Freitag, 23.07.2004 – Sie waren sieben…
Da mein Referat für heute bereits fertig ist, verbringe ich meine Zeit im Center mit der „Pflege“ meines Postfachs. Ab 12:30 können wir dann für das „Reisseminar“ unsere Handouts kopieren und um 12:40 mit den Kurzvorträgen loslegen. Da wie üblich keiner der erste sein will, mache ich den Vorschlag, ganz einfach ganz links oder ganz rechts anzufangen und die Reihe durchzugehen. Melanie sitzt ganz links und beginnt. Ihre Schwierigkeiten bei der Aussprache des englischen Begriffs „Subsidies“ konnten im Vorhinein zwar nicht gelöst werden, aber dennoch ist es ein solider Vortrag für die Leistungsebene, in der wir uns in diesem Seminar bewegen.
Dann bin ich dran und rede nicht über Reis im Sinne eines Nahrungsmittels, sondern über „Rice“ als Begriff im amerikanischen Englisch und was man daraus machen kann. Schon mal den Begriff „Riced Car“ gehört? Ich auch nicht. Auf Deutsch würde man wohl sagten „Aufgemotzte Karre“, ein Auto mit vielen optischen Extras, die einen aggressiven, sportlichen Look ausmachen sollen. „Spanish Rice“ wäre das genaue Gegenteil – eine alte Schrottkiste, die in Deutschland nie über den TUV käme, aber in den USA in ärmeren Gebieten anzutreffen ist, oft gefahren von Leuten lateinamerikanischer Herkunft, die sich nichts Besseres leisten können. Ich erreiche den gewünschten Unterhaltungseffekt und bleibe von Fragen verschont.
Die übrigen Vorträge halten sich in einem vernünftigen und ernsthaften Rahmen. Interessant fand ich auf jeden Fall, dass die thailändische Version von „Hallo, wie geht’s?“ auf „Heute schon Reis gegessen?“ lautet. Aber angeblich sagt man in Osaka unter Geschäftsleuten ja auch „Heute schon Geld verdient?“
Ogasawara-sensei hat zum Semesterende den Plan gefasst, einen Film vorzuführen. Natürlich nicht, ohne vorher den Unterrichtsstoff zu Ende zu behandeln, was angesichts der Restzeit ihr Vorhaben reichlich obsolet erscheinen lässt. Sie hat „Shall we dance?“ ausgesucht. Es handelt sich dabei um einen Tanzfilm der japanischen Art und ich möchte betonen, dass es sich dabei um ein japanisches Original handelt – der Film mit Richard Geere ist die Kopie. Ein (verheirateter) Geschäftsmann sieht aus seiner S-Bahn heraus eine melancholisch und geheimnisvoll anmutende Frau am Fenster einer Tanzschule stehen und nimmt fortan Tanzunterricht – mit sehr zaghaften und lustigen, wenn auch klischeehaften, Anfängen. Es sind ein paar bekannte Gesichter in dem Film zu sehen, aber erst Takenaka Naoto macht die Angelegenheit so richtig interessant. Könnte die beste Rolle sein, in der ich ihn seit langem (ähem, im Laufe des vergangenen Jahres…) gesehen habe. Aber die Zeit ist leider knapp, wie ich bereits angedeutet habe, und wir bekommen vielleicht etwas mehr als eine halbe Stunde zu sehen, bevor die Unterrichtszeit um ist. Ich bleibe noch ein paar Minuten länger, muss dann aber auch gehen, weil ich erstens noch in mein Postfach sehen möchte und zweitens habe ich heute eine größere Verabredung.
Ich habe bereits letzten Monat für heute ein Tabehôdai im MooMoo angekündigt und warte ab 17:00 dort vor der Tür voller Spannung, wer letztendlich denn wohl kommt. Und in dieser Situation, während ich noch mit meiner Post zu Gange bin, eröffnet mir Valérie, dass in der Nähe der Shimoda Heights I (also dort, wo sie und Irena und Misi wohnen) eine Grillparty stattfinde, wo sich auch eine größere Anzahl der Studenten einfinden werde. Ah, deshalb ist die Zahl der Zusagen mal wieder so gering. Aber vielleicht war die Ankündigungszeit auch zu lang, und außerdem bin ich nicht der geborene Propagandist. Valérie und Misi z.B. pflegen ja viel engere Kontakte zu Austauschstudenten als ich, und von daher könnte meine Ansage schlicht vergessen worden sein. Ach, was soll’s, ich stelle mich einfach mal da hin und warte, wer kommt, und wenn es zu wenige sind (weniger als fünf Personen), dann können wir ja immer noch zur Party gehen.
Schließlich kommen dann Mei, BiRei, Yukiyo, SangSu, Shin und Melanie. Wir sind also zu siebt… eine direkt schicksalhaft anmutende Zahl. Wir beschließen, dennoch zum Yakiniku-Tabehôdai zu gehen und auf die anderen zu pfeifen. Dann stopfen wir uns eben im kleinen Rahmen voll. Shin quengelt zwar, dass keiner der anderen Chinesen da ist, mit denen er sonst immer Kontakt pflegt (ob ihm überhaupt klar ist, dass Mei und BiRei ebenfalls chinesische Staatsbürger sind, weiß ich nicht), aber ich überrede ihn, sich uns dennoch anzuschließen. Er soll ja essen, nicht reden. Der Laden ist weitgehend leer, wie um diese frühe Zeit zu erwarten, bis auf eine Fünfergruppe Schülerinnen, die während unserer Wartezeit bereits hineingegangen war. Wir haben also freie Tischauswahl. Einer natürlichen Regung folgend, suche ich einen Tisch mit Stühlen aus.
Der Spaß geht bereits bei der Getränkeauswahl los. Wir werden uns schnell einig, 200 Yen draufzulegen und ein Softdrink-Nomihôdai einzuschließen – wenn auch nicht einstimmig. Shin weiß entweder nicht, was er will, oder er leidet an mangelnder Kommunikationsfähigkeit. Zuerst fasst er ein alkoholisches Nomihôdai ins Auge, aber das würde seinen Preis auf 3300 Yen hochschrauben, und das ist wohl etwas viel. Dann fragt er nach Bier, und der Kellner, dessen wachsenden Verwirrungsgrad man deutlich erkennen kann, legt ihm Preise und Mengen dar. „Das ist aber teuer!“ bemerkt Shin frei raus, und ich muss mich beherrschen, wegen dieser Unverfrorenheit nicht laut zu lachen. Als er dann zwischen warmem und kaltem Sake schwankt, helfe ich seiner Entscheidung nach und ermuntere ihn, kalten Sake zu trinken, weil das Wetter so heiß ist. Nachdem das geschafft ist, packe ich mir zwei große Tabletts voll mit Fleisch und wir fangen mit dem Essen an.
Ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet ich auf solche Methoden zurückgreifen würde, aber da Shin die ganze Zeit still vor sich hin isst, muss ich ihm die eine oder andere Frage stellen, weil ich glaube, dass er sich sonst ausgeschlossen vorkommt. Er befindet sich hier unter lauter jungen Leuten, von denen ich zwar der älteste bin – aber ich bin immer noch mehr als 15 Jahre jünger als er. Zu meinem Glück springt auch Yukiyo auf diesen Zug auf und ich muss ihn nicht mehr alleine bearbeiten. So bekommen wir heraus, dass er 43 Jahre alt und seit 14 Jahren verheiratet ist, und einen Sohn von 13 Jahren hat. Dass er in Pharmazie promoviert hat, wusste ich immerhin schon. Seine Frau jedenfalls ist Ärztin und befindet sich ebenfalls in Hirosaki, während der Sohn in China bei den Großeltern lebt. Seine Frau ist auch der Grund, warum er die ganze Zeit über im Kaikan wohnen kann. Normalsterbliche Studenten dürfen da nur ein Jahr bleiben (auch Marc bereitet sich auf seinen Auszug vor), aber verheiratete Paare genießen Sonderregelungen. Er ist bereits seit drei Jahren hier und wird wohl noch zwei Jahre bleiben. Außerdem ist rasch zu bemerken, dass er gar kein Fleisch isst, sondern ausschließlich Fisch und andere Meeresfrüchte. Ja, er mache das mit Absicht, er möge kein Fleisch. Ich bin verdutzt und muss mir die Frage stellen, warum er trotz der geringen Auswahl an Meeresfrüchten einer Einladung in ein solches Restaurant folgt, zu einem „Yakiniku Tabehôdai“ – einem „So viel Sie an Grillfleisch in sich reinstopfen können, bevor Sie platzen“ Essen.
Um etwa 19:00 sind wir dann wieder einmal pappsatt. Ich habe drei Tabletts mit Fleisch und eine große Portion Nachspeise verschlungen. Ich werde solche Gelegenheiten in Deutschland wirklich vermissen, wo es leider keine Restaurants gibt, die auf diese Art von Essvergnügen ausgelegt sind. „All you can eat“ gibt es bei uns bestenfalls mal als seltenes Sonderangebot, und die letzten beiden, die ich in den vergangenen 15 Jahren gesehen habe, konnte man im Pizza Hut bestellen – da würde ich wirklich nur essen, wenn man mich einlädt, und auch dann nur ungern. Die Pizza schmeckt nach Seife, weil den Leuten öfters das Gewürzfass mit dem Oregano ausrutscht, und die Portionen sind so klein, dass es sich vom Preis her gar nicht lohnt, dort zu essen.
Wir machen ein paar Erinnerungsfotos und es wird mir bewusster denn je, dass all das bald nichts anderes mehr als Erinnerung sein wird. Volker hat mich vor meiner Abreise nach Japan gefragt, ob mir die letzten Tage in Deutschland nicht irgendwie „unwirklich“ vorkämen. Nein, so kamen sie mir in Deutschland auf jeden Fall nicht vor. Dieses Gefühl befällt mich jetzt. Als ob ich abgesetzt von meinem Körper das Geschehen wie im Fernsehen beobachten würde. Oder als ob ich träumte und mir im selben Moment bewusst wäre, dass der Wecker gleich klingeln müsse. Das trifft es wahrscheinlich am ehesten. Ich fürchte, dass Sebastian Recht haben und ich Japan mehr vermissen könnte, als Deutschland. Aber auch die Zeit vom Oktober 2003 bis zum August 2004 wird niemals den Sommer 1997 toppen können – und den habe ich ganz eindeutig in Deutschland verbracht. Ich betrachte meinen Japanaufenthalt also als die zweitbeste Zeit in meinem bisherigen Leben.
Zwischendurch hat sich der Laden weitgehend gefüllt, sogar der Ersatzraum weiter hinten scheint benutzt zu sein. Rechts hinten neben meiner Position befindet sich eine Gruppe junger Frauen (oder sagen wir besser „Mädchen“), deren Klamotten so „hip“ sind, dass ich davon gleich Augenbluten bekomme, wenn noch einmal eine durch mein Sichtfeld geht. Gleichzeitig sind sie auch so lebendig (sprich: „laut“), dass der ältere Herr am Tisch gegenüber offenbar Ohrenbluten zu bekommen droht und sich dieselben auch mehrfach zuhält. Schließlich gibt er entnervt auf und verlässt das Lokal. Ich fühle mich wenig gestört, da unsere „Nachbarinnen“ für mich nur eine Geräuschkulisse im Hintergrund sind, die ich kaum bewusst wahrnehme.
Um halb Acht bezahlen und gehen wir dann. Wir spalten die Rechnung nach gleichen Teilen auf. Ich zahle alles, um den Geschäftsablauf zu beschleunigen und sammele dann von jedem 1800 Yen ein. Shin gibt mir das Geld und macht dann das, was man wohl einen „französischen Abgang“ nennt – er verschwindet einfach. Draußen sehe ich ihn gerade noch mit seinem Fahrrad um die Ecke biegen. Ich hab’s versucht, aber wenn er nicht will…
Wir übrigen trennen uns an der Tür, bis auf Yukiyo und SangSu, die uns noch auf den Campus begleiten, weil Melanie ja ein neues Fahrrad braucht. Wir trennen uns erst am Physikgebäude, wo Yukiyo in Richtung Nishihiro abbiegt und SangSu schon mal nach Hause fährt, weil er ja keinen Grund hat, auf uns zu warten.
Wir nehmen ein Rad aus dem völlig überwucherten Abstellplatz, prüfen, ob die Technik herhält, was sie herhalten soll, schrauben das Schloss ab und pumpen am „Cycland“ neue Luft in die Reifen. Dort steht immer noch nachts ein Eimer aus, in dem zwei Luftpumpen stehen, und immer noch ist eine davon kaputt. Offenbar hat das noch keiner dem Besitzer mitgeteilt, aber ich habe auch wenig Interesse, das zu tun, weil ja eine Pumpe funktioniert und mehr brauche ich auch nicht.
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