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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

23. November 2006

Querdenkerei

Filed under: Japan — 42317 @ 12:57

Viele Dinge sind oft nicht so, wie sie scheinen oder dargestellt werden. Das weiß natürlich jeder, aber es gibt da zwei kleine, deutsch-japanische Dinge, wo ich es auffällig fand.

Da wäre zum ersten das entgegengesetzte Reformdenken, was Schulen betrifft. Wir haben es alle gemerkt: An deutschen Schulen hat sich der Unterricht in den Nachmittag hinein verlagert, wo vor langer, langer Zeit noch um 13:00 Uhr Feierabend war. Das Gespenst der Ganztagsschule schwebte durch den Klassenraum und die Damen und Herren Schüler fürchteten sich.
Dabei ist der Grundgedanke ein ganz vernünftiger. Unter sinnvoller Anleitung ist der Schüler beschäftigt und langweilt sich nicht. Wir wissen auch alle: Wer sich langweilt, macht irgendwelchen Unsinn, und wenn es nur unproduktive Dinge wie das Betrachten von Talkshows im Fernsehen sind. Da kam wohl jemand auf den Gedanken, dass man als Schüler hierzulande mehr Zeit hat, als einem gut tut. Mit dem jahrelangen Abstand, den ich gewonnen habe, finde ich das auch recht zutreffend.

Japan wurde als Gegenbeispiel betrachtet. Vielleicht dachte man, dass andere Systeme nicht die beste Alternative seien. Also Japan. Den ganzen Tag Schule, die Kinder unter Aufsicht, da herrscht Dsziplin; und dann diese traumhaft niedrige Drogen- und Kriminalitätsrate in Japan… offenbar sahen Franzosen und Briten im Vergleich da arm aus. (Aber natürlich ist das nur meine derzeitige Interpretation.) Ganztagsunterricht ist allerdings auch in Japan nicht auf die Art die Regel, wie sich das so mancher im Positiven oder im Negativen denkt. Der Nachmittag gehört nämlich den Clubs, in die man in hübscher Regelmäßigkeit mit sanftem sozialem Druck hineingebeten wird. Den Elite-Matheleistungskurs für die Prüfung an der Tôdai muss man sich also nicht um drei Uhr nachmittags denken. (Den haben Elite-Tôdai-Möchtegerns am Abend auf freiwilliger Basis in einer der vielen Nachhilfeschulen.)

Egal – auf der anderen Seite der Welt fasste man einen komplett entgegengesetzten Gedanken: Das Gespenst der Zwangsjackengesellschaft schwebte durch die Räumlichkeiten des Bildungsministeriums und sogar die höheren Beamten fürchteten sich. Vor der Presse. Wir haben es nicht zuletzt der japanischen Berichterstattung zu verdanken, dass in aller Welt der Eindruck entsteht, dass sich jeden Tag eine Handvoll japanischer Schüler wegen Leistungsdrucks, Hänseleien, Mobbing und Unterdrückung durch Mitschüler (jap.: Ijime) an einen Baum hängen. Minako zeigt mir erst letztlich einen Zeitungsbericht, in dem der Brief einer Schülerin (an das Bildungsministerium) abgedruckt war, in dem sie (aus oben genannten Gründen) ihren Selbstmord ankündigte. Offenbar nur ein Brief einer ganzen Reihe – siehe dazu www.japantimes.co.jp (in englischer Sprache, kostenlose Anmeldung erforderlich) am 08. November, am 11. November und am 22. November 2006.

Wie dem auch sei, drüben dachte man sich ebenfalls, dass die bestehenden Umstände die falschen seien und sah sich nach Alternativen um. Deutschland wurde als Gegenbeispiel betrachtet. Gut, vielleicht nicht direkt Deutschland, aber man fasste den Plan, den Schülern mehr Freizeit zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu geben und kürzte die Lehrpläne.
Was tut der japanische Schüler zur Entfaltung seiner Persönlichkeit? Dazu fehlen mir Informationen. Aus eigener Erfahrung weiß ich jedenfalls, dass der Nachmittag immer noch für Clubaktivitäten genutzt wird (ich habe das Schulorchester immer noch im Ohr, wie es den “March of the US Marine Corps” spielt… “From the halls of Montezuma to the shores of Tripolis…”), und dass die Berichte von Selbstmorden wegen des Ijime-Problems nicht abreißen. Das heißt wohl, dass die Frustrate immer noch recht hoch sein muss. Meiner Erfahrung nach tritt man auch nur dann Mitschülern ins Kreuz, wenn man mit dem eigenen Status Quo nicht im Reinen ist und deshalb Dampf ablassen muss.

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