Mittwoch, 21.07.2004 – Einführung in „Neputa“
Ich halte bei Kondô-sensei heute ein weiteres Referat, diesmal über die Zinspolitik der US Reservebank und deren Folgen für die wegen der anhaltend niedrigen Zinsen völlig überschuldeten Amerikaner. Simultan gibt es dazu einen Artikel aus der New York Times über Insiderverkäufe von Aktien. „Wo glauben sie liegt der Zusammenhang zwischen den beiden Texten?“ fragt Kondô. Ich habe keine Ahnung. Der Zusammenhang bestehe darin, erklärt er, dass man als Großanleger Aktien verkaufe, wenn die Zinsen steigen und in andere Dinge investiere, weil sich der Gewinn dann nicht mehr maximieren lasse. Wie dem auch sei, mein Bezug zum Thema hält sich etwa am Nullpunkt.
Hugossons Unterricht im Anschluss… findet nicht statt. Ich setze mich stattdessen ins Center, schreibe Post und helfe KiJong ein bisschen beim Schreiben ihres eigenen Berichtes für ein Thema von Hugosson. Der lässt sich aber noch selbst sehen und mahnt mich zur Abgabe meiner beiden fälligen Berichte, über die Umwelt-NPO an der Uni und über den Besuch bei Harappa. Mein Tagebuch erfüllt hier den praktischen Zweck einer Gedächtnisstütze, da ich nach so langer Zeit überhaupt nicht mehr recht weiß, was da im Einzelnen gelaufen ist. Schlecht ist, dass es den Einträgen der vergangenen Wochen etwas an Detailqualität mangelt, weil ich mit dem Schreiben ständig hinterherhänge. Es ist so warm, dass ich eigentlich nur in der Gegend herumliegen möchte, ohne mich bewegen zu müssen. Das Center verfügt immerhin über eine effektive Klimaanlage.
Zwischendurch fahre ich in die Stadt zu dem gefundenen Spieleladen und hole „Command & Conquer“ ab.[1]
Im Center zurück erinnert mich Jû daran, dass wir heute eine Verabredung mit Kazu haben. Offenbar hat sie für das Neputa ihrer Oberschule kräftig die Werbetrommel gerührt.
Um exakt 19:00 stehe ich dann also vor dem Kaufhaus Nakasan und warte… ich bin der einzige, der am Treffpunkt steht. Aber irgendwann kommt Baqr an und meldet, dass Kazu sich verspäten werde. Um 19:25 sind dann wohl alle da, die kommen sollten oder wollten. Baqr, Kazu (mit einer Freundin), Jû, Irena, Valérie, Chris (und ein Freund aus Chile, der zu Besuch hier ist), Melanie und ich. Bis zum Nachmittag dachte ich noch, dass es sich um eine Art Schulfest mit Neputa-Thematik handele, aber es handelt sich in der Tat um einen ganzen Umzug – wenn auch im kleinen Maßstab, weil ja nur eine Schule beteiligt ist. Jede Gruppe schiebt und zieht einen Wagen, auf dem wilde Krieger, Dämonen und geheimnisvolle Damen abgebildet sind. Zum Teil handelt es bei den Lampenschirmen (also um Metallgeflechte, die mit Wachspapier bespannt sind) um dreidimensionale Figuren, zum Teil sind es einfachere Konstruktionen in grober Halbkreisform, auf denen recht blutrünstige Szenen aus der japanischen und buddhistischen Sagenwelt in zweidimensionaler Form dargestellt sind. Die Wagen werden von innen beleuchtet und auch hin und wieder gedreht. Auf diesem Umzug hier werden die übergroßen Lampen mit Hilfe von eingebauten Motoren gedreht.
Es handelt sich nach meiner Zählung um 25 Wagen und ich bekomme gerade so das „Best Of“ auf meinen Kameraspeicher. Natürlich werden nicht alle Bilder was, weil Menschen und Wagen in Bewegung sind. Wenn ich die Geschwindigkeit der Objekte nicht im richtigen Winkel zur rechten Zeit mitmache, sorgt die unnötig lange Belichtungszeit meiner Kamera dafür, dass ich nur eine undeutliche Masse auf dem Bild habe. Aufnahmen im Dunkeln sind eh nicht so das Ding dieses Yakumo-Produkts… die Bilder werden grobkörnig, und wenn ich eine weiße Lichtquelle im Bild habe, schaltet sich die automatische Helligkeitsreduktion ein und die dunkleren Flächen werden annähernd schwarz. Oder die dunklen Flächen bleiben so, wie sie eben sind, und dafür verwandeln sich die hellen Flächen in eine undeutlich schimmernde Masse ohne Strukturen und Farbstufen. Aber es macht großen Spaß, den wild trommelnden, grölenden und pfeifenden Oberschülern zuzusehen. Man kann deutlich das Leben in dieser Darbietung spüren. Wenn Japaner doch immer so lebendig bei ihren Auftritten wären! Das hier wurde wohl nicht im Detail geübt, also dringt eine Spontaneität durch, die nicht durch ständiges Üben und Wiederholen abgewürgt wurde. Was will man auch groß üben? Die Wagen werden über die Hauptstraße gezogen, hin und wieder gedreht und die Jungs und Mädels rufen „Yaa Yadô!“. Dazu braucht man keine Übung, sondern ein lautes Organ. Wer so was nicht hat, spielt halt Flöte oder bedient die Trommel. Das Flötespielen sollte man üben, ja. Wenn man etwas Taktgefühl hat, hat man die Trommeln nach zwei Minuten im Griff.
Kazu scheint auch niemand Unbekanntes zu sein. Einige der SchülerInnen und LehrerInnen erkennen sie wieder, andere werden von ihr angesprochen und so weiter, obwohl sie bereits eine Weile weg von der Schule ist. Aber das sei nicht ungewöhnlich, sagt sie. Erstens halte sie oder man einen gewissen Kontakt mit seiner alten Schule (ich bin jetzt nicht sicher, ob sie von sich oder von der Allgemeinheit spricht) und zweitens wolle sie Lehrerin an dieser Schule werden, da sei es nicht schlecht, Fühlung mit dem potentiellen Arbeitgeber zu halten. Ich erinnere mich, dass ich im Frühjahr 1999 meine Schule besucht und auch meinen Englischlehrer Spang getroffen habe, der mir da schelmisch erklärte, dass er sich nach seinem Abitur dort erst mal 20 Jahre nicht habe sehen lassen.
Der Umzug dauert etwa eine halbe Stunde, dann überlegen wir uns, was wir weiter mit dem jungen Abend anfangen können. Irgendwoher kommt der Vorschlag, zu den Gasteltern von Chris zu gehen, die wegen des kommenden Neputa Festes heute wohl irgendeine offene Party am Start hat. Wir bewegen uns dann langsam in die entsprechende Richtung und es sickert ebenso langsam durch, dass vermutlich gar nicht genug Platz für uns alle sein wird – was aber nicht etwa den einen oder anderen zum Aufgeben bewegt, sondern gleich die ganze Gruppe als solche „vernichtet“. Die meisten gehen nach Hause, Chris geht zusammen mit seinem Besucher zur genannten Party, und Melanie und ich überlegen gemeinsam mit Kazu, wo wir was zu essen herbekommen könnten.
Da wir gerade in der Nähe sind, schlage ich vor, zum „Curry Maharadja“ zu gehen, aber es stellt sich heraus, dass der heute geschlossen hat. Kazu kennt auch kaum Restaurants in der Gegend, schlägt aber eines vor, dass sie von Erzählungen ihrer Mutter kennt. Es handelt sich, einfach ausgedrückt, um einen Yakiniku-Laden, aber das Innere verspricht gehobene Atmosphäre, ebenso wie uns die Speisekarte der überdurchschnittlichen (wenn auch noch nicht japanisch-teuren) Preise versichert.
Zunächst einmal befindet sich am Eingang ein großer Schuhschrank mit abschließbaren Fächern. Ich verzichte auf Latschen, weil sie eh zu klein sind. Das Innere des Restaurants ist gediegen und sauber, dunkel lackiertes Holz. Der Service ist erstklassig, das muss ich sagen, sogar für japanische Verhältnisse. Die Bedienung ist sehr freundlich, und ich ziehe das dem Prädikat „höflich“ grundsätzlich vor. Unterwürfigkeitsgesten von Seiten des Personals sind mir immer wieder unangenehm. Aber die hier machen ihre Sache gut, scheinen sehr sympathisch und reden vor allem ein verständliches Japanisch.
Wir essen gemeinsam, und Melanie geht schließlich zum Bus (ihr Fahrrad ist ja immer noch platt). Ich bleibe mit Kazu noch eine Weile. Sie erzählt, dass ihre Oberschule (also die, deren Umzug wir gerade gesehen haben) morgen eine Art Schulfest in der Bürgerhalle habe, inklusive einer Reihe von Bühnenshows. Tanzende Mädchen? Ha, das kann ich mir doch nicht entgehen lassen. Die Veranstaltung beginne irgendwann um die Mittagszeit und sie werde mir noch eine Nachricht schreiben, sobald sie die genaue Zeit wisse. Ich müsse nur morgen frühzeitig meine Post abrufen. Wir trennen uns an der ENEOS Tankstelle und fahren nach Hause.
[1] Treppenwitz für die Nachwelt: Nachdem ich eine Menge Geld dafür ausgab, spielte ich das Spiel nach meiner Heimkehr nur ein einziges Mal für ein paar Stunden. Seitdem liegt es in der Kiste mit Playstationzeug.
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