusammen, und wenn die Geldkuh irgendwann totgemolken ist, wird schnell ein Schluss gebastelt.
Ich verbringe den Morgen im Center – abgesehen von einem Ausflug zum GEO, um mich mit weiteren CDs einzudecken. Um etwa 13:00 fahre ich dann zum Bahnhof, um gemeinsam mit Melanie unseren Besuch in Empfang zu nehmen: Ricci kommt heute aus Tokyo zu uns hoch. Melanie ist schon eine Weile länger am Bahnhof als ich, aber sie ist mir im ersten Moment entgangen, weil sie im Warteraum gesessen hat – der hat eine Klimaanlage. Realistisch betrachtet: Nachdem ich „Hallo Ricci!“ gesagt habe, verschwinde ich auch gleich wieder ins Center. Meine ganzen Sachen liegen noch dort (mehrere Leute haben ihre Sachen über Nacht im Center gelagert, um sich für den Umzug gestern Abend umziehen zu können) und ich will die geliehenen CDs heute noch eingelesen bekommen. Ich schreibe noch meine Post, lasse das Forum aber sein, um nicht zu spät nach Hause zu kommen.
Wir essen Nudelsalat. Melanie hat ihn gemacht, weil es sich erstens um ein kühles Essen handelt und weil Ricci zweitens kein Fleisch mehr essen möchte. So sei es denn. Aber der Kontrast ist lustig, wenn man bedenkt, dass unsere Freundin Heidi, die Veganerin, in Japan zum Fleisch „bekehrt“ worden ist. Aber es soll jeder essen, wie es ihm am besten passt. Ich brauche hin und wieder Fleisch und tauge daher nicht zum Hindu.[1] Ein paar Tage werde ich aber wohl ohne auskommen. Schade ist nur, dass dadurch ein paar Läden ausfallen, in denen wir hätten gemeinsam essen können. Was mich daran erinnert, dass wir keinen Reis mehr haben. Aber so kurz vor Schluss will ich auch keinen neuen Sack mehr kaufen. Aber es gibt auch genug Nudeln zu kaufen, die lassen sich besser portionieren.
Um 23:30 fahre ich ins GEO und bringe die CDs zurück. Ich sehe mich ein wenig im Laden um und finde den „Hello Kitty“ Anime. Ich hätte nicht gedacht, dass ich ihn tatsächlich mal sehen würde, also von außen, heißt das. Wie es scheint, handelt es sich um die Neuversion, und nicht um das Original von 1976. Hayashibara Megumi spricht die Hauptrolle, und die Frau ist erst seit Ende der Achtziger eine große Nummer im Geschäft.
[1] Vegetarismus wird vom Hindu nicht gefordert, Fleischgenuss gilt wegen des Tötungsakts jedoch als unrein.
Ich fahre am Morgen ins GEO und leihe mir wieder eine Reihe CDs aus. Dass ich keine Telefonnummer angegeben habe, sorgt noch immer für Verwirrung unter den Angestellten.
Leider bin ich, zurück im Center, ein bisschen spät dran und der für das Einlesen der Audio CDs benötigte Computer ist bereits von einer Chinesin besetzt, die an einem Aufsatz schreibt. Ich begnüge mich derweil mit einem anderen, aber der will nicht so, wie ich will. Ich beantworte also nur meine Post und schreibe zwei, drei Einträge ins Forum, bis der „richtige“ Rechner endlich verfügbar wird. Dummerweise wird die Zeit am Nachmittag knapp und eine der CDs kann nicht mehr eingelesen werden, also habe ich 250 Yen umsonst ausgegeben. Um 16:30 beginnen nämlich die Vorbereitungen für den heutigen Neputa Umzug, an dem auch die Universität Hirosaki (und mit ihr die Austauschstudenten) teilnehmen wird.
Wir bekommen also die dazu notwendigen Trachten ausgeteilt. Ein blauer Überwurf („Hanten“) mit „Hirosaki Daigaku“ Stickerei am Kragen und einem größeren, gleichlautenden Aufdruck auf dem Rücken, der mit einem braunen Stoffgürtel zusammengehalten wird. Für Schuhe und Hosen sind wir selbst verantwortlich, weshalb hier einige Leute mit langen Hosen rumlaufen, so z.B. Chen „Dragon“ und Arpi, der slowakische Ungar.
Dann ziehen wir ins Schorum ein und werden erst einmal verköstigt, mit einem lauwarmen Büffet, wie man sagen könnte. Nach wenigen Augenblicken ist mir schon einmal klar, was ich auf den ersten Blick gewusst habe: Die Würstchen („Frankfurter“) schmecken furchtbar. Während alle anderen Platten bis aufs letzte Krümelchen blank geputzt werden, bleibt ein Berg von diesen Würstchen übrig. Das sonstige Angebot ist verlockend, aber ich will nicht zu viel essen. Ich will nicht mit einem vollgestopften Magen an dem Umzug teilnehmen, das macht müde und träge. Zum Essen gibt es, passend zur festlichen Gelegenheit, auch schon Bier, dem einige Leute bereits kräftig zusprechen. Vor allem SangSu macht den Eindruck, als sei er bereits nicht mehr ganz nüchtern, noch bevor die Sache richtig angefangen hat. Es werden dabei massenweise Erinnerungsfotos geschossen, und ich bitte einige der Leute darum, mir die Bilder auch zu schicken, auf denen ich abgebildet bin, aber ich habe wenig Hoffnung, dass irgendjemand meiner Bitte Folge leisten wird.
Die gut aussehende junge Frau, mit der Kashima-sensei heute unterwegs ist, ist übrigens seine Tochter Nami. Sie ist 17 Jahre alt und gestern aus Tokyo eingetroffen – und sie wird auch bleiben. Dazu wurde die bürokratische Meisterleistung vollbracht, es ihr zu ermöglichen, die Oberschule zu wechseln. Ich habe ja die Schwierigkeiten eines solchen Verwaltungsaktes bereits erwähnt. Im Übrigen ist sie in Korea geboren und hat wegen der beruflichen Tätigkeit ihres Vaters eine Weile in den USA verbracht. Ihr Englisch sei also sehr gut, aber ihr Koreanisch absolut mies, sagt sie. Wie kann das sein, angesichts einer koreanischen Mutter? Allerdings schiebe ich die Frage auch ganz schnell wieder beiseite, da ich ja persönlich noch weitere Leute mit einem solchen Familienhintergrund kenne, deren Koreanisch mir bis zum heutigen Tag noch nicht einmal aufgefallen wäre. Die Mutter befinde sich gerade auf einem Betriebsausflug, erzählt Kashima-sensei – nach Hawaii. Sie arbeitet bei einer Immobilienfirma in Tokyo und verdiene eine ungeheure Menge Geld, sodass sie sich nicht veranlasst sehe, ihre Arbeit aufzugeben und aufs Land nach Hirosaki zu ziehen. Auf jeden Fall würde mich interessieren, wie die Frau Mutter aussieht, nachdem mir bei der Tochter bereits die Kinnlade runtergeklappt ist und ich Kashima ganz unverblümt für seinen hübschen Nachwuchs loben musste. Eine familiäre Ähnlichkeit kann ich dem grinsenden Lehrer nämlich nicht bescheinigen.
Der eine oder andere Verantwortungsträger sagt dann auch noch ein paar Worte, und dann sind wir dran, eine improvisierte Dankesrede für das tolle vergangene Jahr in vier, fünf Sätzen zu halten. Dann geht die Sache langsam zu Ende und wir ziehen los, zum Treffpunkt, also dorthin, wo der Wagen der Universität steht. Das wäre dann die Hauptstation der hiesigen Feuerwehr. Ich gehe mit Melanie noch schnell zu Eve, weil sie auf dem Weg wohnt, um unser Gepäck dort abzustellen. Ich will keinen Rucksack von mehr als 10 kg Gewicht mit mir rumschleppen, zumindest nicht während des Umzugs. Außerdem befinden sich darin die CDs aus dem GEO, zwei Videos aus dem King Kong, mein Geldbeutel und allerhand nicht unwichtiger Kleinkram.
Wir finden uns schließlich alle an der Feuerwehrstation, quer gegenüber von der Uniklinik, ein. Das heißt, Eve, Melanie und ich sind die ersten, während die übrigen Ausländer erst einer nach dem anderen und schließlich in einem größeren Pulk eintreffen. Die anderen machen sich auch gleich über das kostenlose Eis her, das ausgeteilt wird, auch das Bier fließt hier in Strömen, ebenso der Sake, und es gibt bereits kleinere Trinkwettbewerbe unter Japanern. Links neben mir schüttet sich einer ein Wasserglas voll Sake in den Hals, unter dem Jubel seiner Trinkkumpane. Ich glaube, ich bleibe lieber nüchtern.
Irgendwann wird der Wagen dann in seine Startposition geschoben, die Zugseile befestigt und ausgerollt, und dann beginnt der Spaß. Und diese Zugseile sind nur zur Show da – zu meiner allergrößten Enttäuschung. Die großen Wagen haben nämlich Motoren, die das Gefährt mit einer Geschwindigkeit von zwei bis vier Kilometern pro Stunde vorwärtsbewegen. Man hält also nur das Seil in der Hand, wie in alten Zeiten, und läuft einfach mit – meine Güte, wie langweilig. Und dann soll man da in Stimmung kommen (was mir persönlich meistens recht schwerfällt) und die Parolen mitgrölen („YAA! YADOO!“). Unser „Antreiber“, also der mit dem Megaphon, der die Parole vorgibt, hat keine Ahnung von Takt. Dafür ist er sehr laut und sehr motiviert bei der Sache. Zwischendrin verschwindet Kuramata-sensei, der eigentlich den Anfang vom Seil festhalten soll, für eine Weile und überlässt mir die Spitze, weil er Fotos machen möchte. Das ist dann auch der Grund, warum sich meine eigenen Fotos an diesem Tag in Grenzen halten.
Wir landen auch im lokalen Fernsehen. Nächstes Jahr kann man die Videos des diesjährigen Festes kaufen. Der Kameramann hält mir das Objektiv aus dreißig Zentimeter Entfernung mitten ins Gesicht, ich brülle (auf Kommando des Antreibers) „YAA! YADOO!“ in die Kamera und stoße mir den Kopf an der Linse. Der Kameramann muss mich für völlig betrunken halten. Der Kerl, der den Scheinwerfer trägt, lacht jedenfalls amüsiert.
Kuramata-sensei kommt schließlich zurück und sagt, ich solle mir die großen Trommeln weiter hinten ansehen, bzw. anhören, es sei ein echtes Erlebnis. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen, also lasse ich das langweilige Seil sein und gehe zu den großen Taiko. Ah… das donnert und vibriert durch alle Eingeweide in einem ebenso einfachen wie eingängigen Rhythmus. Hier gefällt es mir viel besser, ich geselle mich also zu den Leuten, die derzeit diese Trommeln ziehen, das sind Chris, Izham, Misi und Alex, und lasse mich zudröhnen. Ob die Trommeln einen eigenen Motor haben oder tatsächlich gezogen werden, kann ich nicht genau sagen. Das Gerät braucht auf jeden Fall Lenkung und die meiste Zeit über habe ich das Gefühl, dass ich der einzige bin, der den Wagen daran hindert, von der Straße herunter gegen verschiedene Laternenpfosten zu rollen. Und diese Lenkmanöver sind nicht ganz ohne, bedenkt man das Gewicht des Wagens. Kurz darauf schwitze ich aus allen Poren. Aber das ist ja, was ich wollte. Jetzt macht die Angelegenheit erst so richtig Spaß, und der Sound macht alle Strapazen wieder wett.
Ich finde auf der Strecke eine Flöte in einer Stoffhülle. Alex meint, dass ich mir doch ein ganz tolles Souvenir gefunden hätte, aber das muss ich verneinen. Ich habe die Flöte, bzw. die Stoffhülle, nämlich heute schon mehrfach gesehen und ich weiß, zumindest optisch, wem sie gehört. Etwa eine Minute darauf hat die kleine Besitzerin den Verlust auch bemerkt und kommt in ihrem himmelblauen Kimono die Straße zurückgelaufen. Ich winke ihr zu, was sie zwar bemerkt, aber im ersten Moment ignoriert, weil ihr noch nicht klar ist, womit ich winke. Das gelingt ihr erst im zweiten Hinsehen. „Du hast Dein Instrument verloren!“ rufe ich ihr zu. Dann fange ich mir erst einmal den üblichen Blick ein („Der will mich bestimmt fressen…“), aber sie nimmt die Flöte an und bedankt sich leise.
Wir schieben schließlich alle unsere Wagen auf den Universitätscampus, und damit wäre der offizielle Teil dann beendet. Ein organisiertes Besäufnis hinterher gibt es nicht, was mich eingedenk japanischen Brauchtums doch ein bisschen wundert. Stattdessen gibt es kaltes Wasser, „Yakult“ Yoghurt-Drinks und Tüten mit Süßigkeiten, die mich nicht interessieren und aussehen wie ein Chemieunfall bei BASF. Ich trinke stattdessen eine Menge Wasser in kleinen Schlucken. Große Schlucke sind mit den Schöpfkellen aus Holz auch schwer zu bewerkstelligen. Es kommt der Plan auf, nach Nishihiro zum Trinken zu fahren, zusammen mit „den üblichen Verdächtigen“, darunter auch Mitglieder von „KIWA American“. Ich lerne bei dieser Gelegenheit Hidaka Ippei kennen, und er ist wohl der erste japanische Student (soll heißen: „der erste studierende Mann“, weil ich ja bereits eine Menge sympathischer studierender Frauen getroffen habe), der mir wirklich sympathisch ist. Ist natürlich ganz toll, dass ich diese Leute erst kennen lerne, wenn ich quasi schon beim Zusammenpacken für die Heimreise bin! Okay, also hängt Nishihiro im Raum. Die andere Hälfte der (planerisch aktiven) Anwesenden spricht sich dagegen dafür aus, einfach eine Fuhre Getränke und Snacks im Konbini zu besorgen und vor der Bibliothek ein geselliges Beisammensein zu veranstalten, weil die frische Luft ja was für sich habe. Mir ist das völlig egal. Der Entscheidungsprozess dauert scheinbar ewig und nimmt eine Viertelstunde in Anspruch. Das wäre auch schneller gegangen, aber was uns (immer noch) fehlt, ist ein charismatischer Anführer, der die Entscheidung auf sich nimmt und sagt: „Wir machen das jetzt so…“. Schließlich setzt sich die Freiluft-Idee durch und die Masse der Leute verschwindet in Richtung Konbini. Da ich bereits was zu trinken bei mir habe, fahre ich auf den Platz vor der Mensa und fahre dort im Kreis, bis alle wieder zurück sind. Es wird auch ganz lustig, und der alkoholisierte SangSu redet wieder wie ein Wasserfall. Ich kann seinem verwirrten Redefluss nicht wirklich folgen; es geht ihm wohl um japanische Phonologie und die Angewohnheit von Jugendlichen, Sätze mit dem semantisch sinnlosen Füllwort „saa“ zu beenden, das sich auch hinter jedem Satzteil und hinter jedem Hauptwort beliebig einsetzen lässt, wenn ich meiner eigenen Erfahrung trauen darf.[1]
Wir sind auf dem Gelände nicht allein. Ich will es erst nicht recht glauben, aber um das Gebäude neben uns spielt eine Gruppe von einem halben Dutzend StudentInnen Verstecken. Dabei dachte ich eigentlich, man sei mit etwa 20 Jahren wirklich zu alt dafür, aber die Teilnehmer haben einen kindhaften Spaß daran, also sei es ihnen gegönnt.
Um 23:15 fahre ich dann zum GEO, um meine CDs zurückzugeben, bevor der Kalendertag vorüber ist. Von der Uni über King Kong in Nakano bis zum GEO dauert es mit dem Fahrrad nur 20 Minuten. Danach komme ich wieder zurück, aber nur noch, um zu erleben, dass SangSu inzwischen völlig hin ist und nervtötende Ambitionen zeigt, anderen was von seinem Bier abzugeben. Er schüttet was in Melanies leere Getränkedose und auch etwas in meine leere PET-Flasche (was jedoch dezent im Rasen landet). Er trinkt den Rest dann aus seiner eigenen Dose, schüttet sich noch ein paar Tropfen auf den Kopf und wiederholt dasselbe mit Melanie, die ihm dafür eine scheuert, weil sie das gar nicht lustig findet. Sie ist auch nicht begeistert davon, dass wir ihn in seinem Zustand wieder mal nach Hause bringen müssen. SangSu aber will sich scheinbar nicht nach Hause bringen lassen. Während Melanie sich noch verabschiedet und unseren Müll einsammelt, setzt er sich auf sein Fahrrad und biegt um die nächste Ecke in Richtung Mensa. Da man ihn in dem Zustand nicht alleine lassen sollte, folgen wir ihm, sobald der Müll im Fahrradkorb verstaut ist. Aber SangSu ist verschwunden. Er muss zwar direkt vor Irenas Nase vorbeigefahren sein, aber die hat ihn nicht bemerkt, weil sie so sehr ins Gespräch mit einem der Koreaner vertieft war. (Gerüchte behaupten, die beiden seien vor SangSus Rausch aus unserem Kreis geflohen, um hier vor der Mensa Zuflucht zu finden.) Da SangSu verschwunden ist, fahren wir nach Hause. Ich habe nichts dagegen, ihn nach Hause zu bringen, wenn er für seine Verkehrssicherheit nicht mehr alleine sorgen kann, aber ich gehe ihn nicht auch noch suchen, wenn er einfach verschwindet, so lange er noch alleine gehen kann.
[1] Wenn man jemandem eine Frage stellt und die Person antwortet nur „Saa…“, dann bedeutet das in der Regel „Ich weiß nicht“ oder „Ich bin nicht sicher“.
Dank unseres improvisierten Vorhangs können wir tatsächlich bis 08:30 schlafen, bevor es zu warm wird. Ich finde das ausgesprochen erholsam. Wir verbringen den Tag mit dem Kopieren von „Atashin’chi“ Videos und ich bin sicher, dass sich die Investition lohnt. Nicht gelohnt hätte sich eine Kopie der OVA „Streetfighter ZERO – The Animation“ (wenn es sich denn hätte kopieren lassen): Da verwendet eine böse Organisation Kampfdaten und Ki-Energie starker Kämpfer, um Super-Cyborgs daraus zu basteln, und der Chef will der stärkste Kämpfer überhaupt werden. Ryû hat derweil Probleme, weil seine „Hadôken“ Attacke wohl böse Ursprünge hat und er deshalb an gefährlichen Aussetzern leidet. Die Bösen wollen diese ungeheure Kraftentfaltung natürlich für sich nutzen und entführen seinen jüngeren Bruder… den es plötzlich gibt. Seine Existenz wäre zumindest mir unbekannt gewesen. (Der Bruder hat übrigens die Stimme von Daisuke aus „Digimon“.) Und dann wird viel gekämpft und die Guten gewinnen natürlich. Das einzig Erwähnenswerte der zweiteiligen Serie ist die Tatsache, dass Ryû von Kain Kosugi gesprochen wird. Er macht den Job auch nicht schlecht, aber der Mann ist mir zu unsympathisch, als dass ich seinem aufgeblähten Testosteron-Ego eine solche Rolle gönnen würde.
Der Tag ist immer noch heiß, und möglicherweise vertrage ich die Temperatur nicht. Ich fühle mich nicht bei bester Gesundheit, mein Magen fühlt sich irgendwie flau an. Trotzdem gehe ich mit Melanie zur Eröffnungsparade des diesjährigen Neputa-Festes, das insgesamt eine Woche lang dauern wird. Mir ist eigentlich überhaupt nicht nach Bewegung, aber ich weiß auch, dass ich das nicht verpassen sollte und auch nicht will. Wir haben ja bereits das Neputa der „Hirosaki Kôtôgakkô“ (das ist die Oberschule von Kazu) gesehen. Das war sehr schön, aber auch sehr kurz, da war nach einer halben Stunde alles vorbei. Aber das war für eine einzelne Organisation, eine Oberschule, doch eigentlich gar nicht schlecht. Heute ist das alles ein bisschen anders.
Wir finden zuerst einen Platz auf der Brücke 50 m von „Mr. Donut“ entfernt. Ich finde den Platz gar nicht schlecht, weil sich vor mir zwar noch drei Reihen von Leuten befinden, aber die sitzen alle. Nur Melanie gefällt der Platz nicht, er sei zu weit von der Straße weg. Also wechseln wir den Standort, indem wir einen geradezu riesigen Bogen laufen, und landen vor der Tür der Toshin-Bank, deren Angestellte schätzungsweise 200 Liter Wasser, eisgekühlt, an Teilnehmer und natürlich auch an durstige Zuschauer verteilen. Und dann ziehen über zwei Stunden lang etwa jede Minute ein erleuchteter Wagen nach dem anderen an uns vorbei. Meine Kamera reicht natürlich bei weitem nicht aus, um alles zu fotografieren. Melanies Kamera genießt hier den Vorteil, dass sie einfach nur den Film zu wechseln braucht, wenn einer voll ist. Aber es ist auch nicht so schlimm, dass die Anzahl der Fotos, sie ich machen kann, begrenzt ist, weil die meisten Wagen irgendwo gleich aussehen. Wenn man ein halbes Dutzend gesehen hat, weiß man, was man zu erwarten hat. Einzig die Wagen mit den dreidimensionalen Modellen aus Wachspapier unterscheiden sich gleich auf den ersten Blick voneinander. Ich suche mir die besten Motive raus und hoffe, dass die Bilder was werden. Ich sagte ja bereits, dass meine Kamera für Nachtaufnahmen kaum zu gebrauchen ist, und zusätzlich die Bewegung des Fahrzeugs durch eigene, parallele Bewegung auszugleichen, ist nicht ganz leicht. Auch die Jieitai ist mit einem Aufgebot von Leuten vertreten, und die Jungs von der Armee fallen mit ihrem Auftritt so ganz aus dem Rahmen. Sie tragen wohl Kriegerkleidung aus der Edo-Zeit, schwarze Hakama (weite Hosen) und weiße Oberteile, mit passendem Stirnband natürlich, und heben sich so von dem ab, was die übrigen Leute so tragen, meist ein blauer Überwurf und eine kurze Hose. Auch die Musik, die die Jieitai mitgebracht hat, ist so ganz anders. Hier kommt die Musik aus Lautsprechern, und es handelt sich nicht um Neputa-Musik, die lediglich auf Flöten, Trommeln und Schellen beruht. Bei der Jieitai läuft ein Stück, dass sich mehr wie ein Heldengesang auf die Imperiale Armee aus den frühen Vierzigern anhört. Dazu führen die Mitglieder einen Tanz mit Fächer und Schwert vor. Dass dabei keine Kehlen am Straßenrand aufgeschlitzt werden, wundert mich schon beinahe, da die Klinge des einen oder anderen Katana so manchen Zuschauer nur um Handlänge verfehlt. Es gehört zur „Neputa Show“, dass die Wagen (oder viele davon) gedreht werden, damit man sie von allen Seiten betrachten kann. Die wirklich großen Wagen haben einen Mechanismus, mit dem sie gedreht werden. Zum Teil ist dieser Mechanismus elektrisch, zum Teil rennen die Träger um den Wagen herum und drehen den oberen Teil mit Hilfe von Seilen, während das Fahrwerk weiterhin fest auf dem Boden bleibt. Die kleineren Modelle jedoch (und es bleibt der persönlichen Wahrnehmung überlassen, was ein „kleineres Modell“ ist) werden kurzerhand hochgehoben und die Träger rennen ein-, zweimal im Kreis über die Straße. Normalerweise folgen die Träger dabei einem „Antreiber“, der den Weg vorgibt. Eigentlich sollte der Antreiber darauf achten, dass der Weg frei ist, und die Trägheitswirkung des Objektes kennen, aber das geht auch schon mal schief. Zehn Meter links von mir hat sich einer dieser Leute am Straßenrand etwas verschätzt, die Truppe kriegt die Kurve nicht so, wie gewünscht, und der Antreiber wird von einer Querstrebe des Festwagens in die Zuschauermenge katapultiert. Die nehmen‘s mit Humor. Ein anderer Teilnehmer wird später von einer ebensolchen Querstrebe sichtlich unangenehm in den Rücken getroffen. So ist das Leben. Aber die haben das alles wieder vergessen, wenn sie noch ein bisschen mehr trinken. Da die Wagen auch zum Teil recht hoch sind, muss man sich wegen der Stromleitungen was einfallen lassen, die hier ja alle überirdisch verlaufen. Da sind z.B. zwei oder drei Leute, die mit Stangen vorneweg laufen. Die Stangen sind so lang wie der Wagen hoch ist, und bei Bedarf heben sie die Leitungen einfach an. Der Großteil der Wagen hat jedoch „Lotsen“ und „Aufsitzer“, die den obersten Teil der Wachspapierkonstruktion einfach abklappen und die (isolierten) Leitungen mit den Händen über den Wagen hinwegheben, während die Lotsen vorneweg laufen und wild pfeifen und mit Leuchtstäben winken, um auf ein Hindernis aufmerksam zu machen. Die Mechanik der Wagen kann außerdem nicht nur dazu verwendet werden, die Wagen zu drehen, sondern auch dazu, die Wagen zu senken, um das Passieren von Leitungen und Bäumen einfacher zu machen. Das Vorbeilotsen dieser voluminösen Konstruktionen um unflexible Laternen und Ampeln herum ist sogar noch abenteuerlicher und schon beinahe eine koordinatorische Meisterleistung. Für die letzte halbe Stunde bietet man uns Stühle an. Die Damen und Herren, die vorher darauf gesessen haben, gehen bereits nach Hause oder woanders hin. Leider ist mein Stuhl kaputt und ich muss recht vorsichtig darauf sitzen, aber es ist weitaus bequemer als das weitgehend stille Stehen, wodurch meine Beine schon ziemlich steif geworden sind.
Das Ende des heutigen Umzugs wird schließlich durch einen kleinen Wagen angezeigt, auf dem genau das geschrieben steht: „Schluss für heute“. Wir folgen dem Wagen bis zu der Kreuzung, wo unsere Fahrräder stehen und machen uns auf den Heimweg. Ich könnte eine Mütze voll Schlaf wirklich gut gebrauchen.
Hua! Ferien! Ferien… was fange ich damit jetzt an? Ich sollte aber, wie üblich, keine Probleme damit haben, mich nicht zu langweilen.
Und der Spaß fängt auch gleich sommerlich an. Um 05:30 powert die Morgensonne bereits so heftig ins Zimmer, dass an ein Weiterschlafen überhaupt nicht zu denken ist. Also stehe ich auf und aktualisiere mein Tagebuch, bis dann endlich „SailorMoon“ läuft.
Usagi kämpft weiter gegen die zerstörerischen Kräfte an, die in ihr wohnen. Mamoru erhält unterdessen durch Zutun von Jedyte Endymions Herz und Seele (natürlich in Form eines Steins) zurück, aber der scheint mehr eine Kontrollfunktion von Seiten des bösen Oberkommandos zu sein. Die Mädchen leisten freiwillige Arbeit in einem Kindergarten und treten da in lustigen Kostümen auf. Ami und Usagi scheinen diese Gelegenheit in erster Linie dazu nutzen zu wollen, Makoto mit Motoki zu verkuppeln. Weil Makoto (wohl kaum zufällig) ein Schildkrötenkostüm trägt und Motoki ein Schildkrötenfan ist, erzählen sie ihm, dass bei diesem Kindergarten ein besonderes Exemplar zu finden sei, das er einfangen könne. Er ist in der Stunde der Wahrheit allerdings viel zu „angetan“ von der gebotenen Gelegenheit, als dass er ein klares Wort herausbringen könnte. Die Identität der Senshi wird heute eher gezwungenermaßen gleich zwei Freunden offenbart, nämlich Motoki und Naru. Während Motoki die Angelegenheit mit Fassung trägt, landet Naru aber erst einmal mit leichten Verletzungen und einem großen Schock im Krankenhaus, nachdem Usagi alias PowerSailor RangerMoon wieder einen glatten Amoklauf hinlegt und sie beinahe in die Luft gesprengt hätte, mitsamt dem ganzen anderen Krempel, der in Flammen aufging.
Und dann wird unser Tag so richtig heiß. Ans Anziehen brauche ich erst gar nicht zu denken. Hinzu kommt, dass ich ausgesprochen schlecht geschlafen habe. Am frühen Nachmittag lege ich mich noch einmal für ein paar Augenblicke hin – wir haben das Fenster verdunkelt und so die Innentemperatur etwas gesenkt. Allerdings hat der Futon auf dem von der Sonne verwöhnten Balkon gehangen und ich liege darauf wie ein Kuchen auf dem Backblech, nur weicher. Am frühen Abend stehe ich dann wieder auf und fühle mich deutlich besser, aber an eine effektive Beschäftigung ist heute nicht mehr zu denken. Wir eignen uns weitere „Crayon Shin-chan“ Filme an, bevor wir (wieder) schlafen gehen. Wir bleiben allerdings dabei, das Fenster mit der Armeedecke zu verhängen, das sollte den Morgen angenehmer machen. Vielleicht kann man so die mögliche Schlafzeit bis nach Acht hinauszögern.