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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

4. August 2024

Sonntag, 01.08.2004 – Der Neputa Auftakt

Filed under: Japan,Militaria,My Life,Zeitgeschehen — 42317 @ 12:52

Dank unseres improvisierten Vorhangs können wir tatsächlich bis 08:30 schlafen, bevor es zu warm wird. Ich finde das ausgesprochen erholsam. Wir verbringen den Tag mit dem Kopieren von „Atashin’chi“ Videos und ich bin sicher, dass sich die Investition lohnt. Nicht gelohnt hätte sich eine Kopie der OVA „Streetfighter ZERO – The Animation“ (wenn es sich denn hätte kopieren lassen): Da verwendet eine böse Organisation Kampfdaten und Ki-Energie starker Kämpfer, um Super-Cyborgs daraus zu basteln, und der Chef will der stärkste Kämpfer überhaupt werden. Ryû hat derweil Probleme, weil seine „Hadôken“ Attacke wohl böse Ursprünge hat und er deshalb an gefährlichen Aussetzern leidet. Die Bösen wollen diese ungeheure Kraftentfaltung natürlich für sich nutzen und entführen seinen jüngeren Bruder… den es plötzlich gibt. Seine Existenz wäre zumindest mir unbekannt gewesen. (Der Bruder hat übrigens die Stimme von Daisuke aus „Digimon“.) Und dann wird viel gekämpft und die Guten gewinnen natürlich. Das einzig Erwähnenswerte der zweiteiligen Serie ist die Tatsache, dass Ryû von Kain Kosugi gesprochen wird. Er macht den Job auch nicht schlecht, aber der Mann ist mir zu unsympathisch, als dass ich seinem aufgeblähten Testosteron-Ego eine solche Rolle gönnen würde.

Der Tag ist immer noch heiß, und möglicherweise vertrage ich die Temperatur nicht. Ich fühle mich nicht bei bester Gesundheit, mein Magen fühlt sich irgendwie flau an. Trotzdem gehe ich mit Melanie zur Eröffnungsparade des diesjährigen Neputa-Festes, das insgesamt eine Woche lang dauern wird. Mir ist eigentlich überhaupt nicht nach Bewegung, aber ich weiß auch, dass ich das nicht verpassen sollte und auch nicht will. Wir haben ja bereits das Neputa der „Hirosaki Kôtôgakkô“ (das ist die Oberschule von Kazu) gesehen. Das war sehr schön, aber auch sehr kurz, da war nach einer halben Stunde alles vorbei. Aber das war für eine einzelne Organisation, eine Oberschule, doch eigentlich gar nicht schlecht. Heute ist das alles ein bisschen anders.

Wir finden zuerst einen Platz auf der Brücke 50 m von „Mr. Donut“ entfernt. Ich finde den Platz gar nicht schlecht, weil sich vor mir zwar noch drei Reihen von Leuten befinden, aber die sitzen alle. Nur Melanie gefällt der Platz nicht, er sei zu weit von der Straße weg. Also wechseln wir den Standort, indem wir einen geradezu riesigen Bogen laufen, und landen vor der Tür der Toshin-Bank, deren Angestellte schätzungsweise 200 Liter Wasser, eisgekühlt, an Teilnehmer und natürlich auch an durstige Zuschauer verteilen.
Und dann ziehen über zwei Stunden lang etwa jede Minute ein erleuchteter Wagen nach dem anderen an uns vorbei. Meine Kamera reicht natürlich bei weitem nicht aus, um alles zu fotografieren. Melanies Kamera genießt hier den Vorteil, dass sie einfach nur den Film zu wechseln braucht, wenn einer voll ist. Aber es ist auch nicht so schlimm, dass die Anzahl der Fotos, sie ich machen kann, begrenzt ist, weil die meisten Wagen irgendwo gleich aussehen. Wenn man ein halbes Dutzend gesehen hat, weiß man, was man zu erwarten hat. Einzig die Wagen mit den dreidimensionalen Modellen aus Wachspapier unterscheiden sich gleich auf den ersten Blick voneinander. Ich suche mir die besten Motive raus und hoffe, dass die Bilder was werden. Ich sagte ja bereits, dass meine Kamera für Nachtaufnahmen kaum zu gebrauchen ist, und zusätzlich die Bewegung des Fahrzeugs durch eigene, parallele Bewegung auszugleichen, ist nicht ganz leicht.
Auch die Jieitai ist mit einem Aufgebot von Leuten vertreten, und die Jungs von der Armee fallen mit ihrem Auftritt so ganz aus dem Rahmen. Sie tragen wohl Kriegerkleidung aus der Edo-Zeit, schwarze Hakama (weite Hosen) und weiße Oberteile, mit passendem Stirnband natürlich, und heben sich so von dem ab, was die übrigen Leute so tragen, meist ein blauer Überwurf und eine kurze Hose. Auch die Musik, die die Jieitai mitgebracht hat, ist so ganz anders. Hier kommt die Musik aus Lautsprechern, und es handelt sich nicht um Neputa-Musik, die lediglich auf Flöten, Trommeln und Schellen beruht. Bei der Jieitai läuft ein Stück, dass sich mehr wie ein Heldengesang auf die Imperiale Armee aus den frühen Vierzigern anhört. Dazu führen die Mitglieder einen Tanz mit Fächer und Schwert vor. Dass dabei keine Kehlen am Straßenrand aufgeschlitzt werden, wundert mich schon beinahe, da die Klinge des einen oder anderen Katana so manchen Zuschauer nur um Handlänge verfehlt.
Es gehört zur „Neputa Show“, dass die Wagen (oder viele davon) gedreht werden, damit man sie von allen Seiten betrachten kann. Die wirklich großen Wagen haben einen Mechanismus, mit dem sie gedreht werden. Zum Teil ist dieser Mechanismus elektrisch, zum Teil rennen die Träger um den Wagen herum und drehen den oberen Teil mit Hilfe von Seilen, während das Fahrwerk weiterhin fest auf dem Boden bleibt. Die kleineren Modelle jedoch (und es bleibt der persönlichen Wahrnehmung überlassen, was ein „kleineres Modell“ ist) werden kurzerhand hochgehoben und die Träger rennen ein-, zweimal im Kreis über die Straße. Normalerweise folgen die Träger dabei einem „Antreiber“, der den Weg vorgibt. Eigentlich sollte der Antreiber darauf achten, dass der Weg frei ist, und die Trägheitswirkung des Objektes kennen, aber das geht auch schon mal schief. Zehn Meter links von mir hat sich einer dieser Leute am Straßenrand etwas verschätzt, die Truppe kriegt die Kurve nicht so, wie gewünscht, und der Antreiber wird von einer Querstrebe des Festwagens in die Zuschauermenge katapultiert. Die nehmen‘s mit Humor. Ein anderer Teilnehmer wird später von einer ebensolchen Querstrebe sichtlich unangenehm in den Rücken getroffen. So ist das Leben. Aber die haben das alles wieder vergessen, wenn sie noch ein bisschen mehr trinken.
Da die Wagen auch zum Teil recht hoch sind, muss man sich wegen der Stromleitungen was einfallen lassen, die hier ja alle überirdisch verlaufen. Da sind z.B. zwei oder drei Leute, die mit Stangen vorneweg laufen. Die Stangen sind so lang wie der Wagen hoch ist, und bei Bedarf heben sie die Leitungen einfach an. Der Großteil der Wagen hat jedoch „Lotsen“ und „Aufsitzer“, die den obersten Teil der Wachspapierkonstruktion einfach abklappen und die (isolierten) Leitungen mit den Händen über den Wagen hinwegheben, während die Lotsen vorneweg laufen und wild pfeifen und mit Leuchtstäben winken, um auf ein Hindernis aufmerksam zu machen. Die Mechanik der Wagen kann außerdem nicht nur dazu verwendet werden, die Wagen zu drehen, sondern auch dazu, die Wagen zu senken, um das Passieren von Leitungen und Bäumen einfacher zu machen. Das Vorbeilotsen dieser voluminösen Konstruktionen um unflexible Laternen und Ampeln herum ist sogar noch abenteuerlicher und schon beinahe eine koordinatorische Meisterleistung.
Für die letzte halbe Stunde bietet man uns Stühle an. Die Damen und Herren, die vorher darauf gesessen haben, gehen bereits nach Hause oder woanders hin. Leider ist mein Stuhl kaputt und ich muss recht vorsichtig darauf sitzen, aber es ist weitaus bequemer als das weitgehend stille Stehen, wodurch meine Beine schon ziemlich steif geworden sind.

Das Ende des heutigen Umzugs wird schließlich durch einen kleinen Wagen angezeigt, auf dem genau das geschrieben steht: „Schluss für heute“. Wir folgen dem Wagen bis zu der Kreuzung, wo unsere Fahrräder stehen und machen uns auf den Heimweg. Ich könnte eine Mütze voll Schlaf wirklich gut gebrauchen.

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