Samstag, 14.08.2004 – Auf, in die Ferne zieht es mich
Ich fasse den spontanen Plan, eine Radtour um den Stadtbereich von Hirosaki herum zu machen, also eine grobe Runde entgegen dem Uhrzeigersinn durch die Vororte, bis ich wieder da bin, wo ich losgefahren bin. Ich mache während kurzer Pausen ein paar Fotos von der Gegend und „entdecke“ dabei etwa südöstlich von meinem Standort einen kleinen Berg, der durch Wintersportschneisen arg verunstaltet aussieht. Trotzdem zieht es mich dorthin. Wirklich entdeckt habe ich den Berg natürlich weit früher, man kann ihn nämlich von meinem Balkon aus sehen. Aber ich habe bisher noch nicht den Drang verspürt, seinen Gipfel aus der Nähe zu sehen. Ich lasse also von meiner Rundfahrt ab und fahre 17 km nach Südosten, in den Ort Ôwani („Großes Krokodil“???), der sich durch seine Aufmachung und Selbstdarstellung auch gleich als Wintersportort zu erkennen gibt.
Ab dort geht es nur noch bergauf, also lasse ich mein Fahrrad unter einer Brücke, am Rande eines Parkplatzes, stehen und gehe zu Fuß weiter. Man findet hier Skipisten und –lifte, die sich gerade im Sommerschlaf befinden. Sogar eine Sprungschanze kann ich sehen – die meinen es offenbar ernst. Laut einem Hinweisschild haben die Asiatischen Winterspiele von 2003 hier stattgefunden.[1]
Ich setze mir in den Kopf, die Skipiste direkt vor mir hinaufzusteigen, und von unten sieht das auch ganz einfach aus. Ich beginne meinen Aufstieg, sehe mich aber nach zwei Dritteln der Strecke nicht nur einer immer senkrechter werdenden Steigung gegenüber, sondern auch noch einer immer dichter werdenden und übermannshohen Vegetation.
Im Zentrum wachsen zähe Ranken und Disteln, zum Rand hin immer mehr Schilf. Zudem ist der Boden trotz der Hitze wegen des starken Bewuchses feucht und glitschig, was die Steigung von weit mehr als 100 % noch verstärkt. Nach drei Vierteln geht es ohne Buschmesser nicht mehr weiter – und ich habe keines. Also, geistige Notiz: Beim nächsten Flug nach Japan – Buschmesser nicht vergessen. Der Schweiß fließt mir in Strömen vom Leib und brennt in den vielen Schnitten an meinen Armen, die ich mir an den Disteln und vor allem am Schilfgras geholt habe. Von den gleichzeitigen Auswirkungen des sich einstellenden Sonnenbrandes ganz zu schweigen. Ich gehe wieder in die erste Hälfte der Piste zurück und tue, was ich von Anfang an hätte tun sollen: Ich schlage den ausgeschilderten Pilgerpfad ein, den es hier seit Ende des 15. Jh. gibt.
Der Berg, man nennt ihn „Ajara-san“ („-san“ für „Berg“), wurde früher als heilig betrachtet und zog viele Pilger, die am Schrein auf dem Gipfel ein Gebet sprechen wollten, und auch Asketen an, die an seinen Hängen ihr Einsiedlerdasein fristeten. Von daher ist es eigentlich ein Hohn, dass man einen Touristenberg daraus gemacht hat – im Winter Skifahren, im Sommer Paragliding. Knapp ein Dutzend der Fallschirmsegler sind hier und es sind immer drei oder vier in der Luft. Das spricht meines Erachtens Bände über die Tiefe der Religiosität der Japaner (zumindest der dafür Verantwortlichen), die ja sonst an Festtagen in langen Schlangen vor den Tempeln und Schreinen ihren offensichtlich reichlich oberflächlichen Ausdruck findet. Der Pragmatismus hat gesiegt und man betet ja ohnehin lieber den Geldgott an (was natürlich keine spezifische Eigenschaft der Japaner ist).
Aber mal zum Nahwinkel zurück: Bis zur Spitze sind es laut offizieller Angabe nur etwa vier Kilometer – aber die ziehen sich wie Kaugummi. Der Pfad, den ich hinaufgehe, windet sich, sofern notwendig, in Serpentinen den Berg hinauf, und nicht Luftlinie, wie ich das von anderen Orten ja gewohnt bin. Es handelt sich dabei sogar um eine Abkürzung, wie mir ein Schild am ersten Rastplatz verrät. Der eigentliche Weg führt über den Westhang hinauf, aber der ist einige Kilometer länger. Der Ostpfad hier ist offenbar die schnellere Variante, für den Gläubigen mit wenig Zeit. Für die Pilger gab es ursprünglich drei Rastplätze, die jeweils an Quellen gelegen waren, die im Laufe der Zeit leider versiegt sind. Hinweisschilder und Sitzbänke erinnern daran. Lediglich an der dritten Rast befindet sich ein Wasserhahn, aus dem frisches, kühles Wasser kommt, aber dafür gibt es keine Sitzgelegenheit. Die Hälfte des Weges führt durch einen Nadelwald, liegt also im Schatten, und der Wald ist angenehm frei von Müll.
Auf dem ersten Kamm angekommen und aus dem Wald heraus, stelle ich fest, dass der Aufstieg an der Piste meinen linken Stiefel geschrottet hat! Unglaublich, aber wahr. An der Spitze befindet sich eine daumenbreite, offene Stelle an der Naht zwischen Sohle und Schuh. Da geht sie hin, meine Wasserdichte. Und wenn ich das richtig sehe, werden es die tollen Plastikschnürsenkel, die ich erst im Frühjahr für den rechten Schuh gekauft habe, auch nicht mehr lange machen. Hoffentlich halten sie, bis ich zuhause bin. Hier gibt es ja keine Schnürsenkel in der optimalen Größe, wie ich sie brauche. Auf jeden Fall brauchen alle meine vier Schuhe eine Generalüberholung, und soweit man mir mitgeteilt hat, gibt es in ganz Trier einen einzigen Schuhmacher, der die nötige Ausrüstung hat, den Kampfschuh BW wieder instand zu setzen. An den Gersheimer Schuhmacher brauche ich erst gar nicht zu denken… erstens sollte man ihm seinen Ruhestand gönnen, und zweitens hat er vor ein paar Jahren erst ein paar Stiefel von mir „repariert“, indem er die lose Sohle mit einer Portion Kleber wieder befestigt hat – sie ist nach einer Woche wieder abgefallen.
Ich kann den weiteren Weg vorerst über eine betonierte Straße fortsetzen. Ich lasse den Startplatz der Paraglider rechts von mir liegen und wende mich nach links, in Richtung des zweiten Kamms, auf dem ich ein größeres Gebäude sehen kann. Es handelt sich dabei um das Hotel „Aomori Royal“, das mit einem „Grillgarten“, einer Kapelle (für Hochzeiten im christlichen Stil) und einem Golfclub aufwarten kann. Hier oben, auf dem Kamm, befindet sich, ich traue meinen Augen kaum, ein geräumiger Golfplatz, und der ist gut besucht.
Um zum Gipfel zu kommen, muss man (über die Rollbahnen der Golfwagen) quer über den Golfplatz gehen, und das Schild „Achten Sie auf fliegende Golfbälle!“ trägt da nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Also, zweite geistige Notiz: Beim nächsten Flug nach Japan – Buschmesser und Stahlhelm nicht vergessen. Immerhin scheint man eine Vorwarnzeit von zwei Sekunden zu haben – die Bälle machen leise pfeifende Geräusche im Flug, ähnlich wie Mörsergranaten. Nein, ich finde den Vergleich ganz und gar nicht unpassend oder zu übertrieben, denn das einzige, was einen Golfball von einer solchen Granate unterscheidet, ist, dass er mir keine Körperteile wegreißt, nachdem er vor mir auf dem Boden aufgeschlagen ist. Golfbälle bleiben halt an einem Stück, aber ich spüre auch keine große Motivation, das Härteverhältnis von einem „Ranger 7“ zu meinem Schädel zu testen. Ich verlasse die Einschlagzone lieber und gehe über eher ungepflegte Pfade neben dem Gelände weiter. Eine halbe Stunde später ist es dann soweit – ich habe den Gipfel erreicht und dieser hier hat einen Schrein.
Sehr schöner Platz hier oben. Am Ostrand des Geländes hat sich auch bereits eine Familie niedergelassen, die sehr verwirrt erscheint, jemanden hier zu sehen, der offenbar zu Fuß den Berg hochgekommen ist. Knapp unterhalb des Schreingeländes befindet sich nämlich eine Gondelstation. Man kann vom Fuß des Berges bis zur Spitze auf über 700 m Höhe hochfahren. Einer Laune folgend nehme ich mir ein „o-Mikuji“ aus der bereitgestellten Schale und spende dem Schrein dafür 100 Yen. Auf dem Papierzettel befindet sich zunächst einmal ein Haiku, dessen Informationsgehalt mir allerdings verborgen bleibt, weil ich die Wortzusammenstellung nicht verstehe. Darunter befindet sich die reichlich buddhistisch klingende Weissagung, dass mir nach allen schmerzhaften Schicksalsprüfungen der kommenden Zeit zehn Tage Glück ins Haus stünden.
Ich bleibe noch fünf Minuten im Schatten eines Baumes sitzen, dann gehe ich zur Seilbahnstation und setze mich in den „Panoramaraum“. Das Panorama wäre auch wirklich umwerfend, wenn einem da nicht der Stahlbetonpfosten der Seilbahn im Weg wäre! Er befindet sich genau in der Mitte vom „Bild“. Abgesehen davon kann man weit in die Tsugaru Ebene hineinsehen. Links im Blickfeld erkennt man gleich den Berg Iwaki, rechts am nördlichen Horizont kann man sogar das Gebiet um den Berg Hakkôda sehen. Ich gebe mir Mühe, um den Pfosten herum zu fotografieren. Nach draußen zu gehen und mich vor den Pfosten zu stellen, bringt ja auch nichts, weil ja ein paar Meter weiter bereits der nächste steht, und der hängt dann genau mit seinem „Geweih“ im Bild.
Ich steige den Berg schließlich wieder hinunter und finde am Rand des Golfplatzes einen Golfball. Meiner Sammelleidenschaft folgend nehme ich ihn mit. Ich habe immer noch über 40 andere zuhause herumliegen und habe eigentlich keine Ahnung, was ich damit machen soll. Man kann sie wohl kaum bei E-Bay verkaufen mit dem Vermerk, dass sie aus Japan stammen.
Der Abstieg geht natürlich deutlich schneller vonstatten als der Aufstieg, und bald sitze ich wieder auf meinem Fahrrad. Mein Magen macht deutliche Geräusche und verlangt nach etwas Füllung. Ich fahre also in den Max Valu Supermarkt im Ort und kaufe mir einer Laune folgend drei Würstchen, das Stück für 48 Yen. Sie sind gefroren, aber man kann sie in der Mikrowelle im Markt ja warm machen. Die Würstchen sind überraschend gut, vor allem die scharfe Sorte. Normalerweise muss ich von Würstchen in Japan eher abraten. Vielleicht habe ich ja Glück und finde die gleichen im Max Valu in Hirosaki.
Dann beginnt der Rückweg, noch einmal 17 km in der sengenden Sonne, diesmal über die Bundesstraße. Was hat mich bloß auf diese Idee gebracht? Dieser Weg ist nämlich länger, weil ich erst wieder durch halb Hirosaki fahren muss, um nach Nakano zu kommen. Kurz vor Sonnenuntergang bin ich dann wieder zuhause – und die nächste Reise kommt gleich morgen.
[1] JP und Konsorten waren als freiwillige Helfer dabei.
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