Samstag, 28.08.2004 – Ans Meer! Ans Meer! („Go West“ Version)
Das Wetter ist prächtig heute. Die Sonne scheint, ein paar Wolken, und es ist nicht übermäßig warm. Ich setze mich gegen Mittag auf mein Fahrrad, mit dem Plan, heute nach Goshokawahara zu fahren (das der Einfachheit halber aber tatsächlich, entgegen der Kanjischreibung, offiziell „Goshogawara“ genannt wird). Der Ort ist wegen seines Neputa berühmt, also warum sollte ich nicht die knapp 25 km dorthin fahren?
Wie es meine fragwürdige Spontaneität aber will, biege ich vorher nach links ab, weil ich plötzlich den stärkeren Drang verspüre, vom Berg Iwaki auch mal ein Bild zu machen, das nicht von Südosten her aufgenommen wurde, sondern vielleicht auch mal ein Bild von Norden her. Ich fahre also weiter in westlicher Richtung. Als erstes löst sich dabei das Problem meines rechten Schnürsenkels. Der ist nämlich, entgegen meiner Hoffnung, bereits vor über einer Woche gerissen, und es scheint in Japan ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, Schnürsenkel zu bekommen, die 180 cm lang sind. Das Problem löst sich, zumindest provisorisch, dadurch, dass ich einen weggeworfenen Turnschuh am Straßenrand finde. Ich nehme den Schnürsenkel heraus und fädele ihn so an meinen rechten Stiefel, dass der mir immerhin nicht mehr vom Fuß fallen kann und auch nicht mehr so locker sitzt.
Ich fahre eine Weile später auf einer Brücke an einer ebenfalls radfahrenden Schülerin vorbei und frage sie, wo denn das Meer sei. Sie muss darüber sehr erschrocken und/oder verwirrt gewesen sein, weil sie sagt, sie habe keine Ahnung. Das kann ich ja kaum glauben. Vor allem dauert es danach nur noch ein paar Minuten, bis ich an einem Schild vorbeikomme, auf dem zu lesen ist „Ajigasawa 14 km“. Nur 14 km bis zum Strand? Das ist ja lächerlich, da komme ich ja bequem in einer Stunde hin. Also trete ich in die Pedale, bringe den einzigen ernstzunehmenden Berg mit Hilfe eines Getränkeautomaten hinter mich und fahre dann bis zum Strand quasi nur bergab. Und beinahe wäre ich daran vorbeigefahren.
Ich frage mich, wo hier der Bereich ist, der bis zum 19. August als Badestrand geöffnet war. Der Abschnitt, den ich hier sehe, ist voller Müll, der aus dem Meer angespült oder aber von Besuchern weggeworfen worden ist. In erster Linie Plastikzeug, Tüten und Flaschen. Ich möchte hier lieber nicht baden. Ein einsamer Surfer verbringt hier gerade seine Zeit, ansonsten nur Angler am nahen Kai. Aber mit Surfen ist hier nicht viel, dafür sind die Wellen viel zu klein. Das Wasser scheint nur sehr langsam tiefer zu werden, weil eben jener Surfer noch 20 Meter weit draußen nur bis zur Hüfte im Wasser steht. In Tanesashi funktioniert das nicht. Fünf Meter vom Strand weg ist das Wasser bereits zwei Meter tief.
Ich drehe eine Runde an den Anglern vorbei und fahre zu einem kleinen Laden für Angelbedarf. Dort lasse ich mir eine kleine Plastiktüte geben. Da ich mit einem ganz anderen Fahrziel aufgebrochen war, habe ich keine mitgenommen, aber wenn ich schon mal da bin, kann ich auch eine Handvoll Sand mitnehmen. Ich hänge die Tüte an meinen Lenker, weil in meinen Beintaschen kein Platz ist und ich außerdem fürchten muss, dass mein Schlüsselbund wegen der ständigen Bewegung ein Loch in die Tüte reißt. Das bisschen Sand ist auch nicht schwer genug, um das Lenkverhalten des Rades zu beeinträchtigen.
Um kurz vor Drei mache ich mich auf den Rückweg. Um meiner Gewohnheit zu folgen, nehme ich auf dem Rückweg eine andere Route als auf dem Weg hin. Der Anfahrtsweg war, den Straßenschildern nach zu rechnen, knapp 40 km lang. Auf dem Schild, dass ich gerade sehe, 150 Meter vom Meer weg, steht, dass es nach Hirosaki auf diesem Weg nur 33 km seien. Also los.
Was ich dabei nicht bedacht habe, ist, dass diese Route weiter südlich verläuft. „Weiter südlich“ ist hier vor Ort gleichzusetzen mit „näher am Berg Iwaki“, was wiederum bedeutet, dass dieser Weg durch die hügeligen Ausläufer des Wahrzeichens von Tsugaru führt. Anstatt also einen großen Hügel zu haben, muss ich in der Folgezeit gut ein Dutzend kleine und mittlere Anstiege bewältigen, die meine Getränkekosten in die Höhe treiben. Ich bin ohne Gepäck aufgebrochen und fahre quasi von einem Automaten zum nächsten.
Zwischendurch liefere ich mir ein ungleiches Rennen mit drei (Ober-?) Schülern, die sich a) für cool und b) für schnell halten. Sie sind aber weder das eine noch das andere und ich lasse sie mit Hilfe meiner Gangschaltung auch bald hinter mir. Was sie nicht daran hindert, mich noch fünf Kilometer weit zu „verfolgen“, so schnell sie können.
Schließlich sind es noch neun Kilometer bis Hirosaki und ich fühle mich, als würde ich bald vom Rad fallen. Aber dann taucht ein Lawson Konbini „am Horizont“ auf. Ich stelle mein Fahrrad vor dem Laden ab, wanke, fast geistesabwesend, hinein und kaufe mir eine 2-Liter Flasche Wasser. Ich wanke wieder hinaus und muss mir von dem Angestellten meine Mütze nachreichen lassen, die ich auf dem Tresen habe liegen lassen. Ich lasse mich neben dem Konbini auf dem Boden nieder und verwende den Zigarettenautomaten als Rückenlehne. Ist mir alles egal, bequemer habe ich seit heute Morgen nicht mehr gesessen. Rechts von mir vertilgt eine Gruppe Schülerinnen in uniformen Trainingsanzügen ihre Einkäufe, bevor sie ihre Fahrradhelme aufsetzen und davonradeln. Entweder gehören die Helme zur Uniform (weil sie alle gleich aussehen), oder es gibt nur ein einziges Design abgesehen von den Helmen für Radrennfahrer.
Kurz danach kommen drei Jungs (um die 10 oder 11 Jahre alt) aus dem Ort zum Laden herüber. Der erste winkt und ruft „Konnichiwa!“ Ich winke zurück und grüße ihn gleichlautend, was ihn schon mal irgendwie erstaunt. Sie gehen in den Laden und ich trinke derweil mein Wasser weiter. Dann kommen sie wieder raus. Der „Wortführer“ geht an mir vorbei und sagt „Kakkoii“. Ich frage ihn, was er meint, und er sagt, er meine mich. Oh, danke. Ich fühle mich aber gerade ein wenig schlapp. Die drei knien dann um mich herum. „Vielleicht solltest Du was essen“ meinen sie und einer hält mir etwas hin, worauf „Wasabinori“ geschrieben steht. „Da, schenke ich Dir. Ist aber scharf.“ Ist mir auch egal, ich bin für alles dankbar. Ich kaue das ganze Teil auf einmal, es kaut sich wie Plastik, und warte auf die Wirkung des Wasabi. Die setzt auch bald ein, ich verziehe das Gesicht ein wenig und bin glücklich. Ich sage, dass das gut sei, worauf er mir noch einen Streifen hinhält. Da ich den nicht auch noch umsonst will, biete ich ihm an, zu tauschen. Noch bevor „der Deal“ klar ist, bekomme ich von einem anderen der Jungs einen Streifen einer anderen Geschmacksrichtung zugesteckt. (Dieser zweite Wasabinori-Streifen liegt noch heute in meiner Vitrine.) Ich gebe jedem dann eine der Touristenmünzen aus Trier, diese Nachbildung einer römischen Münze aus dem ersten Jahrhundert AD. Ich habe welche von diesen Dingern als Mitbringsel mitgebracht, aber nicht alle „verbraucht“. Eine bessere Gelegenheit, den für mich wertlosen Krempel loszuwerden, gibt es nicht mehr. Ich erkläre ihnen, was es damit auf sich hat und dass es sich natürlich um eine Fälschung handelt, aber die drei sind ganz begeistert davon. Sie setzen sich dann auf ihre Fahrräder, winken und fahren davon. Ich sehe, es war doch eine gute Idee, den schwereren Pfad zu wählen (auch wenn ich vorher nicht wusste, dass er schwer sein würde).
Um etwa 17:00 fahre ich von dem Parkplatz wieder weg und strebe gen Hirosaki. Die Pause hat mir gutgetan, und die zwei Liter Wasser ebenfalls. Ich lande schließlich in einem Stadtbezirk in der Nähe des Parks, und wenn ich hier nicht letztlich ein Schreinfest besucht hätte, wüsste ich jetzt nicht auf Anhieb, wo ich entlangfahren muss, um in die Innenstadt zu gelangen. Um kurz nach halb Sechs komme ich dann wieder zuhause an. Mit dieser Tour dürfte ich in die Fußstapfen von Hans Erdmann getreten sein, der nicht nur zum Iwaki gefahren ist, sondern auch noch nach Süden, über die Berge, nach Odate (wo er allerdings wegen der spürbaren Erschöpfung lieber über Nacht blieb, wie man sich erzählt). Ich habe starke Bedenken, ob ich morgen früh in der Lage sein werde, aufzustehen, ohne jeden Beinmuskel einzeln zu spüren.
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