Freitag, 06.08.2004 – YAAA YADOOOO!!
Eigentlich hatte ich fest vor, mir einen Platz im Center zu reservieren, um dann um 09:40 ins GEO zu fahren und mir ein paar CDs auszuleihen, aber mein Tagebuch hält mich eine Weile länger auf, als ich gedacht hätte (weil ich nicht mitten in einem Eintrag zu schreiben aufhöre). Als ich um kurz nach Zehn damit fertig bin, bittet Nim mich darum, ihr beim Brennen ihrer eigenen CDs zu helfen, und mittendrin taucht Izham auf und „der alte Malaye“ redet gerne und viel. Wir diskutieren zu dritt ein wenig die Kolonialgeschichte Südostasiens und britische Vorgehensweisen bei der Erweiterung des Empire, dann die Situation in Süd-Thailand (soweit sie mir aus Nachrichten und Zeitungsartikeln bekannt ist – da treiben sich Islamisten rum), und wie man „Terroristen“ von „Freiheitskämpfern“ unterscheiden kann, ohne zu einem Ergebnis zu kommen.
Ebenso fruchtlos endet mein Versuch, ihm einen Spieltermin für Combat Mission zu entlocken. Er scheint mir jemand, der solche Spiele schnell begreift, also will ich ihn in die „Play by E-Mail Gemeinde“ mit einbeziehen. Allerdings kann ich ihm derzeit nur die deutsche Version des Spiels anbieten, und er ist erst dabei, ein paar grundlegende deutsche Begriffe und Ausdrücke zu lernen. Man muss für das Spiel vielleicht zwei Dutzend Begriffe beherrschen, die in erster Linie in die Kategorie „Fortbewegungsarten im Gelände“ und „Geländeeigenschaften“ fallen, wie z.B. die Begriffe „Dorf“, „Stadt“, „Ackerland“ oder die Abstufungen „wenig“, „mäßig“ und „stark“ (im Sinne von „viel“). Das sollte er bewältigen können. Misi konnte das schließlich auch – aber möglicherweise hat ein Ungar aus Mitteleuropa damit – bedingt durch die räumliche Nähe und ungarische Geschichte – weniger Probleme als ein Malaye vom anderen Ende des Planeten.
Abgesehen von einem kurzen Ausflug nach Hause, weil ich was vergessen habe (und ich habe schon wieder vergessen, was es war), bin ich den ganzen Tag im Center und warte auf Yui, die ja nicht weiß, wann ihr Unterricht endet. Es geht bei ihr um Vorbereitungen für Feldforschung und Personenbefragung bezüglich ihres bevorstehenden Auslandsstudiums in Tennessee, und offenbar sind das Veranstaltungen ohne festgesetztes Ende. Derweil schreibe ich weiter in mein Tagebuch, lese „Kevin & Kell“, soweit bis heute vorhanden, und gehe natürlich meine Post durch.
An bedeutenderen Dingen finde ich nur ein weiteres Schreiben von Tamara vor, die sich wohl wegen des beharrlichen Schweigens meines Vermieters dazu entschlossen hat, lieber in Chiba, östlich vom Großraum Tokyo, zu wohnen.[1] Ihr Fragevolumen hat bis heute kaum abgenommen und ich finde es sehr löblich, dass sie sich informiert – man sollte Informationsquellen nutzen, die sich anbieten. Bei diesem Gedanken werfe ich einen schielenden Seitenblick nach Trier und sehe zwei Leute, die zwar von meinem Newsletter direkt betroffen sind, aber keinerlei Interesse an Vorinformation zeigen.
Da schreibt mir doch letztlich Nikolas, dass er meinen Newsletter weder sonderlich aufmerksam lese noch aufhebe. Dass er ihn nicht aufhebt, trifft mich ja wenig, der Umfang ist schließlich annähernd gewaltig, und es steht auch vieles drin, was nur für mich persönlich von Bedeutung ist. Aber die organisatorisch wichtigen Teile, die ihm den Start und das Leben in Hirosaki leichter machen können, sollte er doch rauspicken. Wenn der Politologiestudent XY meinen Newsletter nur überfliegt (und sei es nur aus Höflichkeit) und dann wegwirft, kann ich das verstehen, aber wenn jemand so verfährt, den die Informationen, die ich liefere, unmittelbar betreffen, weil er im Jahr darauf herkommt, dann entzieht sich das meinem rationalen Denken. Dabei schreibe ich doch genau deshalb einen Newsletter, weil meine direkten Vorgänger es an brauchbaren Informationen haben fehlen lassen. Ich hätte mir welche gewünscht, schließlich erfährt man vor Ort Dinge, an die jemand zuhause nicht denkt und daher nicht explizit fragt. Von JP war ja nichts zu hören, und das, was Stefan (auf meine Anfrage hin) geschrieben hat, war doch stark von seiner Antipathie gegenüber Japanern geprägt. … genug gelästert.[2]
Ich gehe kurz vor Schluss noch ins Sekretariat meiner Fakultät und versuche, meinen Jahresbericht dort abzugeben, da Yui heute offenbar keine Zeit mehr hat, aber dort heißt es, ich solle ihn im Center abgeben. Das ist natürlich umso besser. Dann kann ich noch zu Torigata-san gehen und sie bitten, noch ein paar Korrekturen vorzunehmen, da es dem Center sicherlich weniger als der Hauptverwaltung ausmacht, wenn ich einen Tag zu spät dran bin.
Um 17:20 begebe ich mich zum ausgemachten Treffpunkt und warte auf Melanie und Ricci. Wir wollten in den Yakiniku-Laden gehen, den uns Kazu vor ein paar Tagen gezeigt hatte. Leider hat das Restaurant aber wohl wegen Neputa geschlossen, also verlagern wir ins „Skylark Gusto“, wo ich mir eine „Cheeseplate“ genehmige – Pizzateig nur mit Käse drauf. „Für drei Personen“ steht auf der Karte. Danke, seine Majestät haben gelacht. Macht sich gut mit Tabasco, könnte nur eine Spur mehr Salz gebrauchen.
Nach dem Essen suchen wir die Stelle an einem Straßenrand auf, die Melanie am Nachmittag für uns „reserviert“ hat. Es ist hier völlig normal, dass man für Straßenparaden (wie Neputa) eine Plastikplane (zum Draufsetzen) auf den Bürgersteig klebt, vielleicht noch seine Initialen anbringt, um so einen möglichst guten Aussichtspunkt zu bekommen. Unser Platz liegt an der vierspurigen Hauptstraße, die vom Bahnhof Richtung Daiei wegführt, 100 Meter vom Bahnhof weg, in Sichtweite des Hotels „Shinjuku“, direkt unter einer Laterne. Die Laterne könnte dabei helfen, mir den Kamerablitz zu ersparen. Diese Bilder sind einfach zu selten gut geworden.[3]
Und dann geht der Spaß los, die Wagen ziehen mal auf der einen, mal auf der anderen Seite der beiden Doppelfahrspuren vorbei. Das Ganze wird geradezu niedlich untermalt von dem Kleinkind unserer „Bordsteinnachbarn“, das ständig fröhlich lachend zu uns oder anderen Zuschauern kommt und sich offenbar daran erfreut, vor kurzem Laufen gelernt zu haben. Die Mutter muss es alle paar Minuten wieder von irgendwoher (im Umkreis von fünf Metern) einsammeln.
Und eine derart ausgelassene Parade habe ich noch nie erlebt. Ich finde die Stimmung auch wesentlich angenehmer als die deutschen Fastnachtsparaden, die nicht gerade zur besten Jahreszeit und auch noch bei Tag stattfinden. Da kommt irgendwann, kurz nach Beginn, von einem der Wagen eine Frau, wohl etwa Mitte Dreißig, zu mir herüber und hält mir auffordernd eine Schöpfkelle hin. Es ist völlig normal, dass die Wagenteams kaltes Wasser für die Träger und Trommler dabeihaben. Ich nehme also an. Und als ich gerade einen großen Schluck im Mund habe, sagt sie „Das ist Nihonshû…“, (also auf „Deutsch“: Sake). Ah, ja, jetzt hab ich’s auch gemerkt. Aber er ist gut. Weil ich den Mund noch voll habe, deute ich mit einer Handgeste an, dass ich damit sehr wohl einverstanden bin – Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis geformt. Runter damit. Dann gibt sie weiter fleißig Sake aus ihrem Fass an die Träger ab und bespritzt sie auch damit, als ob es Weihwasser wäre. Die Träger machen mir auch schon einen entsprechenden Eindruck. Vielleicht war dieser Auftakt auch ganz gut so, weil Alkohol ja Hemmnisse senkt. Es kommen nämlich immer wieder welche der bereits erwähnten „Antreiber“ zu mir, also Leute mit Megaphonen, in die sie „YAA YADOO!“ reinbrüllen, und die anderen vom Wagenteam brüllen hinterher.
Warum kommen die zu mir? Erstens einmal bin ich ein Ausländer, zweitens bin ich ein großer Ausländer, und drittens bin ich ein großer Ausländer in Armeehosen. Also kommt da der erste auf mich zu und brüllt mich mit „YAA YADOO!“ an, dass mir die kurz geschnittenen Haare nur so nach hinten geföhnt werden und hält mir das Megaphon hin. Er ist der erste, also weiß ich nicht recht, was er von mir will. „Schrei Yaa Yadoo!“ sagt er und legt noch eine Nummer vor. Er hält mir das Megaphon hin und ich gebe ihm eine Antwort wie aus den besten Tagen bei „Agony“. Die Truppe an den Zugseilen grölt und jubelt, bevor sie weiterzieht.
Es kommen noch zwei weitere Herren mit dem gleichen Anliegen, die beide älter sind als ich. Aber es kommen nicht nur solche, sondern auch Jugendliche, bis zu etwa meinem Alter, ohne Megaphon. Die haben offensichtlich eine Menge Alkohol im Blut und wollen, dass ich mit ihnen um die Wette brülle. Da steht z.B. auf einmal einer neben mir, legt seinen Arm um meine Schulter und legt los: „YAA YADOO!“ Ich gebe es zurück, aber er ist damit nicht zufrieden. „A, dame. Mada, mada“, sagt er in einem Ton wie ein weiser Sensei und winkt ablehnend mit der Hand. „Nein, nicht so. Das üben wir noch einmal.“ Und dann machen wir die Runde noch zweimal, bis er zufrieden ist. Wohlgemerkt, er steht dabei direkt an mir, von meinem Mund zu seinem Ohr sind es nicht mehr als 25 cm. Theoretisch sollte er jetzt eine Weile taub sein. Aber seine gleichaltrigen Kameraden vor und neben uns sind ganz aus dem Häuschen und jubeln um die Wette.
Aber das war erst die Mittelstufe. Zum Glück habe ich zwischendurch am Automaten (die sind nie weit) etwas zu trinken gekauft, um die Kehle wieder etwas zu befeuchten. Einige Zeit darauf kommt nämlich eine weitere Gruppe im gleichen Alter wie die letzte vorbei, und sie geben sich, mit nacktem Oberkörper, dramatisch Gewohnheiten aus dem Baseball hin. Einer rutscht mit Anlauf auf dem nackten Bauch über den Asphalt bis direkt vor meine Füße, als sei mein Standort eine Base auf dem Sportplatz. Er dürfte Schmerzen haben, wenn die Wirkung des Alkohols nachlässt, denn er bringt diese Aktion alle paar Meter. Aber dann muss ich mir einen Brüllwettbewerb mit drei seiner Kameraden gleichzeitig liefern, die das sehr passioniert und sehr theatralisch machen. Man muss diese Grimassen beim Grölen einfach live gesehen haben! Ich brülle mich also mit „YAA YADOO!!“ völlig heiser und kann den Verein offenbar zufrieden stellen. Der Bauchrutscher geht mit erschrockenem Gesicht in die Knie (danke für die Blumen…) und der Rest der Mannschaft johlt fröhlich. Umarmung. Wir sind eh alle völlig verschwitzt.
Die Tänzerinnen mit den Schellen fand ich auch nicht schlecht… sehr lebendige Mädchen. Habe ich bereits erwähnt, dass die Neputa-Kostüme keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen machen und wegen der kurzen Hosen sehr viel Bein freilassen? Stellenweise Augenweiden wie am Fließband. Scheu vor Ausländern scheint hier weitgehend unbekannt, zumindest heute. Es haben wohl alle genug getrunken. Ich muss mich nur an den Straßenrand stellen und bekomme eine Menge dafür geboten.
Auch diese Parade dauert mehr als zwei Stunden. Zum Ende dürfen wir noch eine Gruppe Betrunkener in uniformen, weißen Outfits bewundern, die aussehen wie ein Prügelkommando der Yakuza aus dem Fernsehen. Sie pöbeln die Polizisten an, die hinter der Prozession hergehen, sind zu den Zuschauern und Passanten aber ausgesprochen freundlich (wenn auch auf alkoholisierte Art und Weise). Unruhestifter mit klaren Prinzipien – hat man das schon gesehen?
Wir kehren nach Nakano zurück, aber ich genehmige mir noch eine kleine Portion Oden, bevor wir endgültig nach Hause gehen. Dann legen wir uns aber bald schlafen. Der Tag war recht anstrengend.
[1] Wenn man in Japan ein Apartment mieten möchte, braucht man einen Bürgen, zum Beispiel die Universität oder den Arbeitgeber. Einreisende mit Work Holiday Visum haben so jemanden nicht; und Negativbescheide durch das Ignorieren der Anfrage kundzutun, ist eine weltweit verbreitete Unsitte.
[2] Nikolas machte Gebrauch vom ungeschriebenen Recht aller jungen Leute, ihre Erfahrungen selbst zu machen, sich also unvoreingenommen in die gleichen oder zumindest ähnlichen Situationen zu begeben wie ein Vorgänger. Wir sprachen irgendwann darüber und ich akzeptierte seine Einstellung.
[3] Japaner verfügen über genug Anstand, solche Markierungen auch zu respektieren.