Freitag, 09.07.2004 – Tapetenkleister, Mahlzeit!
Zuerst muss ich mal wieder Vokabeln lernen und einen Text vorbereiten, der als Hausaufgabe präsentierbar ist. Auf dem Weg nach draußen treffe ich dann SangSu, der den Müllplan studiert und außerdem heute Geburtstag hat, aber um diese Zeit denke ich noch nicht daran.
Ogasawara-sensei lässt uns heute über die Vorteile von Groß- und Kleinfamilien und über „traditionelle“ Auszugstermine aus der elterlichen Wohnung diskutieren. Ich habe eine Koreanerin und einen Chinesen mit am Tisch sitzen, also ist mir von vorneherein klar, dass die meine „separatistischen Tendenzen“ nicht recht nachvollziehen können werden. MiSong, die Koreanerin, sagt, dass sie sich eine große Familie wünsche, weil sie ein Einzelkind sei und sich immer Geschwister gewünscht habe. Ich muss in Anbetracht meiner persönlichen Erfahrungen über das Argument ein wenig lächeln und lasse mir kurz durch den Kopf gehen, was der „armen“ MiSong da alles entgangen ist!
Dr. Chen „Dragon“, der Chinese, spricht sich natürlich für eine Großfamilie aus, weil das der Altersversorgung der Großeltern zuträglich sei. Das wundert mich dann doch aus zwei Gründen. Brüsten sich nicht gerade sozialistische Staaten (also z.B. die Volksrepublik China) mit ihren sozialen Errungenschaften? Ich gewinne den Eindruck, dass das Thema „Altersversorgung“ in China ein wenig altertümlich behandelt wird – dabei dachte ich bisher, in China sei die „Ein-Kind-Familie“ Gesetz. Chen sagt, man verliere lediglich finanzielle Vorteile, wenn man mehr als ein Kind zeuge, aber es werde nicht strafrechtlich verfolgt. Deshalb wachse die chinesische Bevölkerung trotz der jahrzehntelangen Politik der Geburtenkontrolle.
Kuramata-sensei geht mit uns in die Abteilung für Hauswirtschaftslehre (das kann man tatsächlich studieren), wo üblicherweise nach idealen Diäten, Ernährungsplänen, Kinder- und Seniorennahrung geforscht wird.
Am Eingang treffe ich schon auf die erste Schwierigkeit. Eigentlich zieht man aus hygienischen Gründen die Schuhe aus und Latschen an, und damit habe ich theoretisch kein Problem. Das praktische Problem allerdings sind die zur Verfügung stehenden Latschen, die sind mir nämlich ein paar Nummern zu klein. Ich erkläre, dass ich auch ohne alles klarkäme, aber man erklärt mir, dass in einer Küche gefährliche Dinge auf den Boden fallen (oder durch Aufprall auf den Boden entstehen) könnten, also dürfe ich meine Schuhe ruhig anbehalten.
Die Lehrerin (ihr Alter ist für mich nicht bestimmbar) und ihre drei Doktorandinnen haben also den ganzen Tag wenig anderes zu tun, als zu kochen (und zu essen). Trotz der dazu gehörenden Theorie der Ernährungswissenschaften möchte ich das ein interessantes Studium nennen. Heute gibt es aber ein ganz einfaches Programm für uns. Wir erleben eine Vorführung, wie heutzutage Mochi gemacht werden und was man dazu alles braucht.
Man braucht allerdings nicht wirklich viel. In erster Linie braucht man natürlich Reis, aber es handelt sich dabei nicht um den Reis, den man üblicherweise kocht und isst. Dieser Reis hier ist besonders klebrig, damit die Masse auch zusammenhält. Traditionell wird der Reis in einem Pott gestampft, indem man ihn mit einem großen Hammer aus Holz bearbeitet. Aber die Mochi-Köchin von heute wirft den Reis ganz einfach in eine Maschine, die Reiskocher und –stampfer in einem ist. Die Maschine hat in ihrem Inneren den Kochtopf, in den man, wie üblich, nur den Reis und Wasser tut, aber sobald der Reis gekocht ist, springt der Deckel auf und ein Metallrotor am Boden des Topfes setzt sich, ganz ähnlich einem Mixer, in Bewegung. Egal, wie oft man es bereits erlebt hat, man erschrickt, wenn der Deckel plötzlich aufspringt und das Gerät, wegen des Rotors, beginnt, seltsame Geräusche zu machen und auf der Ablage herumzuhüpfen.
Nach einigen Minuten sind die Reiskörner völlig in einer homogenen Masse aus mürbem Reis aufgegangen (mit der man wohl auch Tapeten an Wände kleben könnte) und werden auf ein mit Mehl bestäubtes Tablett geschüttet. Obwohl „schütten“ nicht das passende Wort ist, weil es sich um eine zähe Masse und nicht um etwas auch nur annähernd Flüssiges handelt.
Alles, was man dann noch zu tun hat, ist essen. Der Einfachheit halber formt man einen Ball aus einem Stück der Masse, feuchtet ihn an und wälzt ihn in süßem Sojabohnenmehl (grün) oder in einer Paste aus süßen Bohnen (dunkelbraun), die Melanie so verabscheut. Ich ziehe das süße Mehl aber ebenfalls vor. Wir versuchen uns auch daran, die Bohnenpaste in das Innere eines Reisballs zu bekommen, aber das Ergebnis ist dürftig. Natürlich ist es einfach, den Reis flach zu drücken, eine Mulde zu formen und dann die Paste hinein zu tun, aber das schwierige daran ist, einen glatten Ball daraus zu formen, dem man von außen nicht ansieht, dass etwas drin ist! Nach zwei Experimenten reicht mir das und ich gehe wieder zum einfachen Essen über.
Mochi-Reisteig sättigt überraschend schnell, müssen wir feststellen, und wir kriegen sogar noch einen zweiten Haufen angeboten. Irena „rettet“ uns da ein bisschen, weil sie noch eine Sprachprüfung hatte und verspätet zu uns kommt. Sie hat von dem ersten Reisteig noch nichts gegessen und noch mehr Platz für den Rest, als das bei uns anderen der Fall ist. Der zweite Teig ist allerdings lila. Und das ist Absicht. Es handelt sich um eine spezielle Reissorte, die eben lila ist und einen kräftigeren Geschmack besitzt, als der normale, weiße Reis. Und weil die hier anwesenden Damen die Füllfähigkeit ihrer Vorführung deutlich unterschätzt haben, bekommen wir auch noch einen Eintopf aus Kartoffeln, Fleisch und Gemüse präsentiert, dem ich geschmacklich anmerke, dass die vier Damen Übung im Zubereiten von Speisen haben. Wirklich hervorragend. Am Ende bin ich pappsatt und eigentlich müsste man mich aus dem Raum rausrollen.
Nach dieser Erfahrung verbringe ich meine Zeit reichlich untätig im Center, weil ich kaum Motivation verspüre, mich zu bewegen. Das Wetter ist so richtig schwül-warm und man fühlt sich von der Luft beinahe erdrückt, ganz zu schweigen von dem Sättigungsgefühl, das in mir wohnt. SongMin macht zu dieser Zeit die Runde und informiert die üblichen Leute, dass bei SangSu heute Abend eine Geburtstagsparty steigen werde, und zwar ab Neun. Dass es eine Überraschung für ihn werden soll, erfahre ich erst später.
Kurz danach gehe ich in die Bibliothek und schaue mir den „Candy Candy“ Film an. Technisch betrachtet ist deutlich zu erkennen, dass es sich dabei um einen Zusammenschnitt aus Schlüsselepisoden handelt, da die Handlung viel zu schnell vor sich geht und auffällig Details fehlen. Völlig hirnrissig erscheint es da, diese Serie, die immerhin 115 Episoden hat, in gerade mal 25 Minuten (!) zu quetschen (also auf die Länge einer Episode)! Wer hat sich das ausgedacht? Man braucht allerdings schon ein dickes Fell, um diese gerade mal 25 Minuten zu überleben. Ich habe schon lange nichts mehr gesehen, was so schmalzig war! Da wird mit so richtig klassischen, althergebrachten Schablonen gearbeitet:
Candy ist ein Waisenkind und kommt schließlich im Alter von 12 Jahren zu einer reichen Witwe (?). Allerdings nicht als Tochter, sondern als Hausangestellte! Die Dame des Hauses hat bereits zwei Kinder in Candys Alter, einen Sohn und eine Tochter, der Candy als persönliches Zimmermädchen dienen soll. Natürlich sind die beiden die widerlichsten, hochnäsigsten, verzogensten und unausstehlichsten Gören (mit überdies sadistischen Tendenzen), die man sich vorstellen kann. Sie tragen ein besonders starkes Klassenbewusstsein zur Schau. Man muss sie einfach hassen. Candy vergießt also viele Krokodilstränen, bis sie schließlich die „Nachbarn“ kennen lernt – drei Jungs, die mit ihrer Großmutter auf dem nächsten Landhaus leben. Die drei sind das exakte Gegenteil von Candys Arbeitgebern und natürlich betritt hier der romantische Aspekt die Bühne, und der ausgewählte Junge sieht nicht weniger wie ein „Vorzeige-Arier“ aus als Candy selbst. Ja, und nachdem Candy also 15 Minuten lang unter ihrer „Familie“ gelitten hat, lernt sie auf einer abendlichen Gesellschaft ihren Schwarm kennen und der Film ist vorbei.
Das Werk ist durch die Kompression so abgedreht, dass ich die Datei wohl behalten werde. Man kann es allerdings keinem zeigen, ohne unweigerlich in Folge starker Hirnblutungen des Zuschauers wegen fahrlässiger Tötung im Gefängnis zu landen. Auf die Serie kann ich gut verzichten… der Schnelldurchlauf hier reicht völlig aus.
Um 20:30 bin ich dann zuhause und mache mich fertig, um runter zu SangSu zu gehen. Beim zweiten Nachdenken kommt mir der Gedanke, dass es vielleicht keine gute Idee ist, SangSu mit einem Besuch zu überraschen… man bedenke die Unordnung, der normalerweise in seinem Zimmer herrscht.
Als erstes treffen zwei Koreanerinnen ein, SûJin und KiJong, die wir vom Balkon aus ankommen sehen, worauf es zwei Stockwerke unter uns deutlich lauter wird. Melanies Interpretation: „Die haben ihn in seinem Saustall überrascht und jetzt ist er sauer!“ Ich teile diese Meinung nicht, obwohl ich (wie sie) kein Koreanisch verstehe und nur den Tonfall interpretieren kann. Dennoch zieht Melanie es vor, auf die Straße zu gehen und einen Augenblick lang an seinem Fenster zu lauschen (wie komm ich mir denn da vor???), um die Lage zu peilen, bevor wir endgültig reingehen. Wie ich mir dachte, ist die Situation da drinnen nicht gespannt, also gehen wir hinein.
Nachdem etwa die Hälfte der erwarteten Leute angekommen ist, wird sein Zimmer bereits recht eng, also bieten wir an, die Party in unser Apartment zu verlegen. Wir machen allerdings vorher selbst noch ein wenig sauber, um dem Ganzen das Prädikat „grob gereinigt“ geben zu können, und legen den Teppich in das Tatami-Zimmer, damit die Reismatten nicht mit irgendwas getränkt werden, was ich Abends nicht in der Nase haben möchte, wenn ich mich hinlege.
Es werden einige Leute, wie sich bald herausstellt. Ii, Wiirit, Nan, SongMin, SûJin, KiJong, noch zwei Koreanerinnen, deren Namen ich nicht kenne, Valérie, Chris, Misi, Eve, Irena, Melanie und ich. Alex, MinJi, Jû, Izham und Baqr (der allerdings öfters „Abu“ gerufen wird), sowie Mélanie sind nicht da. Ich nehme an, dass sie nicht zur rechten Zeit im Center waren. BiRei aber war da und ist trotzdem nicht gekommen. Sehr schade eigentlich.
Unsere Nachbarn werden den Abend wohl so schnell nicht vergessen. Ich bin der Meinung, dass wir nicht außergewöhnlich laut waren, aber wir waren auch nicht leise. Und ausgerechnet der Trottel von gegenüber ruft seinen Unmut zu unserem Balkon herüber! Dabei muss gerade der die Klappe halten – er, der mitten in der Nacht mit laufendem Motor (seines Geländewagens) mit seinem Kumpel (der in seinem eigenen laufenden Wagen sitzt) tratschen muss; er, mit seinem zu Sonnenaufgang kläffenden Hund (der selbst natürlich nichts dafür kann, also verzeihe ich dem Hund); er, der auch schon mal morgens um fünf Uhr laut plätschernd sein Auto waschen muss und dabi auch vor dem röhrenden Staubsauger für den Dreck im Fußraum nicht zurückschreckt; er, aus dessen Haus zu den ungewöhnlichsten Zeiten der Klang von Klavierübungen erschallt; er, der zu jeder Tages- und Nachtzeit ungeniert seinen Schleim aus seinem Raucherhals würgt und hustet und laut auf die Straße ausspuckt! Nein, der hat bei mir kein Beschwerderecht, und bei allem Respekt: Er kann mich mal kreuzweise.
SangSu ist am Ende wieder leicht angetrunken und man macht sich über sein rotes Gesicht und seine roten Ohren lustig. Aber Wiirit scheint ziemlich hin zu sein, er erinnert vom Gesichtsausdruck her ein bisschen an einen abgehobenen Guru im Rausch der Sinne oder so. Ich habe ein Foto davon gemacht. Er hat sogar Probleme, gerade zu sitzen.
Um 00:45 verlagert sich die Party (für etwa eine Stunde) wieder nach unten in SangSus Apartment, nachdem ein Teil der Leute wohl gegangen ist. Einige gehen langsam und reden laut auf der Straße. Vor allem der lachende Misi ist bestimmt kilometerweit zu hören. Ich ziehe es allerdings vor, schlafen zu gehen, während Melanie den Rest des Festes ebenfalls noch erleben will.
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