Samstag, 17.07.2004 – Menschliche Überheblichkeit
Es regnet heute Morgen, wenn auch nicht stark. Trotzdem drückt Melanie mir einen Schirm in die Hand, den ich nach 200 m bereits nicht mehr brauche, weil der Regen aufhört. Die Einschätzung (der Intensität) des Regens ist in unserer Nachbarschaft eine tückische Angelegenheit. Erstens haben wir hier viele Blechdächer und zweitens haben wir hier sehr wenige Regenrinnen. Man hört also viel mehr Wasser trommeln und plätschern, als sich tatsächlich pro Quadratmeter bemerkbar macht.
Ich schreibe ein paar Berichte und Forumseinträge, bevor ich um 17:00 wieder gehe.
Am Montag ist die Bibliothek wegen des „Umi no Hi“, dem „Tag des Meeres“, ebenso geschlossen wie der ganze Rest der Uni, ein freier Tag also. Aber der wird natürlich nachgeholt, wenn ich das richtig sehe, am 30. Juli.
Ich fahre dann mit Melanie nach Hause, um „Shin-chan“ und „Bôbobo“ anzusehen, bevor wir zu Misi rüber fahren. Das heißt, ich fahre eigentlich alleine, weil Melanie im Supermarkt noch was zu trinken kaufen will und ich keine Böcke habe, diesen Umweg zu fahren, nur weil sie mich in ihrer Nähe haben will. Bei Misi soll unsere gemeinsame Geburtstagsparty stattfinden. Die von Misi und mir – SangSu hat seinen bereits gefeiert und Melanie hat erst am 20. Juli Geburtstag.
Misi sagte ausdrücklich, dass es so ab Acht losgehen solle, und um kurz nach Acht bin auch da – als einziger. Misis derzeitige Freundin ist ebenfalls anwesend, aber sie hat noch eine dringendere Verabredung und wird so gegen 21:00 wieder gehen. Bis um diese Zeit ist auch nur Melanie dazugekommen, und das wundert mich doch sehr. Normalerweise hat Misi keine Probleme, seine Partys mit lustigen Leuten zu füllen. Er meint, dass er vielleicht zu wenig Propaganda betrieben habe, aber Fakt ist auch, dass heute irgendwo eine (spätnachmittagliche) Grillparty irgendwelcher Gasteltern stattfindet, zu der eine Menge der von uns eingeladenen Leute wohl gegangen ist. Ein Anruf bestätigt, dass das Grillen am Ausklingen und die Truppe am rüberrollen sei. Die Leute tröpfeln dann irgendwie so einer nach dem anderen herein; der Endstand sind Chris, Valérie, Irena, Arpi, Izham, Baqr, Eve, Glenn, Mélanie, Kazu, Jû, KiJong, und natürlich Misi, Melanie und meine Wenigkeit.
Meiner Meinung nach leiden wir an einem eklatanten Mangel an Japanern, Koreanern und Chinesen. Ich habe nicht wenige eingeladen, aber so läuft das halt, wenn ich solche Ereignisse ansage. Es mangelt mir offenbar an „einladendem Charisma“. Ich scheine eher einen „Furchtkreis“ um mich zu haben, wie der seit Jahren „untergetauchte“ Studienkollege Sascha „Dödel“ einmal scherzhaft bemerkte. Aber warum bloß sind so wenige der Koreanerinnen gekommen, die die Ansage dieser Party doch letzte Woche live mitbekommen haben dürften? Nachdem Misi den Termin „Freitag“ (also gestern) in den Raum gestellt hatte, sagte eine der Damen, dass sie da keine Zeit habe, also wurde der Vorschlag „Samstag“ (das ist heute) gemacht. Offenbar kam das nicht mehr bei allen an, da viele bereits im Gehen begriffen waren. Bei SangSu ging die Party ja noch eine Weile weiter und eigentlich dachte ich, die Zeit sei zur weiteren „Sondierung“ des Vorschlags genutzt worden. Leider war dem nicht so. Die Koreaner, mit Ausnahme von Jû und KiJong offenbar, wussten durch die Bank nichts von dem heutigen Termin. SangSu dachte, sie sei bereits gestern gewesen und SongMin sowie SungYi lagen um die (jetzige) Zeit, 21:30, bereits in den Federn und sahen sich nicht motiviert, daran noch etwas zu ändern.
Dennoch ist der Raum brechend voll. Zum Teil sitzen auch immer wieder mal zwei oder drei Leute in der Küche, um der Enge des Hauptraums zu entfliehen. Immerhin waren wir in der Lage, die Funktionsweise der Klimaanlage auszutüfteln – und das gelang nur, weil Valérie wusste, dass man dafür eine Fernbedienung braucht (von der Misi nichts wusste), die Glenn dann aus ihrem (gleich ausgestatteten) Apartment besorgte, und schon war die Atmosphäre viel angenehmer.
Ich habe Arpi bereits eine längere Zeit nicht mehr im Center gesehen, also dachte ich, dass er bereits wieder in die Heimat abgereist sei. Seine Frau in Ungarn war schließlich nicht sehr angetan davon, dass ihr Mann direkt nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes für längere Zeit auf die andere Seite der Welt entschwand. Er sagt, dass er sehr mit seiner Forschung beschäftigt sei und ständig zwischen dem Uniklinikum Hirosaki und einer Klinik in Aomori hin und her pendele. Er werde auch nicht länger als unbedingt notwendig hierbleiben. Sein Traum sei eine Forschungsbeteiligung in Heidelberg, wohin ihm seine Frau auch zu folgen bereit wäre. Aber er schwärmt nicht nur wegen der familiären Umstände für Heidelberg und lobt die dortige Universität für ihre Leistungsfähigkeit im medizinischen Bereich. Er erzählt mir auf Anfrage auch ein paar Dinge über Gehirnchirurgie (er hat als Jugendlicher das Spiel „Life and Death – The Brain“ gespielt, was ich doch irgendwie lustig finde) und ich frage ihn, ob er vielleicht ein paar Bilder habe. Oh ja, sagt er, nichts leichter als das. Er habe die Dokumentation einer ganzen Operation auf seiner Festplatte. Wenn ich ihm eine E-Mail zusende, könne er mich mit einer ganzen Reihe „herrlicher Horrorbilder“ versorgen. Das lasse ich mir dann doch nicht entgehen. Das könnte das Bild von der Entfernung eines Hautkrebstumors, das ich von Dr. „Dragon“ Chen erhalten habe, noch toppen.
Ich frage Izham, wie es bei ihm eigentlich mit dem Thema Alkohol aussehe. Er sei zwar Moslem, aber nicht sonderlich religiös, erzählt er, aber er trinke auch aus persönlichen Gründen keinen Alkohol.
Misi erzählt von einem Besuch bei der Gastfamilie von Chris, wo er die japanische Unsitte des „Kabuto Mushi“ kennen lernen „durfte“. Ich wage hier tatsächlich den überheblichen Begriff „Unsitte“, weil es hierbei um ein Brauchtum jenseits der Grenze meiner kulturellen Toleranz geht, und man kann mir hoffentlich nicht vorwerfen, dass mein kultureller Horizont zu eng sei.
Bei „Kabuto Mushi“ handelt es sich um große Hirsch- oder Hornkäfer, bzw. um das Sammeln derselben. Dieses „Hobby“ ist so beliebt, dass es sogar Videospiele dazu gibt, deren Bedeutung ich erst jetzt zu erfassen in der Lage bin.[1] In den Videospielen lässt man die Käfer gegeneinander kämpfen, aber „Kabuto Mushi“ ist wohl die (kampflose) Grundlage. Die Käfer sind zum Teil so groß wie eine kleine Kinderfaust, und das Sammeln ist an sich nicht weiter seltsam, weil es überall auf der Welt Insektensammler gibt. Woanders als in Japan tötet man die Käfer jedoch, spießt sie dann auf und bewundert sie konserviert in einem Glaskasten.
In Japan dagegen kauft man sie lebend, nicht selten für 20000 Yen (ca. 150 E) das Stück, packt sie in eine durchsichtige Plastikbox und findet sie ganz toll, bis sie nach etwa einem Monat an Wasser- und Nahrungsmangel, Pilzkrankheiten und Insektenbefall langsam und allmählich verreckt sind. Sie bekommen keine Nahrung und kein Wasser, und im Laufe der Zeit beginnen sie, bei lebendigem Leibe zu verfaulen. Ihre Flügel fallen ab, ebenso verlieren sie ihren Außenpanzer, und man kann ihren inneren Leib pulsieren sehen, während Fliegen ihre Eier auf ihnen ablegen und sowohl die Maden als auch die Fliegen sich von den verrottenden Körpern ernähren.
Bei aller Liebe, das ist mit Abstand das Grausamste, was mir in den letzten Monaten zu Ohren gekommen ist.
Etwa um Mitternacht verlassen Melanie und ich, mehr oder minder zufällig zeitgleich mit Kazu, die Party wieder, nachdem Melanie eigentlich die halbe Zeit nur noch mit starrem Blick in der Ecke gesessen hatte. Ich glaube, sie braucht Schlaf. Lange Konversationen in englischer Sprache sind sehr Kraft raubend, wenn man es nicht gewohnt ist.
[1] Pokemon ist das wohl berühmteste dieser Spiele, die auf Kabuto Mushi zurückgehen