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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

19. Juli 2024

Montag, 19.07.2004 – Die letzten Fußgänger

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 7:00

Eigentlich wollte ich früh aufstehen, um ein bisschen wandern zu gehen, aber als ich um 05:30 aus dem Fenster schaue, sieht es da draußen eher nach Regen aus, also bleibe ich vorerst liegen. Um 09:00 ist das Wetter dann aber bedeutend besser, also beschließe ich, dennoch zu gehen. Überraschenderweise will Melanie mit – obwohl ihr klar sein sollte, dass Wandern mit mir kein Spaziergang ist und ich auch keine Scheu habe, irgendwohin zu gehen, von wo aus ich den Rückweg nicht im Einzelnen kenne. Aber sie will trotzdem mit. Na denn.

Wir fahren mit dem Fahrrad grob nach Südwesten, zwischen fünf und zehn Kilometer weit, und ich nehme einen auffälligen Hügel als Orientierungspunkt. In dem Ort Ishikawa biegen wir dann rechts von der Hauptstraße ab und passieren eine Baustelle. Der Posten winkt uns mit seiner Kelle durch, aber das scheint dem Baggerfahrer nicht ganz klar zu sein, weil plötzlich keine 50 cm über meinem Kopf eine Baggerschaufel vorbeirauscht, in die ich selbst hineingepasst hätte, auf halbem Weg vom Loch zur Lkw-Ladefläche. Aber knapp daneben ist schließlich auch vorbei, also warum sollte ich mich damit aufhalten.
Mein “Plan” ist es, die geschlossene Ortschaft zu verlassen und die Apfelplantagen hoch bis in die Hügel zu fahren, wo der Wald beginnt und dort die Fahrräder abzustellen. Dieser Zeitpunkt kommt allerdings ein paar Minuten früher als erhofft, weil bei Melanies Hinterreifen plötzlich die Materialermüdung zuschlägt und die Luft mit einem kurzen Zischen daraus entweicht. Ich stelle sie vor die Wahl, entweder sofort mein Fahrrad zu nehmen und nach Hause zu fahren oder aber mitzugehen und hinterher mit meinem Fahrrad zu fahren, da ich bestimmt noch mehr Kraft zum Gehen übrig haben werde als sie. Sie entscheidet sich für eine Fortsetzung der Tour. Na immerhin, gute Einstellung.
Wir folgen dem Waldweg, der nach ein paar Kilometern völlig von Pflanzen überwuchert ist – aber ich kann seiner Spur noch folgen und sehe daher gar nicht ein, meinen Ausflug wegen einer Ansammlung wilder Gräser zu beenden. Man könnte dem Weg auch mit einem Geländefahrzeug noch folgen. Zumindest eine Weile. Schließlich wird der Weg für jedes Fahrzeug zu schmal. Es wird immer abenteuerlicher.

Der “Pfad”

Nach einer wilden Geländetour durch die Vegetation erreichen wir eine Zeit später den Kamm des Hügels und treffen dort auf den offiziellen „Tôhoku Naturwanderpfad“. Wir könnten entweder den Hügel auf der anderen Seite südlich runtergehen, oder aber auf dem Kamm bleiben und weiter in Richtung Osten weitergehen. Ich entscheide mich für letzteres, da ich angesichts der fortschreitenden Zeit nicht einen ganzen Hügel zwischen mich und meinen Rückweg schieben will. Wir folgen also dem Naturwanderpfad grob in östlicher Richtung, der irgendwann nicht mehr befestigt ist. Man kann deutlich einen Trampelpfad erkennen, und der ist mit einem Seil versehen, an dem man sich festhalten kann, wenn man sich seines Tritts nicht sicher ist. Für sehr touristenfreundlich würde ich das allerdings nicht halten.

Wandern am Seil

Immerhin ist das mehr als unten am italienischen Monte Cassino, wo zwar ein geschichtsträchtiges Kloster (immerhin gegründet von Franz von Assisi höchstselbst) und ein bedeutendes Schlachtfeld mit Ehrenfriedhöfen zu finden sind, der besagte Berg touristisch aber in keiner Weise erschlossen ist. Da gab es nur Ziegen- und Rinderpfade für den Wanderausflug bei über 40 Grad Celsius im nicht vorhandenen Schatten.

Unser „angeleinter“ Pfad führt schon bald parallel zum Kamm bergab und wir erreichen einen Straßenendpunkt. Eine Betonstraße führt den Hügel hinunter und man findet ein Schild, auf dem vor Bären gewarnt wird.

Klingeling, hier komm ich…

An dem Schild ist eine Handglocke angebracht. Wenn man also von einem Bären verfolgt wird, soll man hier kurz anhalten und um sein Leben bimmeln.[1] Aber das schreckt mich wenig. Wir folgen einem weiteren Pfad, bergauf, zum Berg Obiraki, der nicht mehr als ein 500 m hoher Hügel ist. Der Wanderpfad endet groteskerweise auf seiner Spitze und wir müssen schließlich exakt denselben Weg zurückgehen, den wir gekommen sind. Dort oben befindet sich leider kein Schrein. Ich nehme an, dass der Hügel zu niedrig ist. Aber die Informationstafel in japanischer und englischer Sprache (immerhin ein Zugeständnis an den internationalen Tourismus) dort sagt, dass es einen gegeben habe, ohne Angabe des Zeitpunktes, zu dem er eventuell verschwunden ist. Außerdem soll das Umland ein Trainingsgebiet für Ninja gewesen sein. Mit schöner Aussicht ist von hier oben aus leider auch nichts, weil dieselbe völlig zugewachsen ist. Bäume und Sträucher. Man kann mit Mühe und Not etwas von der Ebene entdecken, die aber leider zusätzlich in einem undeutlichen Nebel verschwindet.

Die “Aussicht”

Die Luftfeuchtigkeit ist ziemlich hoch und die Sonne ist weitgehend verschwunden. Das heißt, sie brennt nicht heiß vom Himmel, womit uns immerhin das Heftigste erspart bleibt, aber der Schweiß fließt dennoch in Strömen. Ich bin dankbar für mein Schweißtuch aus Bundeswehr-Tagen (das eigentlich als Taschentuch für Nasenauswurf konzipiert ist).
Wir kehren zu dem Bärenschild zurück und ich möchte die Betonstraße hinuntergehen, weil es mir widerstrebt, den gleichen Weg noch einmal zu gehen, wenn auch in die entgegengesetzte Richtung. Da geht mir der Erlebnisspaß irgendwie verloren. Laut Wegweiser kommen wir in dieser Richtung an einen Ort, der „Ochanomizu“ heißt, also „Teewasser“, was mich doch sehr an den Bahnknotenpunkt in Tokyo erinnert. Aber schließlich haben wir auch „Shinagawa“ und „Ginza“ in Hirosaki.
Melanie hat eine Landkarte dabei und Ochanomizu ist nicht eingezeichnet, was mich doch etwas verwirrt. Als wir dann knapp eine halbe Stunde später ankommen, ist mir auch klar, warum das so ist: Es handelt sich nicht um ein Dorf oder einen Stadtteil, sondern lediglich um eine Wasserquelle, mit angefügter Regenschutzhütte. Daneben steht wieder ein Hinweisschild, ebenfalls in japanischer und englischer Sprache, auf dem etwa zu lesen ist: „Aus dem Wasser dieser Quelle wurde der Tee des Meiji Kaisers gemacht, als dieser im Jahre 1881 die Stadt Hirosaki besuchte.“ Ist das nicht toll? Wenn wir also schon kein Kaiserwetter haben, bekommen wir wenigstens Kaiserwasser. Es ist herrlich kühl und schmeckt auch gar nicht schlecht, aber dennoch ziehe ich es vor, größere Mengen lieber abgekocht zu genießen. Wir nehmen eine Flasche voll mit, um Reis damit zu kochen. Die Quelle scheint beliebt. Während wir weitergehen, kommen uns mehrere Autos entgegen, und jedes hat eine unglaubliche Menge 20-Liter Kanister im Kofferraum.
Eine weitere Beobachtung dieses Ausflugs ist die Menge an Müll, den man im Wald und am Wegrand findet. Wird das Volk von Japan hier und da nicht gerne als „naturverbunden“ propagiert? Mit Verlaub, das ist im wahrsten Sinne des Wortes eine schmutzige Lüge, die eher zur Selbstverherrlichung zu dienen scheint, oder eine von Ausländern geschaffene Legende, wobei jene Ausländer keine Ahnung haben, von was sie reden. Würde mich wundern, wenn ich mich darüber nicht bereits ausgelassen hätte…
Einige Zeit später verlassen wir den Wald wieder und bewegen uns zwischen Apfelplantagen, immer der Straße lang. Wegen eines Hinweisschildes weiß ich, dass wir uns in der Nähe von Ishikawa befinden (obwohl ich das, abgesehen von der genauen Kilometerangabe, auch selbst gewusst hätte), aber ich hätte gerne einen Orientierungspunkt. Theoretisch müssen wir im Halbkreis um den Hügel herumlaufen, um wieder zu unseren Fahrrädern zu gelangen.

Auf dem Weg kommen wir mit einer Großmutter ins Gespräch, die gerade ihr Gemüse, das sie am Wegrand zwischen die Apfelbäume gepflanzt hat, pflegt. Ich kann mich an die genauen Inhalte des wohl reichlich bedeutungslosen Gesprächs nicht erinnern, es ist nur beachtlich, dass die ältere Dame aus eigener Initiative kurzerhand zwei wildfremde Leute anspricht. Und es kommt noch besser. Sie erzählt eingangs was von Tomaten. Tomaten? Ich verstehe nicht genau, was sie meint und sage, dass ich hier noch keine Tomaten gesehen hätte. Daraufhin bittet sie uns, ihr zu folgen und bringt uns an ein weiteres Gemüsebeet, wo Tomatensträucher wachsen. Sie geht aufrechten Ganges zwischen den Bäumen hindurch (soweit man das bei ihrem altersgebeugten Rücken noch sagen kann), während ich beinahe auf den Knien rutschen muss. Hier und da existieren noch weitere Gemüsebeete… eine interessante Ausnutzung des vorhandenen Bodens. Da ist auch ein Tomatenbeet, mit beachtlich großen Früchten. Und dann schneidet sie die besten Tomaten vom Strauch ab und sagt, sie wolle sie uns schenken. Na ja, jetzt, wo sie schon abgeschnitten sind, kann man sie schlecht noch ablehnen. Ich habe eine Plastiktüte dabei, und die Tomaten werden hineingepackt. Es sind bestimmt zwei Kilo Tomaten, die wir jetzt mit nach Hause nehmen. Ich hätte sie mit der Tüte in meinen Rucksack getan, aber Melanie fürchtet, dass sie so zu sehr eingedrückt werden. Wir bedanken uns höflich und wortreich für das Gemüse, ein Erinnerungsfoto lehnt sie leider ab. Hat man das schon erlebt? Wir werden einen ganzen Topf voll Tomatensoße damit kochen können, und Tomaten sind hier nicht gerade billig.

Wir erreichen schließlich den Bahnhof von Ishikawa und schauen uns die Karte an, um herauszufinden, wie wir wieder zur Hauptstraße kommen, von der wir ja abgebogen sind. Da fallen die ersten Regentropfen. Es geht mir in erster Linie um die Frage, an welchem Bahnhof wir uns genau befinden, weil es nämlich zwei gibt – einen für die staatlichen „Japan Railways“ und ein weiterer für eine private Linie. Zwischendurch hält ein „JR“ Zug am Bahnsteig und beantwortet die Frage damit. Trotzdem komme ich mit der eingezeichneten Anordnung der Straßen nicht zurecht. Offenbar mangelt es mir mittlerweile an Übung im Kartenlesen.
Während Melanie die Toilette benutzt, latscht ein Japaner auf mich zu. Um die Dreißig, schlecht rasiert, im Trainingsanzug. Er sieht nicht gesund aus. Das, was bei normalen Leuten in den Augen weiß ist, ist bei ihm bräunlich-gelb. Aber gut, er kommt halt herüber und sagt „Hello!“ Das ist noch nichts Ungewöhnliches, also grüße ich zurück und „harre der Dinge, die da kommen“, bis er dann direkt vor mir stehen bleibt. Hätte mich auch gewundert. Wenn Japaner „Hello“ rufen, sind sie in der Regel kommunikationsbereit. Ob wir auf einen Zug warten, möchte er wissen. Nein, wir suchen die Hauptstraße zwischen Hirosaki und Kuroishi. Er zeigt daraufhin nach Nordosten und Nordwesten und sagt, die betreffenden Städte lägen in dieser Richtung. Ja, danke, das weiß ich auch selbst, aber das erzähle ich ihm jetzt nicht, schon gar nicht in dem Tonfall, in dem mir das jetzt gerade durch den Kopf geht. Im Laufe der folgenden zwei Minuten mache ich ihm dann Stück für Stück klar, dass wir den Platz suchen, wo wir unsere Fahrräder abgestellt haben, das sei irgendwo westlich von hier und wir suchten die Hauptstraße, weil wir die Baustelle finden möchten, an der wir abgebogen sind.
Währenddessen intensiviert sich der Regen und er bietet uns an, uns mit seinem Auto dorthin zu bringen. Wir nehmen an. Ich habe das dreimalige Ablehnen vor dem „Umkippen“ nicht so verinnerlicht, wie es vielleicht der japanischen Sitte entspricht. Während der Fahrt erzählt er, dass er Jieitai-Soldat sei und gerade von den Golan-Höhen zurückgekommen sei. Das muss er zweimal sagen, weil ich hinter „Goran“ zuerst ein japanisches Wort vermutet habe. Im zweiten Anlauf erwähnt er dann Israel und Syrien und der Fall wird mir klar. Ich wusste nicht, dass sich Japan an der UNO Mission im israelisch-syrischen Grenzgebiet beteiligt. Er mache gerade Urlaub, bevor sein nächster Auftrag beginne – Irak. Ich erzähle ihm auch, dass wir in den vergangenen vier Stunden den Hügel bis zum Obiraki-san hochgeklettert und über Ochanomizu wieder heruntergekommen seien, und er findet das so unglaublich, dass er laut lacht. Ob die Jieitai denn keine Märsche absolviere, will ich wissen. Aber er sagt nur: „Wir fahren am liebsten mit dem Auto.“ Ich kann jetzt nicht sagen, was das in Bezug auf meine Frage bedeutet. Für mich ist es völlig normal, dass man bei der Armee pro Jahr mehrere Märsche von dreißig Kilometern absolviert, zuzüglich einiger übungsbedingter Gefechtsmärsche. Wenn die Jieitai das nicht macht, fände ich das doch absonderlich.
Von seinem Haus aus, das direkt neben dem Bahnhof steht, bis zur Einfahrt der Baustelle sind es vielleicht drei Kilometer. Nicht weit, aber wir sparen dadurch Zeit ein, die wir im Regen hätten verbringen müssen. Wir finden unsere Räder noch am gleichen Platz vor und trennen uns von unserem Fahrer. Der Höflichkeit entsprechend lädt er uns ein, doch noch einmal vorbeizukommen, bevor er abreist, und wir bedanken uns fürs Mitnehmen.

Melanie fährt mit ihrem platten Hinterrad. Langsam, aber schneller als zu Fuß. Zurück in Nakano gehe ich noch etwas zu Essen besorgen, weil Melanie Bentô essen möchte – ein japanisches Lunchpaket, um es mal so zu vereinfachen. Im Normalfall befinden sich darin Reis und ein wenig eingelegtes Gemüse, der Rest ist weitgehend dem Angebot des Ladens und dem Kundenwunsch überlassen. An der entsprechenden Bude in Nishihiro bestelle ich ein Bentô mit frittiertem Vogel zum Reis für sie und suche noch eine Weile auf der Speisekarte herum, was ich selbst essen möchte. Ich bestelle „Menchi“ für mich, und wenn ich das richtig sehe, handelt es sich dabei um eine Art frittierten Hackfleischkloss. Aber leider interpretiert der schon beinahe ängstlich aussehende Koch meine Absicht falsch und meint offenbar, dass ich meine Bestellung habe ändern wollen. Meine Güte, warum macht der so ein Gesicht? Macht er sich solche Sorgen, den Ausländer nicht zu verstehen? Bei den Japanern, die hier bestellen, macht er ein wesentlich entspannteres Gesicht. Wie dem auch sei, als ich dann den Preis gesagt bekomme, habe ich nur ein Menchi Bentô vor mir stehen. Ich gebe mich verwirrt und bestelle noch ein „Bikkuri“ Bentô. Nach meinem Verständnis heißt das „Überraschung“. Entgegen dieser Bezeichnung steht auf der Speisekarte aber genau, was in dem Gericht drin ist, also verstehe ich den Witz daran nicht. Mir gefallen die Zutaten, also will ich es essen. Am Ende sind wir beide wieder pappsatt für nicht mehr als umgerechnet 10 E – ist das nicht toll?
Dieser Tag hat sich gelohnt. Ich würde solche Tage gerne wiederholen, aber ich fürchte, dass mir dafür die Zeit fehlen wird.


[1]   Korrektur: Wenn man die Glocke erreicht, soll man kurz laut bimmeln, weil Bären kontaktscheu sind und sich bei lauten Geräuschen tiefer in den Wald zurückziehen.

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